LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3346 21.06.2013 Datum des Originals: 21.06.2013/Ausgegeben: 26.06.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1267 vom 25. April 2013 des Abgeordneten Dietmar Schulz PIRATEN Drucksache 16/3026 Einsatz von Rechtsreferendaren in Strafverfahren im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11 Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 1267 mit Schrieben vom 21. Juni 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In der Praxis werden seit Jahren überwiegend Rechtsreferendare als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eingesetzt. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) räumt die Möglichkeit ein, Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren die Vertretung der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung bei den Amtsgerichten zu übertragen. Gemäß § 142 Absatz 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes kann ihnen die Wahrnehmung der Aufgaben einer Amtsanwältin bzw. eines Amtsanwaltes übertragen werden. Mit den Aufgaben, die eine Rechtsreferendarin bzw. ein Rechtsreferendar eigenständig – nach vorangegangenen Besprechungen und Instruktionen durch die ausbildende Staatsanwältin bzw. den ausbildenden Staatsanwalt, aber ohne deren bzw. dessen Aufsicht – ausführen darf, sind die unter § 142 Absatz 1 Nummer 3, Absatz 2 GVG genannten Funktionen gemeint, die Amtsanwältinnen bzw. Amtsanwälten übertragen werden können. Zu der Sitzungsvertretung in allgemeinen Strafverfahren , werden Rechtsreferendare darüber hinaus auch in Jugendstrafsachen eingeteilt, obwohl hier oftmals die erzieherische Befähigung und Erfahrung der Jugenderziehung nach § 37 JGG fehlt. Die Leitende Oberstaatsanwältin in Düsseldorf teilte folgendes mit: "Die Einteilung von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren in Sitzungen einer Jugendrichterin oder eines Jugendrichters erfolgt im Wesentlichen aus Gründen einer umfassenden Ausbildung.“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3346 2 Im gerichtlichen Alltag stellt sich die Sitzungsvertretung durch Rechtsreferendare in Jugendstrafverfahren häufig folgendermaßen dar: Der Referendar darf weisungsgemäß Einstellungen in der Hauptverhandlung nicht zustimmen und auf Rechtsmittel nicht verzichten, wenn er nicht das Einverständnis eines Staatsanwaltes hat. Seinen Ausbilder erreicht er telefonisch während der Hauptverhandlung zumeist nicht. Dann wird der Eildienst der Staatsanwaltschaft kontaktiert, der ebenso wie der Ausbilder mangels Kenntnis vom „Inbegriff der konkreten Hauptverhandlung“ (persönlicher Eindruck von Prozessbeteiligten, Inhalt von Urkunden, Inaugenscheinnahme von Fotografien etc.) keine sachgerechte Entscheidung treffen kann, gleichwohl aber eine Anweisung erteilt. Außerdem herrscht ersichtlich keine Waffengleichheit: Hier der Angeklagte mit beruflich versiertem Verteidiger, dort der Auszubildende, oft unsicher und zaghaft agierende Referendar. Die vorstehend beschriebene Problematik ist der Leitenden Oberstaatsanwältin der Staatsanwaltschaft Düsseldorf wiederholt auf verschiedenen Wegen vorgetragen worden; bislang jedoch leider ohne Ergebnis. Im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19.03.2013 zu den Aktenzeichen 2 BvR 2628/10; 2 BvR 2883/10; 2 BvR 2155/11 wurde deutlich, dass Strafgerichte , Strafverteidiger und Staatsanwälte seit der Einführung des Verständigungsgesetzes 2009 keine Änderung bei Absprachen im Strafverfahren erkannt werden konnte. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts machen deutlich, dass der Staatsanwaltschaft die Aufgabe zu Teil wird, strengstens die strafprozessualen Regelungen des § 257c StPO einzuhalten und auch auf die Protokollierungspflichten des § 243 Abs. 4 StPO zu achten. Im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen von Strafverteidigern und Strafrichtern in den letzten Wochen nach Bekanntgabe der Verfassungsentscheidungen stellte sich heraus, dass sogar Vorsitzende Richter am Landgericht, Richter/innen an Strafkammern mit geringer Berufserfahrung und Richter auf Probe darauf hingewiesen haben, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schwerlich in der Praxis umzusetzen sei, da es hier notwendig wäre zunächst Schulungen speziell zum Verständigungsgesetz und der Strafprozessordnung durchzuführen. Von Seiten der Strafverteidiger, die oftmals Fachanwälte für Strafrecht sind, wurden ebenfalls Bedenken dazu geäußert, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine erhebliche Erschwerung des Strafverfahrens darstellen. Bei Verfahrensabsprachen ohne Protokollierung würde der/die Vorsitzende Richter/in mit einem Bein im eigenen Strafverfahren wegen Falschbeurkundung im Amt stehen und der Strafverteidiger in Mittäterschaft gleich mit. Wenn bereits Strafrichter an Amts- und Landgerichten sowie Fachanwälte für Strafrecht aufgrund der neuen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an Fortbildungsveranstaltungen teilnehmen müssten bzw. diese fordern, kann die Prozessvertretung von Rechtsreferendaren /innen nicht geeignet sein den Erfordernissen des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen. Rechtsreferendare in Nordrhein-Westfalen werden nach dem Ausbildungsplan des Justizministeriums bereits im 6. Ausbildungsmonat Staatsanwälten zur Ausbildung zugeteilt, vgl. § 35 Abs. 2 Nr. 2 JAG NRW, und übernehmen demnach bereits 24 Wochen nach Aufnahme des Referendardienstes Prozessvertretungen. Sollten Rechtsreferendare aufgrund der mangelnden Rechtskenntnisse im Laufe eines Strafverfahrens der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Aufsichtspflicht nicht nachkommen und es zu Verstößen gegen die Regelungen der §§ 243 Abs. 4, 257 c StPO kommen, würden alle solche Strafverfahren im Wege der Rechtsmittel von Berufung und Revision an- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3346 3 gefochten. Eine Häufung von Strafverfahren in den Rechtsmittelinstanzen und ein Anstieg der Verfahrenskosten wäre die Folge. Vorbemerkung der Landesregierung Der Einsatz von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren auch in Jugendstrafverfahren ist mit geltendem Recht zu vereinbaren und ist bislang in geeigneten Fällen erfolgt. In Zukunft werden Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare voraussichtlich nicht mehr zur selbständigen Sitzungsvertretung in Jugendstrafverfahren eingesetzt werden. Mit dem am 14. März 2013 durch den Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) wird § 36 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) auch um eine Regelung ergänzt, dass Referendarinnen und Referendare die Sitzungsvertretung in Verfahren vor den Jugendgerichten nur noch unter Aufsicht und im Beisein eines Jugendstaatsanwalts wahrnehmen dürfen (§ 36 Absatz 2 Satz 3 JGG - neu -). Diese Regelung wird am ersten Tag des siebten auf die Verkündung folgenden Kalendermonats in Kraft treten (Artikel 8 Absatz 2 StORMG). Der Bundesrat hat am 3. Mai 2013 beschlossen , zu dem Gesetz einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen. 1. Inwieweit sieht die Landesregierung Handlungsbedarf hinsichtlich der Fortbil- dung bzw. vertieften Fortbildung von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren im Bereich Strafprozessrecht im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu § 257 c StPO? Gesonderte Fortbildungen von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu § 257c StPO sind nicht erforderlich . Der Einsatz von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erfordert ausreichende Kenntnisse des materiellen und prozessualen Rechts. Dazu gehören in den entsprechenden Fallkonstellationen auch, aber nicht nur, die Vorschriften über eine Verständigung im Strafverfahren. Im Rahmen der Stationsausbildung, der Arbeitsgemeinschaften und im begleitenden Selbststudium wiederholen, vertiefen und erweitern die Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare ihre im rechtswissenschaftlichen Studium erworbenen und durch die erfolgreich bestandene erste Prüfung bestätigten Kenntnisse. Nach §§ 52 Abs. 1 Nr. 1, 3, 11 Abs. 2 Nr. 8 Juristenausbildungsgesetz NRW (JAG NRW) gehört das gesamte Strafverfahrensrecht zu den Prüfungsgegenständen der zweiten juristischen Staatsprüfung, auf die das Rechtsreferendariat vorbereitet. Den Referendarinnen und Referendaren werden bei der Staatsanwaltschaft fachlich und persönlich geeignete Ausbilder zur Seite gestellt, die Gewähr für eine gründliche Ausbildung in der Praxis bieten (§ 41 Abs. 2 S. 1 JAG NRW). Eine ordnungsgemäße Vertretung der Anklage in der Hauptverhandlung ist sichergestellt, da gemäß § 40 Abs. 2 JAG NRW Referendarinnen oder Referendare erst mit dieser Aufgabe betraut werden, sobald es der Ausbildungsstand und ihre Befähigung erlauben. Dies schließt bei Verfahren, bei denen aus Sicht der Staatsanwaltschaft eine Verständigung in Frage kommt, auch die notwendigen Kenntnisse über die entsprechenden prozessualen Vorgaben mit ein. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3346 4 2. Wie kann ohne gezielte Fortbildung von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren zum Verständigungsgesetz und zur Strafprozessordnung derzeit die Einhaltung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Anwendung gesetzlicher Vorschriften gewährleistet werden? Wie in der Antwort zu Frage 1) dargelegt, findet eine gezielte Ausbildung von Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendaren zur Strafprozessordnung statt. Dies schließt die Vorschriften über eine Verständigung im Strafverfahren ein. 3. Gibt es derzeit Planungen, bis zur ausreichenden Schulung von Rechtsreferen- darinnen und Rechtsreferendaren diesen postulationsfähige Ausbilder (Vertreter der Staatsanwaltschaften) in den Verhandlungen zur Seite zu stellen bzw. diese kurzfristig bis zur Absolvierung solcher Schulungen ganz aus den Sitzungsvertretungen abzuziehen? Wie in der Antwort zu Frage 1) dargelegt, ist bereits jetzt gem. § 40 Abs. 2 JAG NRW sichergestellt , dass Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare eine Sitzungsvertretung – selbständig oder unter Anleitung – nur übernehmen, soweit es ihr Kenntnisstand erlaubt. Dies schließt in den entsprechenden Fallkonstellationen Kenntnisse über die Vorschriften über eine Verständigung im Strafverfahren ein. 4. Inwieweit gibt es im Justizministerium NRW Planungen, gezielt Richter und Rich- terinnen am Strafgericht sowie Staatsanwälte und Staatsanwältinnen Fortbildungen zu der Problematik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Absprache im Strafverfahren anzubieten? Für Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Landes NordrheinWestfalen gibt es ein umfangreiches Fortbildungsangebot im Bereich des Strafprozessrechtes . Im Rahmen dieser Schulungen wird auch die aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung in den Blick genommen. So bietet beispielsweise die Justizakademie des Landes NordrheinWestfalen einwöchige Fortbildungstagungen wie "Die Hauptverhandlung in Strafsachen" an, bei denen die Vorgaben für eine Verständigung in Strafverfahren behandelt werden. Daneben bietet die Deutsche Richterakademie unter anderem ein viertägiges Seminar zum Thema "Umgang mit strafprozessualen Konfliktlagen - Konfliktsachleitung vs Konfliktverteidigung oder Verständigung?" an, das auch für nordrhein-westfälischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer geöffnet ist. 5. Wie handelt die Landesregierung in den Haushaltsplanungen (Rückstellungen, Verpflichtungsermächtigungen), um den zu erwartenden Anstieg der Verfahrenskosten in den Rechtsmittelinstanzen aufzufangen? Nach § 11 Abs. 2 der Landeshaushaltsordnung Nordrhein-Westfalen (LHO) und den hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften sind in den Haushaltsplan nur die Ausgaben einzustellen , die im Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werden. Die Veranschlagung von Rückstellungen ist nicht vorgesehen. Aus fachlicher Sicht ist darüber hinaus nicht mit einem Anstieg der Rechtsmittel zu rechnen, so dass insoweit keine Mehrausgaben zu erwarten sind. Folglich ist die Veranschlagung zusätzlicher Mittel für Verfahrenskosten nicht erforderlich . Die Veranschlagung von Verpflichtungsermächtigungen wäre nach § 38 Abs. 4 LHO in Verbindung mit Nr. 5 der Verwaltungsvorschriften zu § 38 LHO bei den Auslagen in Rechtssachen ohnehin entbehrlich.