LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3724 05.08.2013 Datum des Originals: 02.08.2013/Ausgegeben: 08.08.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1407 vom 5. Juli 2013 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/3494 Will die Schulministerin Grundschulkinder durch Belohnungen dazu erziehen, dass sie „Fehlverhalten“ ihrer eigenen Eltern in Schulen denunzieren? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 1407 mit Schreiben vom 2. August 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 30. April war in unterschiedlichen Zeitungen zu lesen, dass die Landesregierung das Projekt „Verkehrszähmer“ startet. In Köln soll demnach nun ein Projekt beginnen, dass laut Verkehrsminister Groschek die „Autofixierung“ der Eltern auflösen solle. Kinder sollten wieder vermehrt zu Fuß zur Schule gehen. Damit sollen „Drive-in-Schulen“ verhindert werden, in denen Eltern laut Minister Groschek „aus übertriebener Vorsicht und Bequemlichkeit“ ihre Kinder „bis direkt ans Schultor fahren“. Kinder werden in dem Projekt demnach dafür belohnt , wenn sie zu Fuß zur Schule gehen. So werden laut Presse von Minister Groschek und Ministerin Löhrmann „Zaubersterne“ als Belohnung verteilt. Die sogenannten Zaubersterne können die Kinder demnach z.B. gegen eine verlängerte Pause oder eine „Spielstunde“ eintauschen . Begleitet wird das Programm darüber hinaus u.a. durch Unterrichtseinheiten zum Thema Verkehrssicherheit in Zusammenarbeit mit der Polizei. Zweifellos stellt die eigenständige Bewältigung des Schulwegs einen wichtigen Bestandteil des Heranwachsens dar und leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Andererseits ergibt sich jedoch die Frage, ob mögliche Ängste von Eltern schlicht pauschal auf „übertriebene Vorsicht und Bequemlichkeit“ zurückgeführt werden können. Es bestehen Elternrechte , die auch von der Politik zu achten sind. Dass Eltern bisweilen um ihre Kinder Angst haben, darf nicht pauschal abqualifiziert werden. Ebenfalls verwundert die offensichtliche Verteufelung der Mobilität von Familien. Auf die Idee, dass „Nicht-Drachenzähmer- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3724 2 Eltern“ teilweise aus Fragen der Zeitökonomie im Interesse der eigenen Kinder, also z.B. wenn diese im Anschluss außerschulische Aktivitäten wahrnehmen wollen, ein Auto nutzen, scheint den Ministern völlig unnachvollziehbar. Dass laut Presse offenbar insbesondere die Schulministerin auf die Eltern und weniger auf die positive Entwicklung der Kinder abzielt, verdeutlicht ihre Aussage, wonach es sich um einen wirkungsvollen und pädagogischen Ansatz handele, demnach, so Löhrmann, „Auch für Eltern“. Weit problematischer als diese pauschalisierende politische Abwertung von Elternentscheidungen scheint jedoch die pädagogische Ausgestaltung des „Verkehrszähmer-Leitfadens“ des „Netzwerks Verkehrssichere Städte und Gemeinden im Rheinland“, der ausweislich auch von Seiten der Landesregierung unterstützt wird. Zwar sollen alle Kinder einer Klasse an den Belohnungen teilhaben, allerdings soll, pädagogisch fragwürdig und letztlich wenig subtil, auf Grundschulkinder Druck ausgeübt werden. So heißt es in einer der beschriebenen Unterrichtsreihen: „Es werden täglich drei Fragen gestellt und die entsprechenden Zaubersterne gezählt. ❶ Wer ist gestern mit Sicherheitskragen/- weste zu Fuß nach Hause gegangen und heute Morgen mit Sicherheitskragen/-weste zur Schule gegangen? Die Schüler, die den Rückweg am Vortag und den Hinweg an diesem Tag zu Fuß gegangen sind, stellen sich an ihrem Platz hin. Dabei halten sie ihre Kragen/ Westen hoch und lassen sie zählen (= 2 Zaubersterne pro Kind). Am 1. Tag kann natürlich nur der Hinweg gezählt werden. ❷ Wer ist gestern oder heute mit Sicherheitskragen/-weste eine Strecke gegangen? Die Kinder, die nur einen Weg gegangen sind, stellen sich vor die Tafel. Sie halten ihre Kragen/Westen hoch und lassen sie zählen (= 1 Zauberstern pro Kind).❸ Wie viele Erwachsene (Mütter/Väter/Großeltern) haben euch zu Fuß begleitet? Die Kinder, die von einem Erwachsenen begleitet wurden, zeigen auf (= 1 Zauberstern). Die Fahrkinder bleiben sitzen (= 0 Zaubersterne pro Kind).“ Mit solchen Methoden wird – gerade auf sehr junge Schülerinnen und Schüler – Druck ausgeübt. Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die – aufgrund von Elternentscheidungen – zur Schule gefahren wurden, müssen sitzenbleiben und können keinen Beitrag für Belohnungen leisten. Pädagogisch scheint dieses Vorgehen, das auch noch von einer Schulministerin angepriesen wird, höchst fragwürdig . Letztlich beinhaltet ein solches Vorgehen zumindest immer auch eine indirekte „Denunziation “ des „Fehlverhaltens“ der eigenen Eltern durch kleine Kinder. An einer weiteren Stelle sollen die Schulen offensichtlich in die Diskussionskultur der Familien eingreifen, da die Kinder für Diskussionen mit ihren eigenen Eltern „gebrieft“ werden. So heißt es im Rahmen der Unterrichtsreihen: „Die Hälfte Ihrer Schüler sammelt Argumente, die aus Elternsicht gegen den Schulweg zu Fuß stehen. Bitten Sie sie, die Sätze in der Du-Form aufzuschreiben. Die zweite Hälfte sammelt Gegenargumente, die für den Schulweg zu Fuß sprechen. Diese Argumente werden in der Ich-/Wir-Form notiert.“ Bei möglichen ContraArgumenten , offensichtlich der Eltern, werden aufgezählt: „Contra: ˃ Du bist zu klein. ˃ Du passt nicht auf. ˃ Du rennst einfach über die Straße. ˃ Du machst bestimmt Blödsinn. ˃ Du bummelst und kommst zu spät. ˃ Das ist zu gefährlich. ˃ Rund um die Schule ist so viel Verkehr . ˃ Der Weg ist viel zu lang. ˃ Es ist zu kalt/zu warm/es regnet. ˃ Ich fahr sowieso an der Schule vorbei. ˃ Es gibt böse Menschen.“ Entsprechende Pro-Argumente werden selbstverständlich mitgeliefert. Dass es sich gegebenenfalls vielleicht um berechtigte Ängste von El- tern handeln könnte, scheint unerheblich. Um sicherzugehen, heißt es in Phase ❹ „Verteilen Sie die Rollen für ein Rollenspiel: Häusliche Szene, in der Mutter, Vater, Kind, Geschwister diskutieren, ob Kinder zu Fuß zur Schule gehen können oder nicht.“ Zweifelllos stellt die Entwicklung einer Diskussionskultur und das Argumentieren einen wichtigen Schritt zum Erwachsenwerden dar; hierzu sollen auch die Schulen einen Beitrag leisten. Man kann aber große Zweifel haben, ob es – auch staatlich gefördert – die Aufgabe von Schulen ist, Kindern durch Rollenspiele beizubringen, wie sie mögliche Entscheidungen oder Ängste der Eltern LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3724 3 „ausmanövrieren“ und die Kinder eigene, innerfamiliäre Diskussionen vorab geradezu simulieren sollen. Auch die vorgeschlagenen Briefe an die Eltern sind mehr als fragwürdig. So wird den Schulen empfohlen zu schreiben: „Ihr Elterntaxi löst aber kein Problem. Ihr Elterntaxi ist Teil des Problems.“ Zweifellos ist es ein berechtigtes Anliegen, dass Eltern nicht falsch parken, sich an die Verkehrsregeln halten etc. Eltern aber pauschal und undifferenziert zu unterstellen, dass ihre Elternentscheidungen falsch und ein Problem seien, scheint ein schwer zumutbarer Eingriff in elterliche Rechte. Unbestritten ist es wichtig, dass Kinder eigenverantwortliches Handeln erlernen, hierzu zählt auch die eigenständige Bewältigung des Schulwegs. Auch muss Verkehrssicherheit – gerade auch an Schulen und für Schülerinnen und Schüler – eine zentrale Rolle spielen. Dennoch scheint dieses von Seiten der rot-grünen Landesregierung unterstützte Konzept ausgesprochen fragwürdig, da es sowohl denunziatorische als auch manipulative Elemente enthält sowie zu pädagogisch fragwürdigem Druck auf Grundschulkinder führt. Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung begrüßt die in der Kleinen Anfrage vertretene Auffassung der Abgeordneten Yvonne Gebauer, dass die eigenständige Bewältigung des Schulweges zweifellos einen wichtigen Bestandteil des Heranwachsens darstellt und gleichzeitig einen Beitrag zur Verkehrssicherheit leistet. Denn genau darauf ist das Programm „Verkehrszähmer“ ausgerichtet . Außerdem stellt das Programm „Verkehrszähmer“ eine Weiterentwicklung des Programms „Walking Bus“ dar, das darauf abzielt, dass Schulkinder den Schulweg nach Möglichkeit zu Fuß zurücklegen. Der „Walking Bus“ wurde von der damaligen Landesregierung offensiv beworben. Im Jahr 2006 heißt es dazu in einer Schulmail u.a. „Die positiven Effekte des ‚Zu Fuß zur Schule Gehens‘ stehen dabei im Vordergrund. Dies sind nicht nur die Sicherheit auf dem Schulweg, sondern auch gesundheitliche Aspekte und die Reduzierung des Verkehrsaufkommens . […] Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen unterstützt die Aktion ‚Walking Bus‘. Frau Ministerin Barbara Sommer und Herr Minister Oliver Wittke haben eine Handreichung für Schulen und Eltern erarbeiten lassen.“ Die Landesregierung unterstützt diese Zielsetzung weiterhin. 1. Da die Ministerin für Schule und Weiterbildung mit dem Programm offenkundig Eltern erziehen will: Wo besteht aus Sicht der Schulministerin die Grenze, die der Staat bei einem Eingriff in die Elternrechte nicht überschreiten sollte? Die Landesregierung hat nicht die Absicht, Eltern zu erziehen. Im Übrigen nimmt das Programm „Verkehrszähmer“ keine Eingriffe in Elternrechte vor, da die Entscheidung über die Art und Weise, wie ihre Kinder den Schulweg zurücklegen, nach wie vor bei den Eltern liegt. 2. Aufgrund welcher pädagogischen Überlegungen erachtet es die Ministerin für Schule und Weiterbildung für pädagogisch angemessen, Grundschulkinder letztlich ein „Fehlverhalten“ der Eltern in der Schule „denunzieren“ zu lassen, um Belohnungen zu erhalten? Die Landesregierung sieht im Programm „Verkehrszähmer“ keine Aufforderung zur Denunziation von Eltern. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3724 4 3. Aus welchem Grund findet es die Ministerin für Schule und Weiterbildung für Kinder in einer Klasse pädagogisch empfehlenswert, dass Schülerinnen und Schüler, deren Eltern die Entscheidung getroffen haben, ihr Kind zur Schule zu fahren, sitzenbleiben müssen, während die anderen Kinder, die Belohnungen „erarbeitet“ haben, aufstehen? 4. Wie bewertet die Ministerin für Schule und Weiterbildung möglichen Druck auf Kinder innerhalb einer Klassengemeinschaft, die – weil ihre Eltern eine andere Entscheidung getroffen haben – keine Belohnungen „beitragen“ können? Die Fragen 3 und 4 werden im Zusammenhang gemeinsam beantwortet. Die Landesregierung unterstützt die Zielsetzung des Programms „Verkehrszähmer“. Das Programm verfolgt in einem ganzheitlichen Ansatz die Entwicklung von Gesundheit, Sicherheit, individueller Mobilität, Eigeninitiative und Selbstständigkeit von Grundschulkindern mit dem Ziel der Entwicklung von Sozialkompetenz. Bei den begleitenden Materialien handelt es sich im Übrigen um ein optionales Angebot für Grundschulen. Die Entscheidung über die Aufnahme des Programms in das Schulprofil sowie über die Umsetzung im Unterricht einschließlich aller didaktischen Detailentscheidungen liegt in der Verantwortung der einzelnen Schule. Dies gilt insbesondere für den Einsatz von „Belohnungen“ als aufmunterndes Feedback und zur Stärkung des weiteren Lernprozesses. Die Landesregierung hegt dabei volles Vertrauen in die Lehrkräfte, dass sie hier pädagogisches Fingerspitzengefühl besitzen, wie es auch in anderen schulischen Situationen notwendig ist, wenn gute Leistungen oder Ansätze als vorbildlich dargestellt werden. 5. Warum erachtet es die Ministerin für pädagogisch angemessen, dass in staatli- chen Institutionen Grundschulkinder mithilfe gezielter Argumentation gegen die eigenen Eltern innerfamiliäre Diskussionen vorab simulieren sollen? Im Programm „Verkehrszähmer“ lernen Kinder nicht, gegen die eigenen Eltern zu argumentieren , sondern sich in einem altersgemäß strukturierten Abwägungsprozess über die Notwendigkeit und Folgen der Nutzung von Kraftfahrzeugen eine eigene Meinung zu bilden und diese sachgerecht zu vertreten. Dies entspricht der im Lehrplan Sachunterricht für die Grundschule für das Ende der Klasse 4 formulierten Kompetenzerwartung, dass Schülerinnen und Schüler die Verhaltensweisen von Verkehrsteilnehmern in Bezug auf verkehrsgerechte sowie umweltfreundliche Aspekte beschreiben, reflektieren und diskutieren, dass sie Regeln und Tipps für eine gesunde Lebensführung formulieren, die Möglichkeiten des ÖPNV kennen und nutzen und den sparsamen Umgang mit Ressourcen erproben. Wenn Kinder durch schulische Lernprozesse dazu angehalten werden, generell ihre Erkenntnisse, Sichtweisen und Fragestellungen auch außerhalb der Schule – zum Beispiel mit den Eltern – zu thematisieren, dann begrüßt die Landesregierung das.