LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 15.08.2013 Datum des Originals: 15.08.2013/Ausgegeben: 20.08.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1452 vom 18. Juli 2013 des Abgeordneten Dirk Wedel FDP Drucksache 16/3612 Effektivere Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in NRW - Verbesserung der Verfahrenseffizienz / Qualifikation der Schöffen Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 1452 mit Schreiben vom 15. August 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die SPD-Bundestagsfraktion fordert zur effektiveren Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität eine Verbesserung der Verfahrenseffizienz in Ermittlungsverfahren sowie Strafprozessen (vgl. Drs. 17/13087, Seite 4). Danach solle künftig im Ermittlungsverfahren sowie im Strafprozess mehr Spezialwissen genutzt werden. Hierzu sei verstärkt auf die bereits bestehende Möglichkeit zurückzugreifen, Wirtschaftsgutachterinnen und Wirtschaftsgutachter in Verfahren wegen Untreue zu beteiligen, um die Frage des Vermögensschadens zu klären. Darüber hinaus sei durch eine Änderung des § 77 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sicherzustellen, dass Schöffinnen und Schöffen in Wirtschaftsstrafkammern – in Anlehnung an entsprechende Regelungen für ehrenamtliche Richterinnen und Richter am Arbeitsgericht gemäß den §§ 20 ff. des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG), ehrenamtliche Handelsrichterinnen und Handelsrichter gemäß § 109 Absatz 1 Nummer 3 des GVG oder Jugendschöffinnen und Jugendschöffen gemäß § 35 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) – wirtschaftliches Verständnis und fachliche Erfahrungen besitzen. Dies solle nachgewiesen werden durch a) den Abschluss eines im weiteren Sinne, d. h. auch interdisziplinär, wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten (Fach- )Hochschulstudiums oder b) den Abschluss einer kaufmännischen Ausbildung vorzugsweise im Bereich Steuern, Finanzen, Versicherungen, Kapitalmarkt, Banken-, Depot-, Börsen- und Kreditwesen, Buchführungs- und Bilanzwesen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 2 Zur Begründung wird weiter ausgeführt: „Wirtschaftskriminalität kann nur erfolgreich bekämpft werden, wenn Spezialistinnen und Spezialisten auf unterschiedlichen Ebenen des Verfahrens einbezogen werden. Wirtschaftsstrafsachen werden zunehmend komplexer. Ermittlungen in Wirtschaftsstrafsachen stellen an die Ermittlungsbehörden erhebliche Anforderungen. Daher soll verstärkt auf die Möglichkeit zurückgegriffen werden, Wirtschaftsprüferinnen und Wirtschaftsprüfer in das Ermittlungsverfahren einzubeziehen, die mit ihrer Sachkenntnis die Ermittlungsbeamten unterstützen. Auch die Komplexität der Verfahren nimmt zu. Wirtschaftsstrafverfahren dauern meist Wochen oder gar Monate. Die Aburteilung komplizierter Taten, beispielsweise im Bereich des Anlage- und Finanzbetrugs, nimmt zu. Die Stofffülle ist mitunter immens und die Sachund Rechtslage bisweilen schwierig. Die Bearbeitung derartiger Verfahren, die bereits für Berufsrichterinnen und -richter oft eine besondere Herausforderung darstellt, kann Schöffinnen und Schöffen häufig überfordern. Dadurch besteht die Gefahr, dass diese sich unkritisch der Meinung der Berufsrichter anschließen, was die Laienbeteiligung zu einer Farce reduziert. Wir brauchen auch sachkundige Schöffen. Wirtschaftsstraftaten werden gemäß § 74c GVG von speziellen Wirtschaftsstrafkammern bearbeitet, weil für die Beurteilung solcher Straftaten besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens notwendig sind. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass die justizförmige Behandlung solcher Straftaten, zu deren Beurteilung besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind, durch sachkundige Richterinnen und Richter erfolgt. Neben den drei Berufsrichterinnen und - richtern wirken gemäß § 76 Absatz I GVG auch zwei Schöffinnen oder Schöffen bei der Urteilsfindung mit, die gemäß § 44 DRiG i. V. m. den §§ 77, 30 GVG das Richteramt grundsätzlich in vollem Umfang und mit dem gleichen Stimmrecht wie die Berufsrichterschaft ausüben. Zur Verurteilung eines Angeklagten bedarf es nach § 263 StPO einer Zwei-DrittelMehrheit der Richter. Die Laienrichterinnen und -richter können also, wenn sie nicht von der Schuld der Angeklagten oder des Angeklagten überzeugt sind, die Verurteilung verhindern und einen Freispruch herbeiführen. Der Ausgang eines Wirtschaftsstrafverfahrens hängt also nicht unerheblich auch von der Meinung der Schöffinnen und Schöffen ab. Über einige wenige allgemeine Einschränkungen hinaus (z. B. deutsche Staatsangehörigkeit, Beherrschen der deutschen Sprache) sind für Schöffinnen und Schöffen in Wirtschaftsstrafsachen jedoch keine weiteren Qualifikationen vorgeschrieben. Weshalb solche besonderen wirtschaftlichen Kenntnisse nicht auch von den – gleichermaßen stimmberechtigten – Schöffinnen und Schöffen erwartet werden sollten, ist nicht ersichtlich. Vielmehr stellt das Gesetz auch in anderen Bereichen aus guten Gründen an Schöffinnen und Schöffen besondere Anforderungen, so beispielweise in den §§ 20 ff. ArbGG an die ehrenamtliche Richterinnen und Richter am Arbeitsgericht, gemäß § 35 JGG an die Jugendschöffinnen und -schöffen oder gemäß § 109 Absatz 1 Nummer 3 GVG an die ehrenamtlichen Handelsrichterinnen und -richter, die über Sachkunde verfügen, also beispielsweise die Kaufmannseigenschaft innehaben müssen. Daher sollen zukünftig auch die Schöffinnen und Schöffen, die in Wirtschaftsstrafsachen mitwirken, besondere Qualifikationen erfüllen, namentlich wirtschaftliches Verständnis und fachliche Erfahrungen mitbringen. Diese Qualifikationen sollen ferner nachgewiesen werden durch den Abschluss eines wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Studiums oder einer kaufmännischen Ausbildung vorzugsweise im Bereich Steuern, Finanzen, Versicherungen, Kapitalmarkt, Banken-, Depot-, Börsen- und Kreditwesen, Buchführungs- und Bilanzwesen.“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 3 1. Inwieweit wurden in NRW im Jahr 2012 und im ersten Halbjahr 2013 Wirtschaftsgutachter bzw. Wirtschaftsprüfer in Ermittlungsverfahren wegen Untreue beteiligt, um die Frage des Vermögensschadens zu klären? Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität durch die Polizei des Landes NordrheinWestfalen erfolgt durch spezialisierte Fachkommissariate in den 16 als Kriminalhauptstellen ausgewiesenen Polizeipräsidien und in einem Fachdezernat des Landeskriminalamts des Landes Nordrhein-Westfalen. In den genannten Fachdienststellen werden Wirtschaftsstrafverfahren durch insgesamt 263 speziell geschulte Wirtschaftskriminalisten bearbeitet. Sie werden dort zum Teil von diplomierten Betriebswirtinnen und Betriebswirten unterstützt, die zum festen Stellenplan der jeweiligen Organisationseinheit gehören. Zur Erforschung von Geldflüssen und Finanzbeziehungen setzt die Polizei NRW darüber hinaus speziell ausgebildete Finanzermittler ein. Durch diese Struktur ist eine sachgerechte Bearbeitung auch äußerst komplexer Wirtschaftsstrafverfahren gewährleistet. Auch die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen beziehen primär ihre speziell geschulten hausinternen Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten bzw. Buchhalter und Buchhalterinnen in die Ermittlungen in Wirtschaftsstrafsachen ein, soweit dies - beispielsweise zur Ermittlung der Höhe des Vermögensschadens in Fällen der Untreue - erforderlich ist. Die Einbeziehung externer Gutachter erfolgt nur, wenn aufgrund der Besonderheit einer Fragestellung eine hausinterne Bewertung ausnahmsweise nicht möglich ist. In Frage kommt dies etwa, wenn der Wert von Immobilien oder die Werthaltigkeit von Kapitalanlagen überprüft werden muss und andere Erkenntnisquellen wie bereits vorhandene Bau- oder Insolvenzgutachten nicht zur Verfügung stehen. Aufgrund der hohen Fachkompetenz der polizeilichen Fachdienststellen war eine Beteiligung von externen Wirtschaftsgutachtern oder -prüfern an Wirtschaftsstrafverfahren des Landeskriminalamts des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012 und im ersten Halbjahr 2013 nicht erforderlich. Landesweite Statistiken darüber, in welchen Fällen die Staatsanwaltschaften externe Sachverständige zu welchen Zwecken bei Ermittlungen herangezogen haben, werden nicht geführt. Eine Zusammenstellung entsprechender Daten erforderte die inhaltliche Auswertung einer Vielzahl von Ermittlungsakten von Hand, zumal in Wirtschaftsstrafsachen regelmäßig nicht nur wegen eines Tatvorwurfs (Untreue), sondern wegen zahlreicher weiterer Vorwürfe (Betrug, Bankrott, Insolvenzverschleppung, Veruntreuen von Arbeitsentgelt, Steuerhinterziehung u.v.m.) ermittelt werden muss. Auch die Frage, ob und inwieweit die Kriminalhauptstellen Wirtschaftsgutachter bzw. Wirtschaftsprüfer an Ermittlungsverfahren beteiligt haben, könnte nur durch eine landesweite Datenerhebung bei den Kreispolizeibehörden beantwortet werden. Solche Erhebungen sind in der zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht möglich. 2. Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung - ohne Einfluss auf einzelne Ermittlungsverfahren zu nehmen - zu erreichen, dass in Ermittlungsverfahren verstärkt Wirtschaftsgutachter bzw. -prüfer einbezogen werden, um mit ihrer Sachkenntnis die Ermittlungsbeamten zu unterstützen? Wirtschaftsstrafverfahren erfordern unter den heutigen Bedingungen eine frühzeitige und besonders enge Zusammenarbeit zwischen den Dezernenten bzw. Dezernentinnen der Staatsanwaltschaften und den Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten. Diese müssen die Möglichkeit haben, ihren wirtschaftlichen Sachverstand kontinuierlich in die Ermittlungen einzubringen. Das Justizministerium hat deshalb durch Allgemeinverfügung vom 16.08.2011 (4100 - III. 172 - JMBl. NRW S. 262) die Aufgabenbeschreibung für LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 4 Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten bei den Staatsanwaltschaften neu gefasst. Die Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten können auf dieser Grundlage je nach Bedarf punktuell und flexibel in einzelne Ermittlungsschritte eingebunden werden. Zu ihren Aufgaben gehört neben der Sichtung und Auswertung von Geschäftsunterlagen bzw. Datenträgern und der Beurteilung der sich ergebenden wirtschaftlichen und wirtschaftsrechtlichen Fragen auch die Unterstützung von Durchsuchungen und sonstigen staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlungshandlungen. Wirtschaftsreferentinnen und Wirtschaftsreferenten können ferner von Behörden für ihre Tätigkeit benötigte Auskünfte einholen sowie Akten und Unterlagen anfordern. Sie erstatten ihre Gutachten unabhängig und frei von inhaltlichen Weisungen. Eine darüber hinaus gehende Beauftragung externer Sachverständiger obliegt der sachleitenden Staatsanwaltschaft im Einzelfall. Damit bleibt in den Ermittlungsbehörden der Spielraum für an den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten orientierte Lösungen erhalten. 3. Wie viele Schöffinnen und Schöffen sind derzeit in Wirtschaftsstrafkammern in NRW tätig (bitte insgesamt und einzeln nach Landgerichten aufführen)? Der Präsident oder die Präsidentin eines jeden Landgerichts stellt entsprechend § 77 Absatz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes alle fünf Jahre die Namen der Personen, die aus den von den Gemeinden erstellten Vorschlagslisten für das Hauptschöffenamt gewählt wurden, zur Schöffenliste des Landgerichts zusammen. Die Reihenfolge, in der diese Personen an den einzelnen ordentlichen Sitzungen der Strafkammern teilnehmen, wird jährlich zum 30. November des Jahres für das ganze folgende Geschäftsjahr im Voraus durch Auslosung in öffentlicher Sitzung bestimmt, § 45 Absatz 1, 77 Absatz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes. Den Wirtschaftsstrafkammern in Nordrhein-Westfalen sind im laufenden Turnus Schöffinnen und Schöffen wie folgt zugelost worden: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 5 Landgericht Anzahl der Schöffinnen und Schöffen Landgericht Aachen 112 Landgericht Arnsberg 18 Landgericht Bielefeld keine separate Zulosung zur Wirtschaftsstrafkammer Landgericht Bochum 22 Landgericht Bonn 28 Landgericht Detmold keine separate Zulosung zur Wirtschaftsstrafkammer Landgericht Dortmund 32 Landgericht Düsseldorf 78 Landgericht Duisburg 199 Landgericht Essen 74 Landgericht Hagen 68 Landgericht Kleve 8 Landgericht Krefeld 14 Landgericht Köln 90 LG Mönchengladbach 56 Landgericht Münster keine separate Zulosung zur Wirtschaftsstrafkammer Landgericht Paderborn keine separate Zulosung zur Wirtschaftsstrafkammer Landgericht Siegen keine separate Zulosung zur Wirtschaftsstrafkammer Landgericht Wuppertal 58 Die Zahl der Schöffinnen und Schöffen, die derzeit an einem laufenden Prozess vor einer Wirtschaftsstrafkammer in Nordrhein-Westfalen tatsächlich teilnehmen, kann in der zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht erhoben werden. Eine Zusammenstellung der entsprechenden Daten erforderte die inhaltliche Auswertung sämtlicher bei allen Wirtschaftsstrafkammern terminierter Verfahren von Hand, da den Kammern je nach Geschäftsverteilungsplan auch allgemeine Strafsachen zugewiesen sein können. 4. Inwieweit sieht die Landesregierung das wirtschaftliche Verständnis und die fachliche Erfahrung der derzeit in Wirtschaftsstrafkammern tätigen Schöffinnen und Schöffen als nicht ausreichend an, so dass nach Auffassung der Landesregierung die Gefahr besteht, dass sie sachunkundig und überfordert sich unkritisch der Meinung der Berufsrichter anschließen, was die Laienbeteiligung zu einer Farce reduziert? Der Landesregierung ist es nach der verfassungsrechtlichen Ordnung mit Rücksicht auf die richterliche Unabhängigkeit untersagt, die Tätigkeit der Richterinnen und Richter sachlichinhaltlich zu kommentieren. Dies gilt gleichermaßen für Berufsrichterinnen und Berufsrichter wie für Schöffinnen und Schöffen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3788 6 5. Welche Qualifikation sollte nach Ansicht der Landesregierung für die Tätigkeit als Schöffin bzw. Schöffe in Wirtschaftsstrafkammern erforderlich sein? Das verantwortungsvolle Schöffenamt verlangt vor allem Unparteilichkeit, Selbstständigkeit und Reife des Urteils. Zu der Frage, ob in Wirtschaftsstrafsachen darüber hinaus auch berufliche Fachkenntnisse vorhanden sein sollten, ist der Diskussionsprozess noch nicht abgeschlossen. Zu bedenken ist, dass die Beteiligung von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern an der Strafrechtspflege das Rechtsbewusstsein und die Wertvorstellungen der gesamten Bevölkerung in die Beratungen des Gerichts einbringen soll. § 36 Absatz 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt deshalb, dass alle Gruppen der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Beruf und sozialer Stellung angemessen berücksichtigt werden sollen. Der Landesregierung ist es ein Anliegen, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Justiz insgesamt zu stärken. Sie wird daher dem andauernden Diskussionsprozess nicht vorgreifen.