LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3826 20.08.2013 Datum des Originals: 19.08.2013/Ausgegeben: 23.08.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1445 vom 17. Juli 2013 der Abgeordneten Ingola Schmitz FDP Drucksache 16/3597 „Lesen durch Schreiben“ als Gefahr für die deutsche Rechtschreibung? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 1445 mit Schreiben vom 19. August 2013 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Wie in dem Artikel „Die neue Schlechtschreibung“ des „Spiegels“ (Ausgabe 25/2013) berichtet wird, hat sich in vielen Grundschulen in Deutschland und auch in NordrheinWestfalen die Idee des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reicher „Lesen durch Schreiben“ durchgesetzt, in der Kinder Worte so zu Papier bringen, wie sie sie akustisch wahrnehmen. Hierbei sind Fehler in der Rechtschreibung erlaubt und sollen von den Lehrern nicht berichtigt werden. Inzwischen wird jedoch vielfach Kritik geäußert. Vor allem leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler litten unter der Idee Reichens, dass sich die Kinder die richtige Rechtschreibung selbst erarbeiten könnten. Das Konzept erweist sich in der Praxis laut „Spiegel“ als Bildungshürde. Kinder würden zu Rechtsschreibanarchisten erzogen, um sie dann mühsam wieder aus der fremdverschuldeten Unfähigkeit zu befreien. Die Grundidee Reichens war, dass sich die Schülerinnen und Schüler die Schriftsprache selbst erarbeiten können würden und zog bei seiner Begründung Parallelen zum Erlernen des Laufens und Sprechens. Bemängelt wird in dem Artikel, dass gerade Kinder aus schwierigen Verhältnissen, die wenig Kontakt mit der deutschen Sprache haben, möglicherweise die deutsche Sprache nie richtig erlernen. Gerade auch Kinder mit Rechtschreibschwäche litten besonders unter der Reichen-Methode, da LeseRechtschreibschwächen erst sehr spät erkannt werden könnten. Eine der renommiertesten Grundschulforscherinnen des Landes Renate Valtin, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, sprach sich für ein Verbot von „Lesen durch Schreiben“ aus. Laut Valtin könne dies sich sogar negativ auf die Lesebegeisterung auswirken und somit dem gesamten Bildungserwerb schaden. Auch wird in dem genannten Artikel u.a. der Hirnforscher Henning Scheich vom Leibniz Institut für Neurobiologie zitiert, LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3826 2 der erklärt: „Schon die alten Pädagogen wussten, dass beim Schreiben lernen nur eines hilft: üben, üben, üben.“ Ebenfalls wird auf wissenschaftliche Untersuchungen verwiesen; so z.B. auf die Schulleistungsstudie DESI, die grundsätzlich sehr schlechte Rechtschreibergebnisse bescheinigt habe. Auch wird die fehlende wissenschaftliche Untermauerung der Methode „Lesen durch Schreiben“ von verschiedenen Wissenschaftlern hinterfragt. Inzwischen melden sich laut „Spiegel“ sogar Schülervertreter zu Wort und fordern die Abschaffung von „Lesen durch Schreiben“. Ein Vergleich von Wolfgang Steinig, Germanist an der Universität Siegen, zeigt demnach die Dramatik der Entwicklung auf, wie der „Spiegel“ darlegt. Einer Gruppe von Viertklässlern führte er laut Artikel einen zweiminütigen Film vor, den vor 40 Jahren ebenfalls Viertklässler sahen. Die Schüler erhielten denselben Arbeitsauftrag, die Handlung nachzuerzählen. Dabei machten die Schüler im Schnitt 17-mal in 100 Wörtern einen Fehler. 1972 waren es demnach nur 7 Fehler pro 100 Wörter. Steinig kommt danach zu der Feststellung, dass vor allem die Herkunft bei der Anzahl der Fehler deutlich entscheidender sei als noch 1972. Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial schwierigen Verhältnissen schnitten besonders schlecht ab. Ein weiteres Problem stellt laut „Spiegel“ dar, dass nicht überschaubar sei, wie viele Kinder vom Konzept „Lesen durch Schreiben“ betroffen sind. Einheitliche Regelungen bestünden oftmals nicht. In Bayern gäbe es etwas genauere Vorgaben. Auch wird z.B. das saarländische Ministerium für Bildung und Kultur zitiert, wonach „eine ausschließliche Umsetzung der Methode ,Lesen durch Schreiben‘ nach Jürgen Reichen […] [verboten ist]“. In den anderen Ländern müssten laut Artikel die Lehrpläne erfüllt werden und es sei Aufgabe der Universitäten und Pädagogen, die Evaluierung der Methoden durchzuführen. In dem Artikel wird auch auf den Bildungsforscher John Hattie verwiesen, der auf der Basis seiner wissenschaftlichen Untersuchungen den Schluss gezogen habe, dass Kinder klare Ansagen und einen gut strukturierten Unterricht bräuchten, um die besten Lernerfolge zu erreichen. Vorbemerkung der Landesregierung Das Ministerium für Schule und Weiterbildung weist in den Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich auf den wichtigen Beitrag des Faches Deutsch zum Bildungs- und Erziehungsauftrag in der Grundschule hin. Der Lehrplan für das Fach Deutsch bildet den verbindlichen Rahmen dafür. Der Lehrplan weist verbindliche Kompetenzbereiche und Schwerpunkte für das Ende der Schuleingangsphase und das Ende der Klasse 4 aus. Die Verantwortung für die Durchführung des Unterrichts – und damit für die im Unterricht eingesetzten Methoden – obliegt der unterrichtenden Lehrkraft, die sich dabei an den schulinternen Arbeitsplänen und an den Beschlüssen der Lehrer- bzw. Fachkonferenzen der jeweiligen Schule orientiert. Grundschulen können Fachkonferenzen für die einzelnen Fächer einrichten, denen sowohl Lehrkräfte, die die Lehrbefähigung für das Fach besitzen, wie auch weitere das Fach unterrichtende Lehrkräfte angehören. Durch den regelmäßigen Austausch in Fach-, Jahrgangsstufen- oder Lehrerkonferenzen ist gewährleistet, dass der Fachunterricht kompetent auf der Grundlage der Vorgaben und der schulinternen Arbeitspläne erteilt wird. Die Verpflichtung der Lehrkräfte zur Fortbildung und die Verpflichtung der Schulleitung, auf die Fortbildung der Lehrkräfte hinzuwirken, dient ebenfalls zur Qualitätssicherung des Unterrichts in den erteilten Fächern. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3826 3 Der Lehrplan untergliedert das Fach Deutsch in die Bereiche „Sprechen und Zuhören“, „Schreiben“, „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ sowie „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“. Grundlage für erfolgreiches Schreibenlernen ist die phonologische Bewusstheit, d. h. die Einsicht in die Lautstruktur der Sprache sowie in Laut-Buchstaben-Entsprechung der Alphabetschrift. Die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, Wörter auf ihre lautlichen Bestandteile hin abzuhören, ist beim Schreiblernprozess ebenso bedeutend wie die Voraussetzungen im Bereich der visuellen Wahrnehmung und der Motorik. Schülerinnen und Schüler lernen das Schreiben und Rechtschreiben in einem aktiven, durch Beispiel, Reflexion und Anleitung unterstützten Prozess. Auf der Grundlage der LautBuchstaben -Zuordnung erwerben sie Einsichten in die Besonderheiten der deutschen Rechtschreibung. Durch den vielfältigen Umgang mit Wörtern, durch Vergleichen, Nachschlagen (Wörterbücher) und Anwenden von Regeln erwerben sie Rechtschreibstrategien, mit deren Hilfe sie Gesprochenes und Gedachtes verschriftlichen. Über verschiedene Arbeitstechniken entwickeln sie ein Rechtschreibgespür und übernehmen Verantwortung für eigene Texte (vgl. Lehrplan Deutsch für die Grundschule in NRW, S. 25f.). 1. Wie bewertet die Landesregierung die Aussagen in dem genannten Artikel, wonach für die Methode „Lesen durch Schreiben“ keine wissenschaftlich fundierte Basis bestehe? Der Landesregierung liegen keine wissenschaftlichen Befunde vor, die eine Überlegenheit von bestimmten Methoden des Schriftspracherwerbs belegen oder die den Nachweis führen könnten, dass die Methode „Lesen durch Schreiben“ grundsätzlich nicht erfolgreich ist. Es gibt vielfältige wissenschaftliche Studien, für die sich im Überblick kein einheitliches Bild erschließt. 2. Wie kann, wenn in einer Grundschule die Methode „Lesen durch Schreiben“ gelehrt wird, sichergestellt werden, dass eine Lese-Rechtschreibschwäche nicht zu spät erkannt wird? Es gibt keine wissenschaftlichen Befunde, dass die Methode „Lesen durch Schreiben“ eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) verursacht. Unabhängig von den gewählten Methoden zählen die systematische Diagnose des Lernstands und Lernfortschritts sowie individuelle Förderung zu den elementaren Aufgaben des Lehrerberufs. Jede Lehrkraft in NordrheinWestfalen hat die Pflicht, ihr eigenes pädagogisches Handeln, ihren Unterricht, die eingesetzten Methoden, die Wirksamkeit des durchgeführten Unterrichts und nicht zuletzt den Lernzuwachs jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers regelmäßig und kontinuierlich zu evaluieren. Dies gilt selbstverständlich auch für den Deutschunterricht. Hier zählt vor allem die Diagnose von speziellen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens – unabhängig von den zum Schriftspracherwerb eingesetzten Unterrichtsmethoden – zu den Pflichtaufgaben jeder Lehrkraft. Bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche zeigt der Runderlass "Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)" vom 19.07.1991 Fördermöglichkeiten auf und bildet die Grundlage für die Leistungsbewertung. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3826 4 3. Wie stellt die Landesregierung sicher, dass, wenn an Grundschulen die Methode „Lesen durch Schreiben“ Anwendung findet, nicht insbesondere Kindern aus bildungsfernen Familien Zukunftschancen verbaut werden? Die Kompetenzerwartungen in Bezug auf richtiges Schreiben sind für alle Grundschulen in Nordrhein-Westfalen, unabhängig von den gewählten Methoden, in den Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschulen in NRW festgelegt. Welche Methode an einzelnen Schulen praktiziert wird, ist der Landesregierung nicht bekannt. Die Verantwortung für die Wahl der Methode sowie die Umsetzung dieser Methode liegt in Nordrhein-Westfalen bei der jeweiligen Schule selbst. In den heterogen zusammengesetzten Grundschulklassen findet ein unter didaktischen Gesichtspunkten stark individualisierter Unterricht statt. Dieser ermöglicht es allen Schülerinnen und Schülern – auch solchen aus bildungsfernen Familien – unterschiedliche Lernzugänge und verschiedene Lernwege zu nutzen, um die verbindlichen Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphase bzw. am Ende von Klasse 4 zu erreichen. Die vor Ort tätigen Lehrkräfte verfügen über die erforderlichen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kompetenzen, um diesen individualisierten Unterricht, der allen Kindern gerecht wird, zu gewährleisten. 4. Wie bewertet die Landesregierung die Forderung der Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, die Methode „Lesen durch Schreiben“ zu verbieten, da sie schädlich für die Kinder sei? Empirische Untersuchungen können einen schädlichen Einfluss für Schülerinnen und Schüler, der rein durch das Konzept „Lesen durch Schreiben“ begründbar wäre, nicht belegen. Um den Lehrkräften vor Ort möglichst viel Handlungsspielraum einzuräumen, ist es der Landesregierung ein besonderes Anliegen, ein hohes Methodenspektrum zum Schriftspracherwerb und zum Lesen zu ermöglichen, das nicht einzelne Methoden ausgrenzt oder diese verabsolutiert. So obliegt es den professionell arbeitenden Lehrkräften vor Ort, geeignete Methoden zu wählen, ggf. nachzusteuern und so jeder Schülerin bzw. jedem Schüler zu ermöglichen, die verbindlichen Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphase bzw. am Ende von Klasse 4 gemäß der Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in NRW zu erreichen. Die Qualitätsanalyse und die Vergleichsarbeiten in Klasse 3 geben den Schulen eine qualitative Rückmeldung ihrer Arbeit. Im Rahmen schulischer Unterrichts- und Qualitätsentwicklung legt somit jede Grundschule in Nordrhein-Westfalen die konzeptionellen Grundlagen des Schriftspracherwerbs über die Fach- bzw. Lehrerkonferenz fest. 5. In welcher Form wird die Landesregierung auf die in dem genannten Artikel vielfach geäußerte Kritik der Wissenschaft an der Reichen-Methode in Nordrhein-Westfalen reagieren? Die Landesregierung sieht keinen Handlungsbedarf.