LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/3917 02.09.2013 Datum des Originals: 02.09.2013/Ausgegeben: 05.09.2013 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1495 vom 25. Juli 2013 des Abgeordneten Dirk Wedel FDP Drucksache 16/3700 Verjährung oder Strafnachlässe bei Wirtschaftsstrafverfahren in NRW Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 1495 mit Schreiben vom 2. September 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister, dem Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk und dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die SPD-Bundestagsfraktion fordert, die Bundesregierung solle sich bei den Ländern für eine Optimierung von Strafverfahren einsetzen (vgl. Drs. 17/13087, Seite 5). Als Vorbild könne beispielsweise das Bremer Modell fungieren. Bei dem Bremer Modell würden folgende Handlungselemente durch die beteiligten Stellen der Ressorts Inneres, Justiz und Finanzen im Rahmen einer engen Zusammenarbeit umgesetzt: • gemeinsame Verfahrensstrategie in umfangreichen Verfahren, • ressortübergreifendes Verfahrenscontrolling, • elektronische Auswertung und Ermittlungsunterstützung, elektronische Zweitakte, • behördenübergreifendes Qualifizierungskonzept mit gemeinsamen Fortbildungsveranstaltungen für Staatsanwaltschaft, Polizei und Finanzbehörden und gegenseitigen Hospitationen zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsorgane, • Ressourcenoptimierung durch geschickten Einsatz von Fachpersonal (z. B. Wirtschaftsreferentenstelle bei der Staatsanwaltschaft). Zur Begründung wird weiter ausgeführt: „Die Bearbeitung von Wirtschaftsstrafsachen – insbesondere der umfangreichen Verfahren – stellt bundesweit die Finanzbehörden, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte vor besondere Schwierigkeiten. Durch ein ressortübergreifendes Konzept könnte eine Optimierung von Strafverfahren erfolgen. Das Bremer Modell könnte dabei eine LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3917 2 Vorbildfunktion einnehmen, denn durch die enge Zusammenarbeit der beteiligten Stellen der Ressorts Inneres, Justiz und Finanzen, im Rahmen derer verschiedene Handlungselemente umgesetzt werden, ist eine konsequente und effektive Verfolgung von Straftaten möglich. Wirtschaftskriminalität zeichnet sich in den Umfangsverfahren durch äußerst komplexe, schwer durchschaubare Sachverhalte aus, die oft internationale Zusammenhänge haben und umfangreiche Datenmengen einschließen. Nur eine gemeinsame Schwerpunktsetzung und von vornherein abgestimmte Verfahrensstrategie der beteiligten Stellen versprechen in diesen Verfahren eine erfolgreiche Ermittlung und Verfolgung der Straftaten. Solche Strategien könnten zukünftig im Rahmen eines gemeinsamen Konzepts abgestimmt werden. Insbesondere in den umfangreichen Verfahren drohen wegen langwieriger Ermittlungen und des hohen technischen und personellen Aufwands immer wieder Verjährung der Taten oder Strafnachlässe wegen besonders langer Verfahrensdauer. Das ist ständig unter Kontrolle zu halten und durch ein Verfahrenscontrolling nach Möglichkeit zu vermeiden. Drohende Verfahrensverjährungen können so abgewendet werden. Umfangreiche Strafverfahren könnten künftig mit Einführung einer elektronischen Zweitakte deutlich vereinfacht und beschleunigt werden. Polizei, Steuerfahndung, Zoll und Staatsanwaltschaft sollten daher mit kompatiblen Aktenverwaltungs- und Auswertungsprogrammen ausgestattet werden, mit denen in der behördenübergreifenden Zusammenarbeit spürbare Synergieeffekte erzielt werden können. Eine angemessene Ausstattung mit gut ausgebildetem Personal ist unbedingte Voraussetzung für eine funktionierende Strafverfolgung. Durch gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen für Staatsanwaltschaft, Polizei und Finanzbehörden und gegenseitige Hospitationen kann die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsorgane entscheidend verbessert werden. Daher sollten künftig effektive Qualifizierungs- und Hospitationsprogramme entwickelt und umgesetzt werden. Schließlich kann eine Ressourcenoptimierung durch den geschickten Einsatz von Fachpersonal erreicht werden. So sollte dafür gesorgt werden, dass bei den (Schwerpunkt- )Staatsanwaltschaften eine Wirtschaftsreferentenstelle besetzt ist, bei der Polizei sollten Wirtschaftsprüferinnen und Wirtschaftsprüfer mitarbeiten und insgesamt sollte eine übergreifende Organisationsüberprüfung innerhalb der verschiedenen Einheiten stattfinden, um sicherzustellen, dass Fachpersonal an den richtigen Stellen eingesetzt wird. So können die Bearbeitungszeiten verkürzt, Rückstände abgebaut und die Qualität der Ermittlungsergebnisse gesteigert werden.“ 1. Welche ressortübergreifenden Konzepte verfolgt die Landesregierung, insbesondere die Ressorts Inneres, Justiz und Finanzen, auf Landesebene im Bereich der Wirtschaftsstrafsachen? Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität gehört zu den wichtigsten Zielen der Landesregierung im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Es handelt sich um eine Querschnittaufgabe, die die Ressorts für Justiz, für Inneres und Kommunales, für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk sowie für Finanzen berührt. Sie verlangt von allen an der Bearbeitung einschlägiger Verfahren Beteiligten ein hohes Maß an Koordination im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Dabei ist für rechtlich wie tatsächlich komplizierte Ermittlungskomplexe eine besondere Sachkunde der mit den Ermittlungen befassten Personen erforderlich. Spezialisierte Fachkräfte - unter anderem bei den Kriminalhauptstellen, in den Fachdezernaten des LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3917 3 Landeskriminalamts, in den Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftsstrafsachen in Bielefeld, Bochum, Düsseldorf und Köln, in den Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Korruptionsdelikte in Bielefeld, Bochum, Wuppertal und Köln, beim Landeskartellamt und in den Prüfungs- und Fahndungsfinanzämtern - bearbeiten die Verfahren in NordrheinWestfalen in enger Abstimmung miteinander mit hoher Fachkompetenz. In einem bevölkerungsreichen Flächenland wie Nordrhein-Westfalen sind flexible Lösungen unter Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten und der Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens geboten. Verfahren mit lokalem Schwerpunkt sollten möglichst orts- und damit bürgernah bearbeitet werden. Deshalb ist ein Einheitsmodell für Verfahrensaufbau, Strategie und Verfahrensgestaltung, wie es für das Land Bremen entwickelt worden ist, auf NordrheinWestfalen mit seinen 19 Landgerichtsbezirken nicht übertragbar. Planerische, strategische und koordinatorische Entscheidungen in einzelnen Ermittlungskomplexen müssen in erster Linie von der jeweils sachleitenden Staatsanwaltschaft in enger Absprache mit den Ermittlungspersonen vor Ort getroffen werden. In Nordrhein-Westfalen werden die Handlungselemente des in der Kleinen Anfrage erwähnten „Bremer Modells“ bereits praktiziert. Die Erarbeitung einer gemeinsamen Verfahrensstrategie erfolgt in umfangreicheren Wirtschaftsverfahren grundsätzlich zu Beginn der Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei und/oder Zoll- bzw. Steuerfahndung. Im Rahmen der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Korruption besteht eine durch langgeübte Praxis bewährte, standardisierte, ressortübergreifende Zusammenarbeit. Je nach Bedarf können Ermittlungskommissionen des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen durch interdisziplinäre Zusammensetzung fachliche Schwerpunkte setzen. In Abstimmung mit der zuständigen Staatsanwaltschaft werden die Ermittlungskommissionen daher lage- und bedarfsangemessen mit Polizeibeamtinnen und -beamten, Zollbeamtinnen und -beamten sowie Steuerfahnderinnen und -fahndern besetzt. Nach Nummer 242 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) ist bei der Verfolgung von wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen, wenn auch der Verdacht einer Kartellordnungswidrigkeit besteht, frühestmöglich eine Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Kartellbehörde sicherzustellen. Dazu gehört grundsätzlich eine gegenseitige Unterrichtung über geplante Ermittlungsschritte mit Außenwirkung und eine Abstimmung der zu beantragenden Rechtsfolgen. Vor diesem Hintergrund informiert die Landeskartellbehörde die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft über die bei ihr eingehenden Anzeigen, stimmt sich mit ihr und der Kriminalpolizei im Hinblick auf die regelmäßig erforderlichen Durchsuchungen der betroffenen Unternehmen ab, führt erforderliche Vernehmungen mit der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei gemeinsam durch und bespricht den Verfahrensabschluss mit der Staatsanwaltschaft. Neben dieser Zusammenarbeit im operativen Bereich ist die Landeskartellbehörde im „Interdisziplinären Arbeitskreis Korruptions- und Umweltkriminalität“ beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen vertreten. Außerdem nehmen Mitarbeiter der Landeskartellbehörde an der jährlich unter der Leitung des Landeskriminalamts in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft Wuppertal stattfindenden Arbeitstagung der nordrhein-westfälischen (Kriminal-)Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften teil. Beide Veranstaltungen dienen der Darstellung herausragender Ermittlungsverfahren. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3917 4 Verfahrensübergreifend erarbeitet im Justizministerium eine Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern von Gerichten und Staatsanwaltschaften Vorschläge zur Optimierung der Vermögensabschöpfung und der Finanzermittlungen unter Beteiligung eines Experten des Landeskriminalamts. Für das Finanzressort wird im Bereich der Steuerstraftaten die Zusammenarbeit mit den Dienststellen anderer Ressorts insbesondere durch folgende Vereinbarungen/Konzepte geregelt: Zusammenarbeitsregelung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls mit den Länderfinanzverwaltungen, Merkblatt über die Zusammenarbeit zwischen Steuer und Zoll sowie Einsatz von Verbindungsbeamtinnen und -beamten der Finanzverwaltung beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Vereinbarung zwischen dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen und dem Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Wuppertal). Eine landesweite Ausweitung des letztgenannten Projekts ist in Planung. Als Ergebnis eines ständigen kommunikativen Austauschs zwischen den Ministerien für Inneres und Kommunales, Justiz und Finanzen wurde unter Beteiligung des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen zur Bekämpfung der organisierten Schwarzarbeit der ressortübergreifende Arbeitskreis „Bau“ gegründet. Ziel ist es, unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen Justiz, Finanzverwaltung und Zoll deliktübergreifend agierende Täterstrukturen im Bereich der Steuer- und Zolldelikte aufzudecken und zu bekämpfen. Ein weiteres wichtiges Element der ressortübergreifenden Zusammenarbeit ist der Einsatz der elektronischen Zweitakte. Die Entscheidung über Bildung, Aufbau und Nutzung einer elektronischen Zweitakte obliegt der Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Sachleitungsbefugnis in Abstimmung mit den Ermittlungspersonen. In den Schwerpunktabteilungen für Wirtschaftsstrafsachen und in der Zusammenarbeit mit den Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft ist ihr Einsatz Standard. Hinsichtlich der ressortübergreifenden Zusammenarbeit in Fragen der Aus- und Fortbildung sowie der Hospitation wird auf die Antwort zu Frage 1 der Kleinen Anfrage 1494 Bezug genommen. 2. Inwieweit erfolgt in NRW ein ressortübergreifendes Verfahrenscontrolling bzw. soll dies nach Auffassung der Landesregierung erfolgen? Ein ressortübergreifendes Verfahrenscontrolling gibt es in Nordrhein-Westfalen auf verschiedenen Ebenen. Bei den Staatsanwaltschaften erfolgt eine Kontrolle im Hinblick auf Haft- und Verjährungsfristen auf Grundlage von EDV-gestützten Listen und bei Bedarf in Fallkonferenzen. Die ressortübergreifende Abstimmung obliegt vorrangig den zuständigen Abteilungs-, Kommissariats- bzw. Sachgebietsleitungen. Sie erfolgt, wenn die Besonderheiten eines Verfahrens hierfür Veranlassung geben. Gegebenenfalls werden Probleme auch ressortübergreifend im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Erörterungen der Generalstaatsanwältin und der Generalstaatsanwälte mit dem Direktor des Landeskriminalamts sowie des ebenfalls regelmäßig stattfindenden „Jour fixe“ der Leitung der Strafrechtsabteilung des Justizministeriums mit der Leitung der Polizeiabteilung des Ministeriums für Inneres und Kommunales behandelt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/3917 5 3. Inwieweit hält die Landesregierung eine gemeinsame Verfahrensstrategie der beteiligten Stellen der Ressorts Inneres, Justiz und Finanzen in umfangreichen Verfahren für erforderlich? Bei den in Rede stehenden umfangreichen Verfahren (Umfangsverfahren) handelt es sich zumeist um Sammelverfahren, die sich gegen mehrere Täter oder einen Täter richten und in denen wegen mehrerer Straftaten unterschiedlichster Art ermittelt wird. Derartige Verfahren kennzeichnen sich durch einen die Dauer und Intensität eines gewöhnlichen Ermittlungsverfahrens erheblich übersteigenden Aufwand. Sie erfordern daher zwingend eine gemeinsame Verfahrensstrategie der beteiligten Ermittlungsbehörden. Eine solche Verfahrensstrategie wird in den genannten Verfahren bereits seit Jahren praktiziert. So werden in der Regel Ermittlungskommissionen unter Beteiligung aller beteiligten Ressorts gebildet. Die erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen werden miteinander abgestimmt und zum Teil gemeinsam durchgeführt. Diese Verfahrenspraxis hat sich bewährt. Die Abstimmung der Verfahrensstrategien erfolgt unter Berücksichtigung der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft auf den jeweiligen Fall bezogen. Eine allgemeingültige Verfahrensstrategie ist in den Umfangsverfahren schwer denkbar, da jedes Ermittlungsverfahren ermittlungstaktische Besonderheiten aufweist. 4. Bei welchen Umfangsverfahren im Bereich der Wirtschaftskriminalität trat im Jahr 2012 und im ersten Halbjahr 2013 in NRW wegen langwieriger Ermittlungen bzw. des hohen technischen und personellen Aufwands eine Verjährung der Taten ein? Hierzu liegen der Landesregierung valide Daten nicht vor. Eine Statistik darüber, ob es in einzelnen Umfangsverfahren wegen „langwieriger Ermittlungen bzw. des hohen technischen und personellen Aufwands“ zu Verjährungen der Taten gekommen ist, gibt es nicht. Entsprechende Daten wären nur mittels händischer Sonderauswertungen zu erlangen, die mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht durchzuführen sind. 5. Bei welchen Umfangsverfahren im Bereich der Wirtschaftskriminalität sind in NRW im Jahr 2012 und im ersten Halbjahr 2013 wegen langwieriger Ermittlungen bzw. des hohen technischen und personellen Aufwands Strafnachlässe wegen besonders langer Verfahrensdauer gewährt worden? Hierzu liegen der Landesregierung valide Daten nicht vor. Eine Statistik darüber, ob es in einzelnen Umfangsverfahren wegen „langwieriger Ermittlungen bzw. des hohen technischen und personellen Aufwands“ zu Strafnachlässen wegen besonders langer Verfahrensdauer gekommen ist, gibt es nicht. Entsprechende Daten wären nur mittels händischer Sonderauswertungen zu erlangen, die mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht durchzuführen sind.