LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/454 27.07.2012 Datum des Originals: 25.07.2012/Ausgegeben: 01.08.2012 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 79 vom 26. Juni 2012 des Abgeordneten Kai Abruszat FDP Drucksache 16/138 Richternotstand am Landgericht Bielefeld – Was unternimmt die Landesregierung? Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 79 mit Schreiben vom 25. Juli 2012 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Beim Landgericht Bielefeld herrscht offensichtlich eine eklatante Personalnot an Richterinnen und Richtern im Strafbereich. So titelt das Westfalenblatt in seiner Ausgabe vom 25.06.2012: „Personalnot am Schwurgericht - Müssen mutmaßliche Mörder bald aus der Untersuchungshaft entlassen werden?“ Im selben Bericht schildert die Vorsitzende der zehnten Strafkammer des Landgerichts Bielefeld (Schwurgerichtskammer), welche neben Kapital- und allgemeinen Strafsachen sowie Beschwerden zudem Aufgaben als kleine und große Strafvollstreckungskammer innehat (vgl. § 74 Abs. 2 GVG sowie S. 42 des vom Präsidiums des Landgerichts Bielefeld beschlossene Geschäftsverteilungsplans 2012), die außerordentliche Belastung sowie anstehende personelle Veränderungen. Im ersten Halbjahr 2012 habe das Schwurgericht des Landgerichts Bielefeld (zuständig für Bielefeld sowie die Kreise Gütersloh, Herford und MindenLübbecke ) schon sechs Kapitalsachen und sechs weitere Sachen abgeschlossen, offen seien aktuell neun Schwurgerichtssachen. Sechs weitere Verfahren seien bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Allein im August würden drei Verfahren beginnen, in denen die Tötung eines Menschen geklärt werden müsse. In den kommenden Monaten gehe einer der Berufsrichter in Elternzeit und eine Richterin verlasse die Kammer. Die Vorsitzende habe den personellen Engpass beim Präsidium des Landgerichts angemahnt. Eine Entlastung sei jedoch nicht in Sicht. Der Landgerichtspräsident wüsste um die Notlage, doch für eine Hilfskammer fehlten der Bielefelder Justiz die Richter im Strafbereich. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/454 2 Hintergrund ist augenscheinlich, dass § 121 Abs. 1 i.V.m. § 122 StPO eine grundsätzliche Begrenzung der Untersuchungshaft auf sechs Monate vorsieht und nach der Rechtsprechung i.d.R. kein wichtiger Grund für die Fortdauer der Haft aufgrund Verfahrensverzögerungen vorliegen soll, wenn die Überlastung des Spruchkörpers infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzulänglicher Besetzung durch die Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischer Mittel und Möglichkeiten hätten beseitigt werden können. Im Sinne der Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates und nicht zuletzt aus Gründen der Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger wäre es nicht hinnehmbar, wenn Kapitalverbrechen nicht zügig verhandelt werden und - wie das Westfalenblatt schreibt - deshalb „die Freilassung von mutmaßlichen Mördern und Totschlägern“ droht. 1. Inwieweit treffen die geschilderten Tatsachen zu, nach denen zu befürchten ist, dass Strafverfahren mit U-Haft durch die 10. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld nicht im Sinne des geltenden Beschleunigungsgrundsatzes durchgeführt und deshalb ggfs. Straftäter aus der U-Haft entlassen werden müssen? Die im Anschluss an die Presseberichterstattung des Westfalen-Blatts mit der Kleinen Anfrage geäußerte Befürchtung ist nicht begründet. 2. Inwieweit verlangt die obergerichtliche Rechtsprechung - etwa des OLG Hamm - zum Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S.d. § 121 Abs. 1 i.V.m. § 122 StPO zur Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate, dass die Überlastung eines Spruchkörpers etwa infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzulänglicher Besetzung durch die Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischer Mittel und Möglichkeiten beseitigt wird? Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 29.11.2005 - 2 BvR 1737/05 - ausgeführt: „Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Staat kann sich dem Beschuldigten gegenüber nicht darauf berufen , dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Er hat die dafür erforderlichen -personellen wie sächlichen - Mittel aufzubringen, bereit zu stellen und einzusetzen. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, dieser Pflicht zu genügen (vgl. BVerfGE 36, 264 <275>).“ Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben trägt die Rechtsprechung der nordrheinwestfälischen Oberlandesgerichte Rechnung. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/454 3 3. In wie vielen Strafsachen, über die die 10. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld im Jahre 2012 zu verhandeln hat, besteht gegen mindestens einen Angeschuldigten /Angeklagten/Beschuldigten ein Haftbefehl, für den die besondere Haftprüfung durch das OLG Hamm nach den §§ 121, 122 StPO denkbar ist? Bei der 10. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld sind mit Stand vom 13.07.2012 insgesamt 11 allgemeine Strafsachen und 8 Schwurgerichtssachen anhängig. Sechs der Schwurgerichtssachen sind Haftsachen. In einer dieser Haftsachen ist mit der Hauptverhandlung bereits begonnen worden, in zwei Verfahren sind Verhandlungstermine anberaumt, deren Beginn jeweils vor dem Haftprüfungstermin nach § 121 Abs. 2 StPO liegt. Bei den restlichen drei Haftsachen ist noch über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden (Haftprüfungstermin am 28.08.2012, 03.09.2012 bzw. 27.09.2012). 4. Wie stellt sich die Belastung der 10. Strafkammer des Landgerichts Bielefeld (Schwurgerichtskammer) im Jahre 2012 und 2011 im Vergleich zur Belastung einer solchen Kammer anderer nordrhein-westfälischer Gerichte dar? Die Belastung der 10. und der anderen Großen Strafkammern des Landgerichts Bielefeld lag im Jahr 2011 unterhalb der Belastung Großer Strafkammern anderer Landgerichte. Im Geschäftsjahr 2011 sind beim Landgericht Bielefeld in erstinstanzlichen Strafsachen pro Richterarbeitskraft 12,7 Verfahren eingegangen, während der Bezirksdurchschnitt des Oberlandesgerichts Hamm bei 15,8 Verfahren je Richterarbeitskraft lag. Im 1. Halbjahr 2012 wurde bei bisher 7,7 Verfahren je Richterarbeitskraft beim Landgericht Bielefeld der Bezirksdurchschnitt des Jahres 2011 auch weiterhin unterschritten. 5. Inwieweit liegt am Landgericht Bielefeld ein personeller Engpass im strafrichterli- chen Bereich vor, der geeignet ist, die Entscheidung des Präsidiums zu beeinflussen , trotz Überlastungsanzeige der Vorsitzenden der 10. Strafkammer keine Entlastung der Kammer – etwas durch Einrichtung einer Hilfsstrafkammer zur vorübergehenden Entlastung – zu ermöglichen (bitte unter Angabe der Personalstärke für die Jahre 2012, 2011, 2010)? Im Bereich der erstinstanzlichen Strafsachen wurden beim Landgericht Bielefeld im Jahr 2010 13,55, im Jahr 2011 14,15 und im 1. Halbjahr 2012 14,5 Richterarbeitskräfte eingesetzt . Im strafrichterlichen Bereich lag und liegt damit kein personeller Engpass vor. Der punktuellen Sonderbelastung der 10. Strafkammer durch nahe beieinander liegender Haftprüfungstermine hat das Präsidium des Landgerichts Bielefeld, das über die konkrete richterliche Personalverteilung vor Ort allein aufgrund sachlicher Kriterien entscheidet, durch entsprechende Unterstützungsmaßnahmen Rechnung getragen.