LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/4714 02.01.2014 Datum des Originals: 30.12.2013/Ausgegeben: 08.01.2014 (07.01.2014) Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Neudruck Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1780 vom 22. November 2013 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/4487 Das Land Nordrhein-Westfalen als begünstigter gesetzlicher Erbe – Welche Bedeutung hat die Entwicklung der Fallzahlen und des Volumens sogenannter Staatserbschaften mittlerweile für den nordrhein-westfälischen Landeshaushalt? Der Finanzminister hat die Kleine Anfrage 1780 mit Schreiben vom 30. Dezember 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister und dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Immer mehr Menschen sterben in unserem Land, ohne Nachkommen zu hinterlassen – auch dies ist eine Auswirkung des demographischen Wandels. Damit einher geht ebenfalls eine steigende Zahl von Erbfällen, in denen die Nachlassgerichte trotz ihrer teilweise langjährigen Recherchen keinerlei Angehörige ausfindig machen können. In diesen Fällen kommt das Staatserbrecht zur Anwendung. Außerdem dann, wenn alle in Betracht kommenden Erben die Erbschaft – beispielsweise aufgrund von Überschuldung – ausschlagen, sowie in den Fällen, in denen der Staat testamentarisch als Erbe eingesetzt wird. Letzteres ist jedoch meist zweckgebunden, wenn die Erbschaft beispielsweise einem staatlichen Museum oder einer Institution zufließen soll. Für derlei Sachverhalte werden ansonsten auch nicht selten Stiftungskonstruktionen gewählt. Das Staatserbrecht ist eine Regelung im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge. Es bezeichnet das gesetzliche Erbrecht des Fiskus, also des Staates, das immer dann besteht, wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes weder einen Verwandten noch einen Ehegatten oder Lebenspartner hinterlässt. Das Erbrecht des Fiskus ist gesetzlich im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1936 BGB) verankert. Man spricht in diesen Fällen auch von einer Staatserbschaft, Fiskuserbschaft oder Fiskalerbschaft. Das BGB verfolgt dabei den Grundsatz, dass zu jedem Erblasser auch Erben gehören, es also keine Nachlässe ohne Erben gibt. Da nicht für jeden LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/4714 2 Erbfall berechtigte Erben ermittelt werden können, muss das Gesetz einen Erben benennen, der in solchen Fällen "einspringt". Nach § 1936 BGB ist das Bundesland der Bundesrepublik Deutschland, in dem der jeweilige Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes den letzten Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zum Erben berufen. Die Länder können nach Art. 138 EGBGB eine andere Stelle zum gesetzlichen Erben bestimmen. Ist ein letzter Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar, erbt nach § 1936 Satz 2 BGB der Bund. Das Staatserbrecht kommt nur dann zur Anwendung, wenn der Verstorbene Deutscher war. Ausländische Erblasser werden nach dem Erbrecht ihres Heimatstaates beerbt. Da es sich bei dem Staatserbrecht um ein privates gesetzliches Erbrecht handelt, gehen ihm Regelungen vor, die der Erblasser testamentarisch getroffen hat. Der Staat als gesetzlicher Erbe kann eine Erbschaft nicht ausschlagen, auch dies regelt das BGB (§ 1942 Abs. 2). Wie jedem Erbe bleibt ihm aber die Möglichkeit, seine Haftung für die Verbindlichkeiten des Erblassers so zu beschränken, dass er nur mit dem Vermögen des Erblassers haftet, wenn ein solches vorhanden ist. Konkret läuft eine Staatserbschaft wie folgt ab: Kommt es zum Tod eines Erblassers ohne persönliche Erben, haben die Nachlassgerichte die Pflicht, die möglichen Erben zu ermitteln. Außerdem nimmt das Nachlassgericht den Nachlass in seine Obhut und verwaltet ihn bis auf weiteres. Häufig betraut das Gericht dann auch einen sogenannten Nachlasspfleger, der als Vertreter der unbekannten Erben fungiert und neben der eigentlichen Erbermittlung dafür Sorge trägt, dass der Nachlass seinen Wert erhält. Wenn sich Erben innerhalb einer den Umständen nach angemessenen Zeit nicht ermitteln lassen beziehungsweise das Nachlassgericht die Erbenermittlung einstellt, hat das Nachlassgericht das Erbrecht des Fiskus durch einen förmlichen Beschluss festzustellen. Mit Verkündung des Beschlusses ist das im Beschluss benannte Bundesland berechtigt, über den Nachlass zu verfügen. Vor Verkündung des Beschlusses kann der Staat Rechte aus der Erbschaft nicht geltend machen, auf der anderen Seite aber auch nicht für Verbindlichkeiten in Anspruch genommen werden. Derartige Erbfälle sind auch ein Phänomen des demographischen Wandels der Gesellschaft. Infolge der steigenden Lebenserwartung und von immer mehr Single-Haushalten kommt es häufiger vor, dass einzelne Personen alleine altern oder ihre früheren Familienmitglieder deutlich überleben. Ferner dürfte dieses Phänomen an Relevanz gewinnen, da immer mehr Personen versterben, die in den letzten Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs teils hohe Vermögenswerte bilden konnten. Andererseits stehen den Erbschaften Aufwendungen gegenüber, beispielsweise Versteigerungskosten oder Aufwendungen für Entrümpelung von Wohnungen, Renovierungen bei Grundvermögen, Anzeigen oder Personalkosten, die das Land zu tragen hat. Für den Fiskus sind daher die Nettoeinnahmen aus Erbschaften von Relevanz. Andere Bundesländer geben an, durch diese Erbschaften ergäben sich jedes Jahr Millioneneinnahmen für den dortigen Landeshaushalt. Auch regional beschäftigt die Fiskalerbschaft die Menschen: Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung hat am 18. April 2013 für die Stadt Castrop-Rauxel beschrieben, was passiert, „wenn der letzte Wille stumm bleibt“. Aus diesem Artikel geht beispielsweise hervor, dass offenbar alleine „im Regierungsbezirk Arnsberg im vergangenen Jahr 1,2 Millionen Euro ohne Erben geblieben“ sind, und die Bezirksregierung Köln einmal gleich eine ganze Karibikinsel geerbt habe. Es ist daher anzunehmen, dass auch in Nordrhein-Westfalen immer häufiger das Land zum gesetzlichen Erbe wird. Für das Parlament ist es von hohem Interesse zu erfahren, welche Auswirkungen derartige Erbschaften mittlerweile auf den Landeshaushalt haben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/4714 3 Vorbemerkung der Landesregierung Das Erbrecht des Fiskus dient in erster Linie dem Ziel, dass es keinen Nachlass ohne Erben geben soll. Neben der testamentarischen Erbeinsetzung des Landes gewinnt die Fiskuserbschaft aufgrund der Ablehnung von Erbschaften durch alle gesetzlichen Erben zunehmend an Bedeutung. Gerade bei letzteren Erbfällen besteht oft die Gefahr, dass der Nachlass insgesamt überschuldet ist. Nachlassgegenstände, insbesondere Grundstücke, sind oft schwierig oder gar nicht zu verwerten. Zunehmend fallen auch kontaminierte Flächen in Fiskalerbschaften und sind – soweit Mittel im Nachlass vorhanden sind – vor einer Verwertung zunächst aufzubereiten, zumindest jedoch im Rahmen der Verkehrssicherungspflichten gegebenenfalls im Wege der Ersatzvornahme so zu gestalten, dass Dritte nicht gefährdet werden . Aktuell ist ein Trend zu beobachten, dass die Aufwendungen für langfristig nicht verwertbare Immobilien ansteigen. Bei den Auswirkungen der fiskalischen Erbschaften für den Landeshaushalt ist zudem zu beachten, dass neben den Einnahmen und Ausgaben (siehe Antwort zu Frage 2) zusätzlich noch die Ausgaben – in der Hauptsache Personalausgaben – zu berücksichtigen sind, die durch die Arbeit der Gerichte und Bezirksregierungen (in Nordrhein-Westfalen zuständig für die Abwicklung des Nachlasses) entstehen. Insgesamt dürften damit die Überschüsse für den Landeshaushalt eher gering ausfallen. 1. Wie viele Fälle von Staatserbschaften, bitte differenziert nach ihrem Entste- hungsgrund (wie Staat als testamentarischer Erbe, keine Auffindbarkeit von Erben , Ausschlagung von Erbschaften etc.) hat es im Land Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren jeweils jährlich gegeben, die einerseits zu Einnahmen oder andererseits zu Aufwendungen für das Land geführt haben? Die für die Fiskalerbschaften zuständigen Bezirksregierungen führen hinsichtlich der Entstehungsgründe für fiskalische Erbschaften lediglich eine Statistik zur Differenzierung zwischen letztwilligen Verfügungen oder gesetzlichem Erbrecht. Informationen zur weiteren Differenzierung erhalten die Bezirksregierungen auch nicht zwingend von den Nachlassgerichten, so dass vollständige Statistiken hierzu nicht geführt werden können. Die statistisch erhobenen Zahlen ergeben sich aus der Tabelle in Anlage 1. In der Tendenz kann darüber hinaus festgehalten werden, dass die Zahl der Ablehnung von Erbschaften zunimmt. Gerade diese Fälle zeichnen sich durch eine hohe Bearbeitungsintensität bei eher geringen Einnahmen für den Fiskus aus. 2. Wie sehen im Land Nordrhein-Westfalen jeweils jährlich für den Zeitraum der letzten 10 Jahre betragsmäßig sowohl die Brutto- als auch die Nettoeinnahmen nach Abzug der damit korrespondierenden Kosten aus diesen Staatserbschaften aus? (falls verfügbar bitte unter Angabe der wichtigsten Kategorien für Aufwendungen des Landes infolge von Erbschaften) Einnahmen des Landes im Bereich der Fiskalerbschaften werden grundsätzlich im Einzelplan 20 bei Kapitel 20 610 Titel 119 10 und 133 10, Ausgaben bei Kapitel 20 610 Titelgruppe 60 abgewickelt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/4714 4 Eine über die Struktur der Ausgaben-Titelgruppe 60 bei Kapitel 20 610 hinausgehende Differenzierung der Aufwendungen ist nicht möglich, da die Bezirksregierungen darüber keine Aufzeichnungen führen. Die Ausgaben sind nach ihrem Entstehungsgrund nur schwierig zu differenzieren. Die Haushaltsstelle bei Kapitel 20 610 Titel 547 60 dient der Zusammenfassung von sächlichen Verwaltungsausgaben, die wegen der Unbestimmbarkeit der Einzelausgaben nicht anderweitig aufgeteilt werden können. Eine weitere Aufgliederung kann daher mit vertretbarem Aufwand nicht abgefragt und dargestellt werden. Die o.g. Einnahmen und Ausgaben bei Kapitel 20 610 sind in der als Anlage 2 beigefügten Tabelle dargestellt, eine detaillierte Darstellung der Ausgaben in der Titelgruppe 60 erfolgt in der Anlage 3. Die grundsätzliche Abwicklung von Fiskalerbschaften erfolgt im Kapitel 20 610. Wegen der Besonderheiten des Einzelfalls wird eine Fiskalerbschaft bei Kapitel 20 630 in Einnahmen und Ausgaben jeweils in der dortigen Titelgruppe 60 nachgewiesen: Den Einnahmen und Ausgaben für den Betrieb eines Kinderheims liegt ein Vermächtnis zugrunde, das mit der Auflage zum Betrieb dieses Heims verbunden war; die Zahlen für die Jahre 2003 bis 2012 ergeben sich aus der Anlage 4. 3. In welcher Weise und Umfang sind in diesem Zeitraum der letzten zehn Jahre nordrhein-westfälische Kommunen finanziell, rechtlich und faktisch (ggf. anteilig ) von öffentlichen Erbschaften betroffen gewesen? (wie zum Beispiel durch Entrümpelungskosten bei verstorbenen Alleinstehenden, Erstattungen des Landes an Kommunen etc.) Die Frage betrifft den Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. In der Kürze der Zeit und mit vertretbarem Aufwand können hierzu keine Daten zusammengestellt werden, zumal die Bezirksregierungen nur in Ausnahmefällen von derartigen Aufwendungen Kenntnis erlangen und eine Abfrage bei den Kommunen sehr zeit- und personalaufwändig wäre. Nachlassverbindlichkeiten bzw. Ausgaben, die dem Land NRW originär als Eigentümer von Nachlassgrundstücken anheimfallen, sind grundsätzlich aus dem Nachlass zu leisten, soweit dieser entsprechend werthaltig ist. 4. In welcher genauen Art und Weise läuft der Prozess der Vermögensverwaltung und -verwertung im Falle von Staatserbschaften zugunsten des Landes Nordrhein -Westfalen, bitte unter Angabe der Zuständigkeiten und bisherigen Ergebnisse , administrativ ab? Die Feststellung des Erbrechts des Staates wird durch das Nachlassgericht getroffen. Es begründet die Vermutung des Erbrechts und kann jederzeit auf Antrag des tatsächlichen (bis dahin unbekannten) Erben, der einen Erbschein erhält, aufgehoben werden. Für die Abwicklung des Nachlasses ist die Bezirksregierung zuständig, in deren Bereich der Erblasser zur Zeit des Todes seinen letzten Wohnsitz hatte. Die Aufgaben bei der Abwicklung eines Nachlasses bestehen in  Ermittlung und Verwertung des Nachlassvermögens,  Abwehr und Durchsetzung von Ansprüchen gegen und für den Nachlass,  Herbeiführung der Haftungsbeschränkung durch Einleitung des Insolvenzverfahrens,  Abwicklung von Nachlassschulden und Erbauseinandersetzungen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/4714 5 Die Haftung des Fiskus ist letztlich auf den vorhandenen Nachlass beschränkt, d. h. der "Staat" wickelt nur diesen ab, übernimmt also keine Schulden, die den Nachlass übersteigen. 5. In wie vielen Fällen ist es jeweils jährlich im Zeitraum der letzten zehn Jahre in unserem Land vorgekommen, dass sich wider Erwarten nach Annahme des Vorliegens einer Staatserbschaft dann später doch noch rechtmäßige Erben gemeldet haben und das Staatserbe infolge dessen, bitte unter Angabe der insgesamten Erstattungsansprüche, wieder ausgezahlt worden ist? Eine Zusammenstellung der in den letzten 10 Jahren erfolgten Erstattungen in Zahl und Volumen ergibt sich aus der Tabelle in Anlage 5.