LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/5221 11.03.2014 Datum des Originals: 11.03.2014/Ausgegeben: 14.03.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1889 vom 16. Januar 2014 der Abgeordneten Yvonne Gebauer und Ingola Schmitz FDP Drucksache 16/4792 Ist die verbindliche Anschaffung kostenintensiver graphikfähiger Taschenrechner wirklich notwendig? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 1889 mit Schreiben vom 11. März 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk, dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales und der Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Der Einsatz graphikfähiger Taschenrechner wird im Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe und für das berufliche Gymnasium ab dem 01.08.2014 verbindlich sein. Im entsprechenden Runderlass des Ministerium für Schule und Weiterbildung heißt es hierzu: „Der Gebrauch von graphikfähigen Taschenrechnern erlaubt nach fachdidaktischen Gesichtspunkten eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und eine schnelle Visualisierung von Graphen. Er ermöglicht damit einen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen. (…) Im Zentralabitur werden die Mathematikaufgaben erstmals im Jahr 2017 dieses Hilfsmittel voraussetzen.“ An der verbindlichen Einführung dieser graphikfähigen Taschenrechner durch die Eltern regt sich sowohl aus inhaltlichen als auch aus finanziellen Gründen Widerstand. In der Zeit der FDP-Regierungsbeteiligung war zum Beispiel der Eigenanteil bei Lernmitteln für Eltern von der zuvor unter Rot-Grün erfolgten befristeten Anhebung auf 49 wieder auf 33 Prozent abgesenkt worden, um Familien zu entlasten. Weil es in den Bestimmungen zur Lernmittelfreiheit explizit heißt, dass „Schreib-, Zeichen- und Rechengeräte aller Art einschließlich technischer Hilfsmittel nicht als Lernmittel gelten“, werden die Familien die Kosten für die rund 100 Euro teuren Rechner generell selber tragen müssen. Für viele Eltern bedeutet die verbindliche LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5221 2 Einführung der graphikfähigen Taschenrechner somit eine erhebliche finanzielle Herausforderung , die vielfach beklagt wird. Das Ministerium für Schule und Weiterbildung hat laut Presse auf unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten hingewiesen, um soziale Härtefälle zu vermeiden. So sollen die Schulen demnach „tragfähige Finanzierungsmodelle“ aufstellen, Fördervereine angesprochen werden ; auch wird auf das „Bildungs- und Teilhabepaket“ oder „Sozialprogramme“ der Hersteller / Vertreiber verwiesen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob von diesen Programmen wirklich alle Schülerinnen und Schüler erfasst werden und ob die Investition grundsätzlich überhaupt sinnvoll ist. Der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Philologenverbands stellt die Nutzung der graphikfähigen Rechner aus pädagogischen Gründen infrage. Laut Presseberichten hinterfragt er, welcher Mehrwert für die Schülerinnen und Schüler „dabei herum komme, wenn Schüler in vielen Bereichen die Lösungen präsentiert“ bekämen, ohne den Weg zum Ergebnis zu erfahren. Gerade in Mathematik sei das „Verständnis der „Knackpunkt“. Auch die Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft kritisiert die verpflichtende Anschaffung der Rechner. Hochschulen würden den Einsatz von Graphikrechnern ablehnen, es handele sich somit um eine Technologie, die demnach „schon längst überholt“ sei. Schulministerin Löhrmann verweist bezüglich der verbindlichen Einführung auf eine „Empfehlung “ der Kultusministerkonferenz. Die Presse vermeldet jedoch, dass gleichwohl das grün-rot regierte Baden-Württemberg die Verbindlichkeit der Graphik-Rechner wieder abschaffen will. Es wäre daher interessant zu erfahren, wie Ministerin Löhrmann die entsprechenden Einschätzungen der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg vor dem Hintergrund der in NRW geäußerten Kritik bewertet. Vorbemerkung der Landesregierung Hintergrund der Kleinen Anfrage 1889 ist der Erlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung zum „Gebrauch von graphikfähigen Taschenrechnern im Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe und des Beruflichen Gymnasiums“ vom 27.06.2012. Die Nutzung graphikfähiger Taschenrechner (GTR) wird ab dem 1. August 2014 für die gymnasiale Oberstufe und das Berufliche Gymnasium verbindlich. Der Erlass liegt in der fachdidaktischen Entwicklung des Faches Mathematik begründet. Durch eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und einer schnellen Visualisierung von Graphen wird ein kreativer Umgang mit mathematischen Fragestellungen ermöglicht. Die Anschaffung obliegt grundsätzlich den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen und Schülern, da Taschenrechner keine Lernmittel, sondern Gegenstände der persönlichen Ausstattung der Schülerinnen und Schüler sind. Die Thematik ist bereits am 12. Februar 2014 Gegenstand der Beratung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung gewesen, bei der ein Expertengespräch für den nachfolgenden Sitzungstermin des Ausschusses am 19. März 2014 beschlossen wurde. 1. Was genau ist unter den von den Schulen geforderten „tragfähigen Finanzie- rungsmodellen“ zu verstehen, die soziale Härtefälle vermeiden sollen? Im Anschluss an den Erlass zur verpflichtenden Nutzung von graphikfähigen Taschenrechnern im Mathematikunterricht wurden von den Schulaufsichten der einzelnen Bezirksregie- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5221 3 rungen flächendeckend Informationsveranstaltungen für die betroffenen Schulen durchgeführt . Unter anderem wurden hier praxiserprobte Finanzierungsmöglichkeiten unter dem Aspekt der Sozialverträglichkeit vorgestellt, die zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer passgenauen Lösung für die Einzelschule vor Ort dienen können. Verschiedene Bausteine bieten sich bei der Entwicklung eines Finanzierungsmodells an. Hierzu gehören beispielsweise die Einrichtung einer Börse für gebrauchte GTR (Weiterverkauf der GTR von Abiturientinnen und Abiturienten), die Bereitstellung zusätzlicher Geräte zur Ausleihe für finanziell bedürftige Schülerinnen und Schüler oder die Vermietung von Geräten zu vergünstigten Konditionen für finanziell bedürftige Schülerinnen und Schüler. Bei der Entwicklung eines möglichst passgenauen Konzeptes ist auch die Einbindung von Sozialprogrammen der Hersteller und/oder die Unterstützung durch den Förderverein zu prüfen. Schülerinnen und Schülern, die Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (insbesondere Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld), Sozialhilfe nach dem SGB XII, Wohngeld oder Kinderzuschlag haben, stehen über das Bildungs- und Teilhabepaket bis zu 100 Euro pro Schuljahr (persönlicher Schulbedarf) zur Verfügung. Dieser Betrag kann auch für die Finanzierung eines GTR verwendet werden, der in der Regel zwischen 70 und 90 Euro kostet. Da im Anschaffungsjahr die Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zur Vollfinanzierung des Rechners nicht auskömmlich sein werden, sind insbesondere Mischfinanzierungsmodelle sinnvoll. 2. Was genau ist unter den „Sozialprogrammen“ von Herstellern/ Vertreibern zu verstehen, die laut Ministerium einen Beitrag zur Finanzierung an den Schulen leisten können? Unter Sozialprogrammen sind die von den Herstellern/Vertreibern angebotenen Programme für Freigeräte zu verstehen. Diese sind von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich gestaltet. Beispielsweise bieten Casio, HP oder Sharp Freirechner bei Sammelbestellungen in Abhängigkeit von der bestellten Menge an. Diese sollen finanziell bedürftigen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt werden. Für den Fall, dass mehr Schülerinnen und Schüler finanziell hilfebedürftig sind als Freiexemplare zur Verfügung stehen, sollten Mischfinanzierungsmodelle vorgehalten werden. Es gibt aber auch von der Bestellmenge unabhängige Varianten. So bietet Texas Instruments mit dem Förderprogramm „Matheklasse“ Freirechner an, die nach Prüfung der Berechtigung bestimmter sozialer Kriterien bei einer Koordinationsstelle gewährt werden. 3. Aus welchen inhaltlich-didaktischen Gründen teilt die rot-grüne Landesregierung die Sorge des Vorsitzenden des Philologenverbands (nicht), dass Schülerinnen und Schülern die Lösungen präsentiert würden, ohne den Weg zum Ergebnis zu erfahren? Parallel zum oben genannten Erlass tritt im Fach Mathematik der neue Kernlehrplan für die gymnasiale Oberstufe in Kraft. Der Taschenrechner kann durch geeigneten Einsatz die mathematischen Prozesse in den Kompetenzbereichen „Modellieren“, „Problemlösen“ und „Argumentieren “ sinnvoll unterstützen. Eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und eine schnelle Visualisierung von Graphen ermöglichen den kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5221 4 und eine Fokussierung auf Lösungswege. Der Einsatz von grafikfähigen Taschenrechnern ermöglicht die Behandlung realitätsnaher Aufgaben in schülerorientierten Anwendungssituationen , die auch dann eine Modellierung ermöglichen, wenn nicht ausschließlich „glatte Zahlen “ gegeben sind. Prüfungen sind so zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenzen nachweisen können. Die Bedienung des Taschenrechners steht dabei nicht im Vordergrund, er wird als Hilfsmittel verwendet. In den zentralen Klausuren am Ende der Einführungsphase und im Abitur wird es ohne Hilfsmittel zu lösende Aufgaben geben, deren Bearbeitung auch im Unterricht geübt worden sein muss. Dabei werden auch durchgängig grundlegende Rechentechniken und Algorithmen bei der Lösungsfindung ohne Taschenrechner einbezogen. Im November 2010 hat der Philologenverband Nordrhein-Westfalen in seiner Mitgliederzeitschrift in einem Leitartikel übrigens ein positives Fazit bezüglich der Nutzung neuer Technologien (hier CAS-Taschenrechner) im Mathematikunterricht gezogen: „… doch die genannten Vorteile und die Überzeugung vieler Kollegen, mit dem CAS-Einsatz die geforderten Ziele und Kompetenzen des Lehrplans zu fördern, überwiegen und stellen den Einsatz keinesfalls in Frage.“ (Bildung aktuell, 11/2010, S.7). 4. Ist es zutreffend, dass an Hochschulen der Einsatz der nun verpflichtend anzu- schaffenden graphischen Taschenrechner in Klausuren abgelehnt wird? Dazu liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse vor. Eine flächendeckende Abfrage zu den entsprechenden Prüfungsbestimmungen oder der entsprechenden Prüfungspraxis für die einschlägigen Studiengänge aller nordrhein-westfälischen Hochschulen kann in der für die Beantwortung Kleiner Anfragen eröffneten Frist nicht geleistet werden. 5. Wie bewertet die Landesregierung inhaltlich die diesbezüglichen Einschätzun- gen der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg, die laut Presseberichten die nun in NRW verbindliche Pflicht zur Nutzung dieser Graphikrechner abschaffen will? Eine Bewertung von Presseberichten über Einschätzungen und Vorhaben anderer Landesregierungen ist nicht angezeigt. Der Landesregierung ist allerdings bekannt, dass es in Baden -Württemberg auch Kritik an der Entscheidung der dortigen Landesregierung gibt. Auf Ebene der Kultusministerkonferenz haben sich alle Bundesländer mit den Bildungsstandards im Fach Mathematik für die Allgemeine Hochschulreife darauf verständigt, dass „die Entwicklung mathematischer Kompetenzen […] durch den sinnvollen Einsatz digitaler Mathematikwerkzeuge unterstützt“ wird. „Einer durchgängigen Verwendung digitaler Mathematikwerkzeuge im Unterricht folgt dann auch deren Einsatz in der Prüfung.“ (Bildungsstandards im Fach Mathematik für die Allgemeine Hochschulreife [Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012], S.12f).