LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/5492 01.04.2014 Datum des Originals: 31.03.2014/Ausgegeben: 04.04.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2073 vom 25. Februar 2014 der Abgeordneten Ingola Schmitz FDP Drucksache 16/5166 Wie bewertet die Landesregierung die unlängst veröffentlichte Untersuchung „The Long-Term Effects of Early Track Choice“? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 2073 mit Schreiben vom 31. März 2014 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Im Januar 2014 ist die Untersuchung „The Long-Term Effects of Early Track Choice“ der Autoren Christian Dustmann, Patrick Puhani sowie Uta Schönberg (University College London sowie Leibniz Universität Hannover) im Rahmen des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) veröffentlicht worden. In der Untersuchung (IZA Discussion Paper No. 7897) kommen die Autoren zu dem Schluss, dass keine „Karrierenachteile“ bei einer frühen Schulformwahl bestehen. Grund hierfür sei die hohe Durchlässigkeit zwischen den Schulformen in der Bundesrepublik, die gegebenenfalls einen späteren Schulformwechsel ermögliche. Die Studie der Wirtschaftsprofessoren widerspricht nach Eigenauskunft „der verbreiteten Kritik, das mehrgliedrige deutsche Schulsystem verteile die Schüler zu früh auf unterschiedliche Schulformen und schränke auf diese Weise die Bildungschancen insbesondere von „Spätzündern “ ein“. Für die Untersuchung wurden demnach Zensus- und Sozialversicherungsdaten der Geburtsjahrgänge 1961-1976 analysiert. Der Schwerpunkt lag demnach auf Schülerinnen und Schülern , die sich „an der Schwelle“ zwischen Realschule und Gymnasium befanden. In der langfristigen Betrachtung ermittelten die Autoren bei diesen Schülergruppen keine signifikanten Unterschiede bei den durchschnittlich erreichten Abschlüssen, der Beschäftigungsquote und den Einkommen. Zurückzuführen sei dies laut Autoren auf eine im internationalen Vergleich hohe Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems, von deren Möglichkeiten des Wechsels der Schulformen auch vielfach Gebrauch gemacht werde. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5492 2 Eine Sorge, wonach durch den Besuch einer Schulform bereits eine langfristige Festlegung erfolge, sei aus Sicht der Autoren daher unbegründet. Einer der Autoren der Untersuchung, Wirtschaftsprofessor und Leiter des Instituts für Arbeitsökonomik an der Leibniz-Universität Hannover, Prof. Dr. Patrick Puhani, kommt daher zu dem Schluss: „Die Stärke des mehrgliedrigen Schulsystems ist, dass es die Anpassung der Lerninhalte an unterschiedliche Begabungen erlaubt. Statt am System zu rütteln, erscheint es sinnvoller, die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen noch weiter zu steigern und den Aufstieg zu erleichtern“. Interessant sind die von den Autoren geschilderten Ergebnisse insbesondere unter dem Aspekt langfristiger Entwicklungen. Hierzu hatte es auch eine Untersuchung von Prof. Helmut Fend gegeben, die ebenfalls langfristige soziale Entwicklungen auf der Basis von Schulformeinflüssen zum Thema hatte (Life-Studie). 1. Wie hat sich in den vergangenen Jahren das Verhältnis zwischen „Schulformab- steigern“ und „Schulformaufsteigern“ in der Sekundarstufe I in NordrheinWestfalen entwickelt (bitte jeweils für die Stichpunktjahre 2000, 2010 und 2012 ausweisen)? Das Verhältnis von Schulformwechselnden, die zu einer niedriger qualifizierenden Schulform gewechselt haben („Schulabsteiger/-innen“), zu Schulformwechselnden, die zu einer höher qualifizierenden Schulform gewechselt haben („Schulaufsteiger/-innen“), lag im Schuljahr 2012/13 bei 6,8 „Schulabsteigern/-innen“ zu 1 „Schulaufsteiger/-in“. Im Schuljahr 2010/11 lag dieses Verhältnis bei 5,6 und im Schuljahr 2000/01 bei 18,4. Der Anteil der Schulformwechselnden, die aus einer Haupt-, Real- und Gesamtschule sowie aus dem Gymnasium innerhalb der Sekundarstufe I die Schulform gewechselt haben, ist vom Schuljahr 2000/01 bis zum Schuljahr 2012/13 von 2,12 % auf 1,48 % gesunken. Hinweis: Der Berechnung der Verhältniszahlen liegen Schülerinnen- und Schülerzahlen der jeweiligen Amtlichen Schuldaten der Volks-, Haupt- und Realschulen sowie der Gymnasien zugrunde. 2. Wie bewertet die Landesregierung inhaltlich die Ergebnisse der Untersuchung „The Long-Term Effects of Early Track Choice“? Die Studie kommt u.a. auf der Basis von Schuldaten aus Bayern und Hessen aus den Jahren 2002 bis 2009 – neben der Feststellung, dass der Geburtsmonat von Schülerinnen und Schülern keinen langfristigen Einfluss auf Abschlusshöhe, Einkommen und Arbeitslosigkeit besitzt – zu folgendem Kernergebnis: “Overall, our findings underscore that flexibilities built into a tracking system, which allow students to revise initial track choices at a later stage, effectively remedy even a prolonged exposure to a less advanced school environment.” [Übersetzung: Insgesamt unterstreichen unsere Erkenntnisse, dass Flexibilitäten, die in ein gegliedertes System eingebaut sind und die es Schülern erlauben, zu späteren Zeitpunkten zunächst getroffene Schullaufbahnentscheidungen zu korrigieren, auch das längere Ausgesetztsein in weniger anregenden Lernumgebungen heilen können.] Die Landesregierung teilt die Einschätzung, dass es notwendig ist, das Schulsystem so flexibel zu gestalten, dass es Schülerinnen und Schülern den Weg zu höheren Schulabschlüssen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5492 3 möglichst lange offen hält und positive nachschulische Entwicklungsmöglichkeiten möglichst präfiguriert. 3. Wie bewertet die Landesregierung die LIFE-Studie (bitte anhand des Untersu- chungsgegenstandes eine Einschätzung der Ergebnisse der Studie vornehmen sowie mögliche Rückschlüsse der Landesregierung aus diesen Ergebnissen skizzieren)? Die Studie zeigt u.a. auf der Grundlage von Erhebungsdaten aus Frankfurt/M. und zwei ländlich geprägten hessischen Regionen aus den Jahren 1979 bis 2007, dass die familiäre Herkunft über den gesamten Lebenslauf hinweg sehr prägend für den Berufserfolg ist. Der Autor der Studie, Prof. Fend, stellt dazu in der Rückschau u.a. fest: „Was kann die Schule tun, um die soziale Selektivität zu verringern? Sind veränderte Bildungssysteme wie Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen unwirksam? Die Antwort auf dem Hintergrund der obigen Ergebnisse: Solange sie die Kinder »bei sich« hat, kann sie sehr viel machen. An den Stellen, an denen Entscheidungen mit Risikocharakter getroffen werden müssen, kommen die Ressourcen der Familie zum Tragen. Die Erhöhung der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit, die Stärkung der Integration in einem Gemeinwesen sind wichtige sozialpolitische Ziele. Dazu die Möglichkeiten des Bildungswesens auszuschöpfen ist jede Anstrengung wert. Das notwendige Instrumentarium muss aber umfassender sein, als lediglich die Bildungsgänge in der Sekundarstufe I zu integrieren. Eine gezielte Frühförderung und Unterstützung, etwa durch Ganztagsschulen, könnten sich als bedeutsam erweisen.“ Die Landesregierung fühlt sich durch die Ergebnisse von Prof. Fend in ihren Initiativen zur Ausweitung längeren gemeinsamen Lernens sowie zum Ganztag bestätigt. 4. Wie bewertet die Landesregierung die Ergebnisse der beiden genannten Unter- suchungen im Vergleich? Die Studien zeigen, dass die soziale Herkunft auch ungeachtet der Schulstrukturen langfristige Bildungserträge stark beeinflusst und das Schulsystem zwar einen Beitrag zur Reduzierung sozialer Ungleichheit leisten kann, dieser jedoch durchaus begrenzt ist. Die Studien machen allerdings auch deutlich, dass integrierende Bildungsgänge oder aber eine hohe Durchlässigkeit in einem gegliederten Schulsystem – und zwar im Sinne eines Aufstiegs in höher qualifizierende Schulformen – Voraussetzungen dafür sind, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler ihre Potenziale voll ausschöpfen können. Die in der Antwort zu Frage 1 dargestellten Daten zeigen, dass sowohl im Hinblick auf die Durchlässigkeit (Gesamtanteil an Schulformwechselnden) als auch im Hinblick auf den geringen Schulformaufsteigeranteil (Verhältnis Schulauf- zu Schulabsteigern) für das gegliederte Schulsystem noch Herausforderungen zu bewältigen sind. Um insgesamt Schülerinnen und Schülern die volle Entfaltung ihrer Potenziale zu ermöglichen , ist die Landesregierung seit 2010 bestrebt, die schulrechtlichen Rahmenbedingungen so zu reformieren, dass Lernende möglichst unter Verbleib an ihrer Schule höchstmögliche Abschlüsse erreichen können, ohne durch vermeidbare Schulwechsel belastet zu werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5492 4 5. Welche Maßnahmen will die Landesregierung ergreifen, um die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen weiter zu steigern und somit Aufstiegsmöglichkeiten zu erhöhen? Ziel der Landesregierung ist es, Bildungsbiographien ohne Brüche zu ermöglichen, Schülerinnen und Schülern Zugang zu den höchstmöglichen Abschlüssen zu verschaffen und den Bildungserfolg so weit wie möglich von der sozialen Herkunft abzukoppeln. Hierzu tragen u.a. Schulen längeren gemeinsamen Lernens, der Ausbau von Ganztagsangeboten sowie die Stärkung der individuellen Förderung bei. Die Landesregierung wird den weiteren Ausbau dieser Schulformen und Angebote unterstützen.