LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/5900 19.05.2014 Datum des Originals: 16.05.2014/Ausgegeben: 22.05.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2199 vom 10. April 2014 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/5576 Führt die rot-grüne Umsetzung der schulischen Inklusion zu einem Rückschritt und einer massiven Einschränkung des Elternwillens? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 2199 mit Schreiben vom 16. Mai 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Familie , Kinder, Jugend, Kultur und Sport beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In der Vergangenheit sind Kinder und Jugendliche im Zuge der sonderpädagogischen Integration – also im Unterschied zur nun neuen Form der Inklusion – etwa aus dem Bereich der Sinnesschädigungen vielfach bereits an allgemeinen Schulen unterrichtet worden. So haben zum Beispiel Kinder und Jugendliche mit Sinnesschädigungen, bei denen ein solcher sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde, sie jedoch kognitiv problemlos dem Unterricht folgen konnten, Gymnasien besucht und wurden dort unterrichtet und erzogen. Als eines der großen Probleme des qualitätslosen und überhasteten rot-grünen Vorgehens bei der Inklusion zeichnet sich nun ab, dass weiterführende Schulen, die eine solche Förderung in den vergangenen Jahren umgesetzt haben, aus dieser bisherigen, erfolgreichen Förderung aussteigen (müssen) und Eltern zwangsweise an bestimmte Schulen zugewiesen werden . Dies insbesondere, weil Rot-Grün keine Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Förderschwerpunkte vornimmt und SPD und Grüne eine undifferenzierte Bündelung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an bestimmten Schulstandorten erzwingen. Bei diesem Vorgehen spielen offensichtlich weder die Qualität der Förderung noch Elternwünsche eine Rolle. Selbstverständlich besteht auch für Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf kein Recht auf den Besuch eines speziellen Schulstandorts. Dennoch wirkt das LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5900 2 Vorgehen der der Ministerin für Schule und Weiterbildung nachgeordneten Schulbehörden geradezu wie ein Rückschritt bei der Umsetzung der Inklusion. So sind inzwischen Fälle im Zuge des diesjährigen Anmeldeverfahrens zur weiterführenden Schule bekannt, in denen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich „Hören und Kommunikation“ und einer Gymnasialempfehlung der Besuch des gewünschten Gymnasiums mit der Begründung verweigert wird, dass die Schule nicht als „Schule des gemeinsamen Lernens“ bestimmt sei. Mit dieser Begründung musste die Schule, die das Kind auch gerne aufgenommen hätte, die Aufnahme ablehnen. Das Kind, das über keine kognitiven Einschränkungen verfügt, soll nun aufgrund eines festgestellten Bedarfs im Bereich „Hören und Kommunikation “, der jedoch dennoch den Besuch des gewünschten Gymnasiums ermöglicht hätte, zwangsweise an ein anderes, weit entferntes Gymnasium geschickt werden. Dies Gymnasium sei als „Schule des gemeinsamen Lernens“ bestimmt. Das Kind wird hierdurch aus dem sozialen Umfeld herausgerissen, weil Rot-Grün im Zuge einer undifferenzierten Bündelungspolitik letztlich selbst erfolgreiche Einzelintegration zu unterbinden wollen scheint. Im genannten Fall ist bereits Klage gegen den Ablehnungsbescheid eingereicht worden. Der Bescheid enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Aus dem ganzen Land erreichen den Landtag inzwischen vielfältige Rückmeldungen, wonach Eltern aus Angst vor einer solchen „Zwangszuweisung“ sogar auf eine „offizielle“ Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs verzichten. Auch bestehen demnach Fälle, wo Eltern aus einer solchen Angst heraus die Aufhebung des bereits beantragten Verfahrens beantragt haben. Die direkte Folge rot-grüner Inklusionspolitik ist damit letztlich der Verlust sonderpädagogischer Förderung für Kinder mit Behinderungen – obwohl die Kinder diese benötigen würden und sie ihnen zustände. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich bereits jetzt die vielfältigen Warnungen der Fachverbände und der Opposition bewahrheiten und Grüne und Sozialdemokraten die Inklusion auf vielen Ebenen als Sparmodell umsetzen. Als ebenso problematisch zeichnet sich vielfach das Vorgehen der Schulverwaltung an „Schulen des gemeinsamen Lernens“ ab. Vollkommen undifferenziert werden offensichtlich aufgrund mangelnder Ressourcen „Inklusionsklassen“ an solchen allgemeinen Schulen gebildet . Hier werden alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammengefasst, unabhängig vom jeweiligen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt und den individuellen Bedürfnissen. Dass zum Beispiel Kinder mit körperlichem und motorischem Förderbedarf über andere individuellen Bedürfnisse verfügen (können) als Kinder mit Sinnesschädigungen und deren Bedarfen und sich wiederum von den Bedürfnissen von Kindern mit Emotionalem und sozialem Förderbedarf unterscheiden, scheint bei der rot-grünen Form der Umsetzung der Inklusion vollkommen irrelevant. Letztlich entwickelt sich die rot-grüne Inklusion somit zu einem Prozess, der durch überhastetes Vorgehen und Fehlsteuerung die individuellen Bedürfnisse von Kindern ignoriert, sie um die benötigte Unterstützung bringt und Eltern gegen ihren Willen an bestimmte Schulen zwingt. Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung hat bereits zu Beginn der Überlegungen auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem deutlich gemacht, dass Inklusion unteilbar ist und somit alle Förderschwerpunkte und prinzipiell alle Schulformen, nicht jedoch alle Schulstandorte einbezogen sind. Durch das 9. Schulrechtsänderungsgesetz werden Gestaltungsspielräume eröffnet. Das bedeutet konkret, dass - sofern ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung festgestellt wurde - die Schulaufsicht den Eltern mit Zustimmung des Schulträgers mindestens eine allgemeine Schule vorschlägt, an der ein Angebot zum Gemeinsamen Lernen eingerichtet ist; LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5900 3 bei zielgleicher Förderung ist grundsätzlich der Schulformwunsch der Eltern zu berücksichtigen . Das kann auch eine andere als die von den Eltern gewünschte allgemeine Schule sein, vor allem dann, wenn in der Region die Angebote des Gemeinsamen Lernens noch nicht an allen allgemeinen Schulen eingerichtet sind. Die Landesregierung trifft keine Entscheidung über die Verteilung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Schulformen oder einzelne Schulstandorte . Bereits seit den 1980er Jahren konnten in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der vorhandenen sächlichen und personellen Möglichkeiten Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen im Gemeinsamen Unterricht zusammen lernen. Die langjährigen Erfahrungen der Schulaufsicht und aus der pädagogischen Arbeit in den Schulen sind in den aktuellen Entwicklungsprozess eingeflossen. Von der hier angeführten „undifferenzierten Bündelungspolitik “ oder einer „überhasteten Vorgehensweise“ kann daher nicht die Rede sein. Zu diesem durch das Erste Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz) rechtlich weiter ausgestalteten Entwicklungsprozess auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem werden in den nächsten Jahren sukzessive weitere Leitlinien gemeinsam mit der Schulaufsicht entwickelt. 1. Warum unterscheidet die Landesregierung bei der Umsetzung der Inklusion nicht zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen , die sich aus den jeweiligen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten ergeben? Die Schulaufsicht legt mit Zustimmung des Schulträgers Orte sonderpädagogischer Förderung fest. Die Entscheidung trifft die Schulaufsicht mit Zustimmung des Schulträgers (Gemeinsames Lernen) bzw. der Schulträger mit Zustimmung der Schulaufsicht (Schwerpunktschule ) unter Berücksichtigung der konkreten räumlichen, sächlichen und personellen Situation vor Ort. Die Entscheidungsbefugnisse bleiben dabei auf den jeweiligen Zuständigkeitsbereich begrenzt, das heißt, der Schulträger entscheidet grundsätzlich nicht über schulfachliche , der Schulaufsicht zufallenden Fragestellungen. Über die Aufnahme entscheidet die Schulleitung unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben. Ziel ist es zu vermeiden, dass Eltern von Kindern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in die Situation geraten, sich selbst bei einer Vielzahl allgemeiner Schulen um die Aufnahme ihres Kindes bemühen zu müssen. Dies gewährleistet der neue §19 Absatz 5 Satz 3 Schulgesetz. Bei der Aufnahme in eine allgemeine Schule sind alle Kinder gleich zu behandeln, solange nicht in einem förmlichen Verfahren festgestellt worden ist, dass sie besonderer Unterstützung bedürfen. Kinder mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung haben Anspruch auf Aufnahme in die von der Schulaufsicht vorgeschlagene wohnortnächste Schule der gewünschten Schulart, an der Gemeinsames Lernen eingerichtet ist. Dies bedeutet, dass das Anmelde- und Aufnahmeverfahren in Abstimmung mit den Schulträgern so zu gestalten ist, dass Aufnahmeansprüche von Kindern mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung hinreichend berücksichtigt werden können. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5900 4 2. Warum werden unter Rot-Grün zum Beispiel Kinder mit Sinnesschädigungen, die kognitiv problemlos in der Form der Einzelintegration ein gewünschtes Gymnasium besuchen und dort auch sonderpädagogisch gefördert werden könnten, an andere Schulen gezwungen? Die Unterstellung in der Frage ist zurückzuweisen. Eine Einzelintegration wirft zwar grundsätzlich fachlich-pädagogische und organisatorische Fragestellungen auf, z. B. wie der Umfang der notwendigen sonderpädagogischen Unterstützung durch eine sonderpädagogische Lehrkraft gewährleistet werden kann. Sofern die Einzelintegration jedoch aus Sicht der Beteiligten „problemlos“ ist, wird sie in der Regel auch ermöglicht. 3. Warum wird von den nachgeordneten Behörden der Ministerin für Schule und Weiterbildung an „Schulen des gemeinsamen Lernens“ die Bildung von „Inklusionsklassen “ forciert (in der alle Kinder und Jugendlichen unterschiedlichster Förderschwerpunkte an der jeweiligen Schule zusammengefasst werden)? Die Landesregierung hat keine expliziten Vorgaben in Form von Rechtsvorschriften erlassen, nach denen die zuständige Schulaufsicht zur Bildung von sog. „Inklusionsklassen“ aufgefordert wird. Das Ziel der Landesregierung ist, Schulen, die als Profil „Gemeinsames Lernen“ anbieten, personell dauerhaft mit zusätzlichen Lehrkräften für Sonderpädagogik auszustatten. Das ist nur möglich, wenn an diesen Schulen regelmäßig mehrere Kinder mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung aufgenommen werden und nicht nur in Einzelfällen. Wie dann innerhalb der Schule die Klassenbildung erfolgt, bleibt nach dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz den Schulen überlassen – anders als bisher, wo beispielsweise für die Integrativen Lerngruppen Vorgaben galten. 4. Wie bewertet die Landesregierung, dass es inzwischen eine Vielzahl von Rück- meldungen gibt, wonach aus Angst vor den Folgen für die Schulwahl durch die rot-grüne Inklusionspolitik Eltern auf die Beantragung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs verzichten? Der Landesregierung liegen solche Rückmeldungen bisher nicht vor. Im Gegenteil berichtet die zuständige Schulaufsicht von einer steigenden Zahl von AO-SF Verfahren bei gleichzeitig insgesamt sinkenden Schülerzahlen. Dies wird belegt durch die Amtlichen Schuldaten, wonach seit Jahren ein deutlicher Anstieg der Förderquote festzustellen ist. 5. Warum erachtet es die Landesregierung als einen Erfolg ihrer Inklusionspolitik, wenn eine Vielzahl von allgemeinen Schulen, die in der Vergangenheit erfolgreich sonderpädagogische Einzelintegration durchgeführt haben, nun aus jedweder Form sonderpädagogischer Förderung „aussteigen“ (müssen)? Der Landesregierung liegen solche Rückmeldungen bisher nicht vor. Vielmehr ist insbesondere aus den Schulen in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik geäußert worden, dass eine Einzelintegration dazu führen kann, dass die sonderpädagogische Unterstützung nicht in ausreichendem Maß bereitgestellt werden kann. Es ist vor allem darauf hingewiesen worden, dass auch die pädagogische Einbindung in die Lerngruppe oder – insbesondere während der Pubertät - ein Peer-Group-Bezug zu Mitschülerinnen oder Mitschülern mit Behinderung kaum hergestellt werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5900 5 Wie in der Antwort auf die Frage 2 dargestellt, steht die Landesregierung einer „erfolgreichen Einzelintegration“ jedoch nicht im Wege.