LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/5938 23.05.2014 Datum des Originals: 22.05.2014/Ausgegeben: 28.05.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2249 vom 22. April 2014 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/5646 Gerechtigkeitslücke und Finanzierungsprobleme bei dem Sozialticket im Ruhrgebiet – Wie bewertet die Landesregierung die mangelnde Akzeptanz und selbst gerichtlich festgestellte Ungerechtigkeiten durch Privilegierung einzelner Nutzergruppen? Der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat die Kleine Anfrage 2249 mit Schreiben vom 22. Mai 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister, dem Justizminister, dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales und dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 19. Juli 2011 hat der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) leider mit den Stimmen von CDU und Grünen nach jahrelangem Ringen beschlossen, als Modellprojekt ein sogenanntes Sozialticket einzuführen. Ab 1. November 2011 konnten Bezieher von Hartz IV, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfen zum Lebensunterhalt, Leistungen für Asylbewerber, Hilfen vom Jugendamt für junge Erwachsene oder Wohngeld eine Monatskarte für 29,90 Euro erwerben, die in der Preisstufe A gültig war. Inzwischen ist das Modellprojekt ausgelaufen. Nach den nunmehr vorliegenden Zahlen der Inanspruchnahme ist das Vorhaben in puncto Nutzerakzeptanz offenkundig gescheitert. Schon seit der Einführung des Pilotprojektes gibt es große Defizite. Etliche Städte im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) haben sich gezielt zu einer Nichtbeteiligung entschieden. Nunmehr sprechen Hinweise auf eine nutzerseitig nur denkbar geringe Inanspruchnahme für das faktische Scheitern dieses Vorhabens. Trotz millionenschwerer Subventionen aus dem Landeshaushalt findet das Sozialticket bis heute keine Akzeptanz. Sachlich spricht wenig dafür, das Sozialticket weiter als Regelangebot im gesamten VRR-Gebiet zu vertreiben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5938 2 Unter dem gezielt diskriminierungsfrei gewählten Namen „Mein Ticket“ wird das sogenannte Sozialticket derzeit immer noch trotz höchst mäßiger Nachfrage und hoher Kosten für die öffentliche Hand seit dem 1. Januar 2013 als Regelangebot im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr angeboten. Es gilt für das jeweilige Kreisgebiet bzw. in größeren Städten für das Stadtgebiet und kostet unverändert 29,90 Euro. Für räumlich darüber hinausgehende Fahrten innerhalb des VRR muss ein Zusatzticket für drei Euro gelöst werden. Nach letzten bekannten Angaben sind rund 1,14 Millionen Menschen persönlich berechtigt, dieses Ticket zu erwerben. Die rot/grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen hat sich auf eine Förderung von jährlich 30 Millionen Euro landesweit für Sozialtickets festgelegt, mit denen die daraus resultierenden Defizite der Verbundstädte teilweise abgedeckt werden sollen. Aber nicht nur die Kostenbelastung für ein Sozialticket ist von Belang, auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist zu bewerten. Das sogenannte Sozialticket für wenige Begünstigte ist eine Belastung für viele, die dann die enormen Kosten dafür tragen müssen – über weiter anwachsende öffentliche Schuldenberge oder über Fahrpreiserhöhungen. Wer weitere Einnahmeausfälle der ohnehin hoch subventionierten Fahrpreise im ÖPNV durch immer wieder neue Tariferhöhungen zu Lasten anderer Nutzergruppen oder einer explodierenden Rekordverschuldung der öffentlichen Haushalte kompensieren will, zeigt wenig Verantwortungsbewusstsein für die dauerhafte Finanzierbarkeit des Nahverkehrs. Bereits heute müssen etliche Ruhrgebietskommunen jedes Jahr gigantische Millionenbeträge aufwenden, um die Rekordverschuldung ihrer Nahverkehrsbetriebe auszugleichen. Im vergangenen Sommer ist die Gerechtigkeitslücke beim VRR-Sozialticket durch das Dortmunder Sozialgericht dann auch verständlicherweise bemängelt worden, wie die dpa bereits am 30. Juli 2013 gemeldet hat. Nachdem einem Dortmunder Rentner das Sozialticket verweigert worden war, obwohl seine Rente von 560 Euro nicht über dem Sozialhilfesatz liegt, hat dieser das Vorgehen für ungerecht gehalten und seinerseits ein Eilverfahren beim Sozialgericht beantragt. Das Gericht lehnte diesen Antrag zwar formell mit Verweis auf die Beförderungsbedingungen des VRR ab, die den Kreis der Berechtigten tatbestandsmäßig auf Bezieher von Grundsicherungsleistungen beschränkt. Das Gericht hat aber zugleich deutlich kritisiert, dass das sogenannte Sozialticket im Ruhrgebiet seinem eigentlichen Ziel tatsächlich nicht gerecht werde. Auch zahlreiche Geringverdiener fühlen sich durch diverse Steuer- und Abgabenerhöhungen gegenüber Sozialleistungsbeziehern verständlicherweise zunehmend benachteiligt. Für das Landesparlament ist es daher von großem Interesse, rund 15 Monate nach Einführung des Sozialtickets „Mein Ticket“ im Ruhrgebiet als neuem ÖPNV-Regelangebot umfassende Informationen zu erhalten. Vorbemerkung der Landesregierung Im Angebot von Sozialtickets sieht die Landesregierung einen wesentlichen Beitrag zur Teilhabe aller Bevölkerungsschichten an einem durch Mobilität bestimmten Leben. Frau Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat in ihrer Regierungserklärung betont, dass die Landesregierung die Kommunen und Verbünde unterstützen wird, die ein Sozialticket einführen wollen bzw. schon eingeführt haben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5938 3 1. Wie viele „Mein Ticket“-Sozialtickets sind seit der Einführung am 1. Januar 2013 bis heute jeweils in jedem Monat im Verbandsgebiet des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) verkauft worden? (bitte differenzierte Darstellung in absoluten Zahlen und in Prozent der Anspruchsberechtigten, idealerweise differenziert nach den einzelnen Verkehrsgesellschaften im VRR-Gebiet) Die aggregierten Monatszahlen können der beigefügten, vom Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) bereitgestellten Anlage entnommen werden. Für eine weitergehende Differenzierung ist nach Aussage des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) das Einverständnis aller Verkehrsunternehmen im VRR erforderlich, das in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht eingeholt werden könne. Das Sozialticket ist aus Sicht der Landesregierung bislang als Erfolg zu werten. Die Absatzzahlen lassen einen klaren Aufwärtstrend, wenn auch mit Schwankungen erkennen. Nach Einschätzung der Landesregierung werden diese Zahlen in den kommenden Jahren weiter steigen. 2. In jeweils welcher Höhe sind Kosten einerseits dem Land und andererseits den einzelnen Kommunen bzw. Verkehrsbetrieben im VRR-Gebiet durch die flächendeckende Einführung des „Mein Ticket“-Sozialtickets im Gebiet des VRR seit dem 1. Januar 2013 bis heute entstanden? (bitte Angabe der Vollkosten, also bspw. auch Einnahmeentfall seitens früherer Nutzer als Umsteiger von teureren Tickets auf das Sozialticket) Das Land hat für das Förderjahr 2013 für das Sozialticket 27,88 Mio. Euro verausgabt. Für das Förderjahr 2014 wurden zum Mai 2014 den Zuwendungsempfängern 26,05 Mio. Euro zugewiesen. Weitere Zuweisungen sind für den Herbst 2014 beabsichtigt, so dass auch im Jahr 2014 mit Mitteln in Höhe der 2013er Förderung zu rechnen ist. Informationen zu weiteren Kosten in den Kommunen und Verkehrsunternehmen liegen der Landesregierung nicht vor. 3. In voraussichtlich jeweils welcher Höhe jährlich wird die Landesregierung auch in den kommenden Haushaltsjahren bis Ende dieser Legislaturperiode für die Finanzierung von Sozialtickets in ihren Gesetzentwurf für den nordrheinwestfälischen Landeshaushalt einstellen? Die Mittelfristige Finanzplanung sieht bis zum Jahr 2017 die Bereitstellung von 30 Millionen Euro p.a. für das Sozialticket vor. Die konkrete Bereitstellung im jeweiligen Haushaltsjahr bleibt dem Haushaltsgesetzgeber vorbehalten. 4. Wie bewertet die Landesregierung die Kriterien für eine Berechtigung zum Er- werb eines Sozialtickets sowie die damit verbundenen Ungerechtigkeiten und Privilegierungen einzelner Nutzergruppen? Die Festlegung der Sozialticket-Berechtigten obliegt den Kommunen. Dabei haben sie die Sozialticket-Richtlinien des Landes vom 8. August 2011 zu berücksichtigen. Danach muss das Sozialticket mindestens allen Personen angeboten werden, die Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (SGB II), Leistungen für Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen („Sozialhilfe“, SGB XII), LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/5938 4 Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder laufende Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz beziehen. Die Zuwendungsempfänger können aber den Berechtigtenkreis öffnen, wie vielfach für Geringverdiener oder Wohngeldempfänger geschehen. Nach Einschätzung der Landesregierung wird mit den gewählten Personengruppen der Anspruch, einkommensschwächeren Bürgerinnen und Bürgern eine Teilhabe an einem durch Mobilität bestimmten Leben zu gewähren, erfüllt. Die in der Frage angesprochenen Ungerechtigkeiten und Privilegierungen vermag die Landesregierung – soweit ihre Zuständigkeit betroffen ist – nicht zu erkennen. 5. Mit jeweils welchen quantitativen Fallzahlen und inhaltlichen Urteilsentscheidun- gen, unter Angabe des materiellen Streitgegenstands, haben Klagen im Zusammenhang mit dem Sozialticket bislang nordrhein-westfälische Gerichte seit dem seinerzeitigen Modellstart zum 1. November 2011 beschäftigt? Der Landesregierung ist nur der eine in der Fragestellung zitierte Fall bekannt. Statistische Daten über die Fallzahl von Klagen im Zusammenhang mit dem nordrhein-westfälischen Sozialticket werden im Rahmen der bundeseinheitlichen Statistiken nicht erhoben. Anderweitige belastbare Erkenntnisse, die zur Beantwortung der Frage dienen könnten, würden eine unverhältnismäßig aufwendige Aktendurchsicht durch die Gerichte vor Ort erfordern und sind in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mit vertretbarem Aufwand zu beschaffen. Anlage 1 zur Kleinen Anfrage 2249 Januar 13 Februar 13 März 13 April 13 Mai 13 Absatz VRR 78.575 77.997 80.989 88.298 86.626 Nutzerquote 6,40% 6,30% 6,60% 7,10% 7,00% Juli 13 August 13 September 13 Oktober 13 November 13 Absatz VRR 89.153 85.534 93.410 98.270 94.963 Nutzerquote 7,20% 6,90% 7,60% 7,90% 7,70% Juni 13 Dezember 13 Januar 14 Februar 14 Absatz VRR 86.593 86.307 115.265 102.371 Nutzerquote 7,00% 7,00% 9,30% 8,30% SozialTicketverkäufe im VRR von Januar 2013 bis Februar 2014