LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/6162 26.06.2014 Datum des Originals: 25.06.2014/Ausgegeben: 01.07.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2346 vom 28. Mai 2014 der Abgeordneten Klaus Kaiser und Jens Kamieth CDU Drucksache 16/6015 Vollumfängliches Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderung? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 2346 mit Schreiben vom 25. Juni 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales und dem Justizminister beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Über 10.0001 behinderte Menschen in Deutschland durften am vergangenen Sonntag nicht wählen. Rechtsgrundlage für diesen Wahlrechtsausschluss ist Paragraph 13 des deutschen Bundeswahlgesetzes (BWahlG). Dieser sagt aus, dass: Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist, 1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfaßt, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet.2 Menschen, für die ein Betreuer bestellt wurde, der für die „Besorgung aller Angelegenheiten“ zuständig ist, besitzen somit kein Wahlrecht. Diesen Personen wird unterstellt, dass sie sich der Tragweite ihrer Stimmabgabe nicht bewusst sind. Dabei ist es diesem Personenkreis in anderen Staaten Europas wie beispielsweise in Spanien oder den Niederlanden erlaubt, wählen zu gehen. 1 NRZ vom 5. Mai 2014, S.5 2 § 13 des Bundeswahlgesetzes – Dritter Abschnitt LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6162 2 Die Anwendung des § 13 BWahlG und der damit verbundene Ausschluss vom Wahlrecht sind umstritten. Aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag am 3. Juni 2013 eine Anhörung durchgeführt. Als Ergebnis wurde eine Studie in Auftrag gegeben, nach deren Auswertung es gegebenenfalls eine Gesetzesinitiative im Bundestag geben wird. Vorbemerkung der Landesregierung Die Vorschriften über den Wahlrechtsausschluss von Personen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen, sind bei Bundestags-, Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen weitgehend identisch (vgl. § 13 Nr. 2 Bundeswahl-gesetz (BWG), § 6a Nr. 2 Europawahlgesetz (EuWG), § 2 Nr. 1 Landeswahlgesetz (LWahlG) und § 8 Nr.1 Kommunalwahlgesetz (KWahlG)). Nach den genannten Vorschriften ist derjenige vom Wahlrecht ausgeschlossen, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch eine einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuches bezeichneten Angelegenheiten nicht umfasst. Die dafür maßgebliche betreuungsrechtliche Vorschrift des § 1896 BGB stellt an die Erforderlichkeit einer Betreuung für alle Angelegenheiten (Totalbetreuung) hohe Anforderungen. Der Wahlrechtsausschluss von unter Betreuung in allen Angelegenheiten stehenden Personen beruht auf der Überlegung, dass es sich beim Wahlrecht um ein höchstpersönliches Recht handelt und es nur solchen Personen zustehen soll, die selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig sind (vgl. Kommentar Bätge Rd. 1 zu § 2 LWahlG, Kommentar Schreiber Rd. 10 zu § 13 BWG). Der Ausschluss vom Wahlrecht kann dabei nur infolge einer richterlichen Einzelfallentscheidung des Vormundschaftsgerichts eintreten. Das dafür maßgebliche Betreuungsgesetz stellt an die Erforderlichkeit einer Betreuung für alle Angelegenheiten (Totalbetreuung) hohe Anforderungen. Bei der richterlichen Entscheidung ist jeweils auf die konkrete Lebenssituation abzustellen. Die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten kommt nur in Betracht, wenn der Betroffene aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten (mehr) selbst besorgen kann. Sie stellt eine Ausnahmeentscheidung dar, bei welcher das Gericht stets die zwingende Folge des Ausschlusses des Betreuten vom Wahlrecht zu bedenken und abzuwägen hat (vgl. Kommentar Schreiber, Rd. 12 zu § 13 BWG). An die Gerichtsentscheidung sind alle Wahlbehörden, Wahlorgane und Wahlprüfungsinstanzen gebunden. Es wäre angesichts der jeweiligen hohen Anzahl von Wahlberechtigten auch nicht möglich bei einer Wahl im Einzelfall zu überprüfen, ob der Wähler geistig in der Lage ist, die Bedeutung der Wahl und die dabei zu treffende Entscheidung zu würdigen. 1. Wie viele Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen sind von dem in der Einleitung beschriebenen Wahlrechtsausschluss betroffen (bitte je nach Grund unterscheiden)? Entsprechende Zahlen werden nicht erhoben, da hierdurch voraussichtlich wenige Menschen insbesondere mit Behinderung separat erfasst würden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6162 3 2. Wie bewertet die Landesregierung den § 13 BWahlG - auch vor dem Hintergrund der Debatte um die Inklusion behinderter Menschen in unserem Land? 3. Sieht die Landesregierung Handlungsbedarf für eine Veränderung des oben genannten Paragraphen in Bezug auf den geschilderten Sachverhalt? Die Landesregierung setzt sich für die Inklusion behinderter Menschen ein. Gleichzeitig muss jedoch das Interesse an einem sachgerechten Wahlverfahren in den Blick genommen werden. Angesichts der durch die Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie - der Auftrag ist den Fragestellern gemäß der eigenen Vorbemerkung bekannt - sollte zunächst deren Ergebnis abgewartet werden. Mit einem Abschluss der Untersuchung ist laut Unterrichtung des Bundesrats durch die Bundesregierung vom 15.04.2014 (Drs. 49/13) Ende 2015 zu rechnen. Nach einer Auswertung sollte im Verbund mit dem Bund und den Ländern geprüft werden, welche Folgerungen für den Wahlrechtsausschluss nach § 13 Nr. 2 BWG zu ziehen sind. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Wahlausschlussgrund des § 13 Nr. 3 BWG („ 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet.“) im Landtags- und Kommunalwahlrecht des Landes Nordrhein-Westfalens nicht enthalten ist. 4. Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen vor einzelnen Wahlen eine Veränderung bei der „Totalbetreuung“ vorgenommen wurde, welche später wieder zurückgenommen wurden? Nein.