LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/6351 21.07.2014 Datum des Originals: 08.07.2014/Ausgegeben: 24.07.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2375 vom 12. Juni 2014 der Abgeordneten Ernst-Ulrich Alda und Ralph Bombis FDP Drucksache 16/6065 Gefährdet die Landesregierung die Existenzgrundlage von Schaustellern? Der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat die Kleine Anfrage 2375 mit Schreiben vom 8. Juli 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien und dem Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Europäische Normen, unter anderem die DIN EN 13814 “Fliegende Bauten und Anlagen für Veranstaltungsplätze und Vergnügungsparks – Sicherheit“, haben die deutsche DIN 4112 als technische Baubestimmungen in den Bundesländern ersetzt. Betroffen hiervon sind u.a. die Betreiber von Karussells, Achterbahnen und ähnlichen Einrichtungen auf Volksfesten und Kirmesveranstaltungen. Die überwiegende Zahl der gegenwärtig betriebenen Anlagen wurde auf Grundlage der weltweit anerkannten DIN 4112 berechnet und konstruiert sowie bauaufsichtlich bei den Erstund Verlängerungsprüfungen abgenommen. In der neuen Europäischen Norm ist daher eine Anwendungsbestimmung enthalten, der zufolge diese nicht für Fliegende Bauten gilt, die vor der Veröffentlichung der Norm (Juni 2005) hergestellt wurden. Schausteller beklagen nun, dass die Bauaufsichten der deutschen Bundesländer die neue Regelung dennoch auch auf Fliegende Bauten anwenden, die vor 2005 hergestellt wurden und insofern von der normierten Nicht-Anwendung abweichen. Darin sehen sie einen Verstoß gegen Nummer 11.2.6.2 „Verpflichtungen“ der CEN/CENELEC Geschäftsordnung, Teil 2. Behördenseitig wird die Abweichung mit der alleinigen Zuständigkeit der Bundesländer und der daraus resultierenden Gestaltungsbefugnis für die technischen Baubestimmungen begründet. Betroffene argumentieren jedoch, dass bereits die bislang gültigen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6351 2 Bestimmungen ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleisten und für eine Änderung der bewährten Praxis bei bestehenden Anlagen keine Notwendigkeit existiere. Vorbemerkung der Landesregierung Fliegende Bauten nehmen im Bauordnungsrecht aller Bundesländer eine Sonderstellung ein. Anders als ortsfeste Bauwerke unterliegen Fliegende Bauten einem besonderen, zeitlich befristeten Genehmigungsverfahren. In der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (BauO NRW) regelt § 79 BauO NRW das Ausführungsgenehmigungsverfahren für Fliegende Bauten. Mit der zeitlichen Befristung der Ausführungsgenehmigung Fliegender Bauten hat der Gesetzgeber der Gefahrenabwehr bei häufigem Auf- und Abbau, dem Betrieb an verschiedenen Orten und dem hohen Anspruch der Bevölkerung an die Sicherheit von baulichen Anlagen auf Volksfesten Rechnung getragen. Zur Konkretisierung der technischen Anforderungen im Genehmigungsverfahren werden im Geltungsbereich der Landesbauordnung auf der Grundlage des § 3 Absatz 3 BauO NRW Technische Baubestimmungen öffentlich bekannt gemacht. 1. Wie bewertet die Landesregierung den oben geschilderten Sachverhalt? Die europäischen Normen sind Regeln der Technik, die von einem der drei privat organisierten Komitees für Standardisierung (Europäisches Komitee für Normung – CEN, Europäisches Komitee für elektrotechnische Normung – CENELEC, Europäisches Institut für Telekommunikationsnormen – ETSI) erarbeitet werden. Jede angenommene europäische Norm wird in Deutschland als DIN EN Norm veröffentlicht. Da die EN 13814 durch die Ausgabe von DIN EN 13814 den Status einer deutschen Norm erhalten hat und die davon abweichende nationale Norm DIN 4112 zurückgezogen wurde, hat das Deutsche Institut für Normung (DIN), das als deutsches Mitglied von CEN/CENELEC an die Geschäftsordnung gebunden ist, nicht gegen die Nummer 11.2.6.2 des Teils 2 der Geschäftsordnung verstoßen. 2. Dürfen die Bundesländer im Rahmen der Einführung von technischen Baubestimmungen entgegen der CEN-Geschäftsordnung den Anwendungsbereich ändern? Ja. Die CEN/CENELEC-Geschäftsordnung ist kein unmittelbar geltendes europäisches Recht, das von den Bundesländern bei der Bekanntmachung Technischer Baubestimmungen zu beachten ist. Die von CEN bzw. DIN herausgegebenen Normen haben keine unmittelbare Bindungswirkung, es sei denn, eine Rechtsnorm verweist statisch auf einen bestimmten Normabschnitt oder die ganze Norm. Normen sind grundsätzlich private Regelwerke mit Empfehlungscharakter, die sich zur Vereinbarung in privatrechtlichen Verträgen oder zur Inbezugnahme durch die staatliche Regelsetzung anbieten. 3. Falls Modifikationen grundsätzlich zulässig sind, dürfen diese unbegrenzt vorgenommen werden oder gibt es einen unantastbaren Kernbereich? Einen unantastbaren Kernbereich von Normen kann es nur dann geben, wenn die Anwendung eines Normabschnittes durch höherrangiges Recht vorgeschrieben wird (siehe auch Antwort zu Frage 2). Die DIN EN 13814 ist jedoch keine Norm, die unter den LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6351 3 Anwendungsbereich einer europäischen Rechtsverordnung oder einer durch Bundesrecht umgesetzten europäischen Richtlinie fällt. 4. Warum weicht die Landesregierung von der vorgesehenen Nicht-Anwendung der Europäischen Norm auf Fliegende Bauten mit Baujahr vor 2005 unter Weiterführung bisher gültiger und bewährter Sicherheitsstandards ab? Bei Volksfesten ist ein sehr hohes Sicherheitsniveau der Fahrgeschäfte und Attraktionen zu gewährleisten. Durch die zeitliche Befristung der Ausführungsgenehmigungen Fliegender Bauten bringt die Landesbauordnung zum Ausdruck, dass diese baulichen Anlagen einer periodischen Nachjustierung zu unterziehen sind. Deshalb ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verlängerung der Geltungsdauer der Ausführungsgenehmigung eines Fliegenden Baus jeder Einzelfall unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahingehend zu beurteilen, ob hinter geänderten bauaufsichtlichen Anforderungen und Sicherheitsstandards, die in Technischen Baubestimmungen konkretisiert werden, zurückgeblieben werden kann, weil Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Nutzer nicht zu erwarten sind. Hierbei sind auch Erkenntnisse aus dem Unfallgeschehen mit Fliegenden Bauten zu berücksichtigen. Die in der europäischen Norm empfohlene Nicht-Anwendung der DIN EN 13814 auf ältere Fahrgeschäfte wird dieser rechtlichen Anforderung nicht gerecht. Der veraltete Stand der Technik der zurückgezogenen DIN 4112 bietet nach heutigem Erkenntnisstand zwar in vielen, aber nicht mehr in allen sicherheitsrelevanten Punkten eine ausreichende Sicherheit. So können zwar die Ausführungsgenehmigungen der meisten Fliegenden Bauten (Zelte, Tribünen, Bühnen, Schau- und Belustigungsgeschäfte und ein Teil der Fahrgeschäfte) mit wenigen Nebenbestimmungen weiterhin verlängert werden, bei dynamisch beanspruchten Fahrgeschäften sind jedoch insbesondere Überprüfungen der Ermüdungs- und Schwingfestigkeitsnachweise und gegebenenfalls auch Maßnahmen erforderlich. 5. Was wird die Landesregierung zum Schutz von Schaustellern tun, die sich aufgrund dieser Abweichung in ihrer Existenz bedroht sehen? Nur dauerhaft sichere Fahrgeschäfte bieten den Schaustellern eine gesicherte Existenz, weil über jeden Unfall mit Fliegenden Bauten ausführlich berichtet wird und verunfallte Fahrgeschäftstypen von den Besuchern der Volksfeste gemieden werden. Im Arbeitskreis Fliegende Bauten der Fachkommission Bauaufsicht der Bauministerkonferenz wurden unter Beteiligung des Landes Nordrhein-Westfalen die „Entscheidungshilfen für die Verlängerung von Ausführungsgenehmigungen“ erarbeitet. Die gebotene differenzierte Betrachtungsweise führte dazu, dass insbesondere bei den dynamisch beanspruchten Fahrgeschäften an sicherheitsrelevanten Bauteilen älterer Fliegender Bauten Überprüfungen der Ermüdungsund Schwingfestigkeitsnachweise und gegebenenfalls auch Maßnahmen aus Gründen der Gefahrenabwehr erforderlich sind (siehe auch Antwort zu Frage 4). Die Interessen der Schaustellerverbände wurden berücksichtigt und in Abstimmung mit den regelmäßig am Arbeitskreis Fliegende Bauten teilnehmenden Gästen aus den Schaustellerverbänden und den Sachverständigenorganisationen konnten Modifikationen beschlossen werden, denen im Dezember 2013 länderübergreifend zugestimmt wurde und die mit Erlass vom 28. Januar 2014 an die Genehmigungs- und Prüfstellen für Fliegende Bauten im Land NordrheinWestfalen umgesetzt wurden. Die Entscheidungshilfen sind auch im öffentlich zugänglichen Bereich des Informationssystems der Bauministerkonferenz (www.bauministerkonferenz.de) bekanntgemacht.