LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/6579 20.08.2014 Datum des Originals: 20.08.2014/Ausgegeben: 25.08.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2528 vom 23. Juli 2014 des Abgeordneten Marcel Hafke FDP Drucksache 16/6381 Gestiegene Fallzahlen bei Inobhutnahmen von Kindern – Was tut die Landesregierung ? Die Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport hat die Kleine Anfrage 2528 mit Schreiben vom 20. August 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales und dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Nach Zahlen des Statistischen Landesamtes ist die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern durch die Jugendämter 2013 im Vergleich zum Vorjahr um 6,8 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr haben die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen demnach 12.259 Kinder und Jugendliche unter ihren Schutz gestellt. Ein knappes Drittel der Fälle wird mit einer Überforderung der Eltern begründet. Angesichts des von der Landesregierung in steter Wiederholung postulierten Grundsatzes „Kein Kind zurücklassen“ stellt sich die Frage, wie die gestiegenen Fallzahlen einzuordnen sind. 1. Spiegeln die Zahlen nach Einschätzung der Landesregierung eine tatsächlich zunehmende Fallzahl an Kindeswohlgefährdungen wider oder sind sie Ausdruck eines geschärften Problembewusstseins und einer gestiegenen Bereitschaft zum Eingreifen auf Seiten der Jugendämter? Nach Auffassung der Landesregierung lässt sich die steigende Zahl von Inobhutnahmen nicht auf eine Ursache zurückführen. Vielmehr gibt es hierfür verschiedene Gründe. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6579 2 Ein Grund für den Anstieg um 784 Fälle von 2012 nach 2013 (11.475 Fälle im Jahr 2012; 12.259 Fälle im Jahr 2013) ist beispielsweise, dass allein die Anzahl der eingereisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge um 404 Fälle von 1.115 auf 1.519 angestiegen ist. Zieht man diese Anzahl wegen ihrer Besonderheit ab, so verbleibt es lediglich bei einer Steigerung von 380 Fällen oder rund 3,2 %. Darüber hinaus sind nach Auffassung der Landesregierung für den auch bundesweit zu beobachtenden Anstieg insbesondere Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen, wie z.B. das Inkrafttreten des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) und die Neuregelung des § 42 SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen) zu nennen. Schließlich wirkt sich aber auch die seit einigen Jahren intensiv geführte Kinderschutzdebatte , die sowohl das Anzeigeverhalten bei Kindeswohlgefährdungen sowie die Arbeit der Jugendämter beeinflusst, aus. Außerdem unterliegen die Anlässe für Inobhutnahmen über Jahre gesehen ständigen Schwankungen. 2. Wie stellen sich Steigerungen bei den Fallzahlen in den einzelnen Anlasskatego- rien (Überforderung der Eltern, Beziehungsprobleme, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge etc.) im Vergleich zu den Vorjahren dar (bitte jeweils einzeln auflisten für die Jahre ab 2010)? Die Entwicklung der Fallzahlen in den Jahren 2010 bis 2013 für die einzelnen Anlasskategorien ergibt sich aus der folgenden Tabelle. Hierbei ist anzumerken, dass die Summe der Anlässe pro Jahr nicht mit der Anzahl insgesamt übereinstimmt, da für jedes Kind bzw. jeden Jugendlichen bis zu zwei Anlässe angegeben werden konnten. Vorläufige Schutzmaßnahmen Kinder und Jugendliche 2010 - 2013 nach Anlass1) der Maßnahme in Nordrhein-Westfalen (Quelle: IT NRW) Jahr Anlass der Maßnahme Integrationsprobleme im Heim/ Pflege-familie Überforderung der Eltern/ eines Elternteils Schul-/ Ausbildungs- probleme Vernach - lässigung Delinquenz des Kindes/ Straftat des Jugendlichen Suchtprobleme des Kindes/ Jugendlichen Anzeichen für Kindes- misshandlung Summe Summe Summe Summe Summe Summe Summe 2010 633 4706 428 1173 669 281 937 2011 750 4560 389 1121 789 275 993 2012 853 5084 403 1265 1007 294 994 2013 1089 4875 365 1107 1186 354 1075 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6579 3 Jahr Anlass der Maßnahme Insgesamt Anzeichen für sexuellen Miss-brauch Trennung oder Schei- dung der Eltern Wohnungsprobleme Unbegleitete Einreise aus dem Ausland Beziehungsprobleme sonstige Probleme Summe Summe Summe Summe Summe Summe 2010 178 206 331 387 1989 3112 10438 2011 200 193 343 542 1838 3031 10617 2012 167 213 442 1115 1998 3654 11475 2013 177 216 376 1519 2191 4212 12259 1) Für jedes Kind oder Jugendlichen konnten bis zu zwei Anlässe der Maßnahme angegeben werden. 3. Wie bewertet die Landesregierung die Steigerung der Fallzahlen vor dem Hinter- grund ihres Grundsatzes „Kein Kind zurücklassen“? Die Fallzahlen zeigen, wie wichtig vorbeugende Politik ist. Allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Chancen auf ein gelingendes Aufwachsen in Nordrhein-Westfalen zu ermöglichen, bleibt daher das zentrale Ziel der Landesregierung. Dazu gibt es ressortübergreifend eine Vielzahl von Maßnahmen. 4. Was unternimmt die Landesregierung im Bereich „frühe Hilfen“, um Familien von Anfang an vor Überforderung zu schützen? Mit einer Vielzahl von Maßnahmen und Projekten fördert die Landesregierung die Akteure der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, um junge Familien frühzeitig zu unterstützen. Dafür setzt sie Impulse und initiiert Projekte und Kooperationen - wie etwa den Ausbau der U3- Plätze in der Kinderbetreuung, bessere frühkindliche Bildung, den Einstieg in die Beitragsfreiheit der Kinderbetreuung und die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frühes und frühzeitiges Unterstützen, die gute Verzahnung der unterschiedlichen Förderstränge und die Kooperation der verschiedenen Partner sind dabei handlungsleitend. Das zeigt das Modellvorhaben „Kein Kind zurücklassen – Kommunen in NRW beugen vor“, das die Landesregierung gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung durchführt. In den beteiligten 18 Kommunen werden Präventionsketten von der Schwangerschaft bis zum Übergang von Schule in Studium/Beruf auf- und ausgebaut. Der Bereich „Frühe Hilfen“ ist ein wesentlicher Baustein der Präventionskette. Um Familien noch besser erreichen und ihnen Hilfe anbieten zu können, werden Tageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen weiter zu Familienzentren ausgebaut. Sie bieten nicht nur Kindern Betreuung und Bildung, sondern unterstützen durch ihr Netzwerk auch Eltern in Alltags -, Erziehungs- und Bildungsfragen, um allen Kindern optimale Bildungschancen und Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Im Kindergartenjahr 2013/2014 arbeiten über 3.000 Kindertageseinrichtungen als Familienzentrum. Die „Frühen Hilfen“ sind Beratungs- und Unterstützungsangebote für werdende Eltern und Familien mit Kleinkindern von 0-3 Jahren. Sie bilden in NRW den ersten Baustein in einer kommunalen Präventionskette zur Förderung des gelingenden Aufwachsens von Kindern. Darunter zu verstehen sind multiprofessionell erbrachte Angebote vor allem der Jugendhilfe und des Gesundheitswesens. Hierzu zählen auch die Angebote der Familienberatung, der LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/6579 4 Schwangerschaftsberatungsstellen und der Elternkurs. Werdende Eltern und Eltern mit Kleinkindern stehen dabei im Mittelpunkt. Sie sollen schneller und einfacher bedarfsgerechte Unterstützung in jeder Kommune in NRW erhalten. Hierzu sollen sich die verschiedenen kommunalen Akteure vernetzen und verbindlicher zusammenarbeiten, um gemeinsam die lokale Angebotsstruktur für Familien zu verbessern und Eltern gezielter über die lokalen Unterstützungsangebote für Familien zu informieren. Die im MFKJKS Anfang 2013 eingerichtete Landeskoordinierungsstelle Frühe Hilfen begleitet 186 örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe in der Umsetzung der im Bundeskinderschutzgesetz verankerten Bundesinitiative „Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen“ von Januar 2013 bis Dezember 2015. Sie ist neben der Weiterleitung der Bundesmittel an die Kommunen (jährlich rd. 9,3 Mio. €) für die Qualifizierung sowie Qualitätssicherung und - entwicklung in genannten Förderbereichen zuständig. Hierzu hat die Landeskoordinierungsstelle 2013 und 2014 landesweite Fachtage, Fortbildungen sowie Austauschtreffen veranstaltet und Arbeitshilfen entwickeln lassen. Für die Fortbildung zur Familienhebamme und Familien -, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin hat sie ein Landescurriculum erstellen lassen . Zur Vernetzung der für die „Frühen Hilfen“ relevanten Akteure auf Landesebene hat sie durch die Gründung eines Beirates Frühe Hilfen beigetragen. 5. Gibt es angesichts der gestiegenen Fälle von Inobhutnahmen ausreichend Plätze in Pflegefamilien, in denen die betroffenen Kinder untergebracht werden können? Hierzu ist zunächst anzumerken, dass in Obhut genommene Kinder und Jugendliche nicht ausschließlich in Pflegefamilien untergebracht werden. Darüber hinaus ist die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen Aufgabe des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Von dort sind an die Landesregierung bislang keine Probleme bei der Unterbringung im Falle von Inobhutnahmen herangetragen worden.