LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/7365 21.11.2014 Datum des Originals: 21.11.2014/Ausgegeben: 26.11.2014 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2820 vom 22. Oktober 2014 der Abgeordneten Yvonne Gebauer FDP Drucksache 16/7093 Wie bewertet die Landesregierung die offensichtlich Elternwünschen und Bedürfnissen der Kinder entgegenstehende eigene Inklusionspolitik? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 2820 mit Schreiben vom 21. November 2014 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Unlängst ist in der Eschweiler Zeitung unter dem Titel „Vorreiter bei der schulischen Inklusion “ ein Artikel zur Umsetzung der Inklusion in der Städteregion erschienen. Offensichtlich widerspricht demnach die rot-grüne Inklusionspolitik zumindest vor Ort diametral den Elternwünschen und einem entsprechendem Wahlverhalten. Gleichzeitig verdeutlichen die Zahlen vor Ort, dass der laut einer Vielzahl von Rückmeldungen oftmals bereits auch vor Verabschiedung des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes und der geänderten Ausbildungsordnung von Seiten mancher Schulverwaltungen ausgeübte Druck, möglichst keine Verfahren auf Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs einzuleiten, sich offenkundig auswirkt ; dies schlimmstenfalls zulasten einer frühzeitigen, oftmals sogar präventiven Förderung der Kinder. So heißt es in dem Artikel: „Jetzt haben die Eltern entschieden – mit überraschenden Ergebnissen in der Städteregion: Deutlich mehr Eltern als in den Vorjahren haben für ihr Kind den Besuch einer Förderschule gewählt, zugleich haben aber auch deutlich weniger Eltern als sonst einen Antrag auf sonderpädagogische Förderung gestellt. In Zahlen ausdrückt: Für das Schuljahr 2014/2015 wurden im städteregionalen Schulamt 480 Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs durchgeführt, davon 245 bei Schulneulingen, im Jahr davor waren es 700 Anträge, davon 340 bei Schulneulingen. Für eine Förderschule für ihr Grundschulkind entschieden sich in diesem Schuljahr 72 Prozent der Eltern, im Jahr davor waren es etwa 50 Prozent. Von den rund 400 Kindern, die in eine fünfte Klasse wechselten , blieb etwa ein Drittel in einer Förderschule.“ Interessanterweise erklärte eine örtliche Schulamtsleiterin laut Artikel, dass man keine Erkenntnis darüber habe, warum Eltern keinen Antrag gestellt hätten. Bezeichnenderweise habe es insbesondere bei den Förderschwer- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7365 2 punkten „Lernen“ und „Emotionale und soziale Entwicklung“ weniger Anträge gegeben. Und diese wären demnach meist nur von den Eltern gestellt worden, die ihre Kinder zu einer Förderschule schicken wollten, oder von Eltern, bei denen die nächstgelegene Grundschule von der Schulaufsicht nicht als Schule des gemeinsamen Lernens bestimmt worden sei. Da RotGrün die Antragsmöglichkeiten – insbesondere der Schulen – deutlich einschränkt, stellt sich die Frage, ob nicht viele Kinder Gefahr laufen, nicht die benötigte frühzeitige sonderpädagogische Förderung zu erhalten und z.B. eine Verfestigung eines solchen Förderbedarfs frühzeitig zu verhindern. Letztlich scheint sich hier bereits die Kritik der FDP-Fraktion, aber auch einer Vielzahl von Fachverbänden zu bestätigen, wonach Eltern nur in sehr geringer Anzahl entsprechende Feststellungsverfahren beantragen (werden) und Kindern so schlimmstenfalls nicht die notwendige Förderung zuteilwird. Statt etwa über ein allgemeines „Screening“ für alle Kinder nachzudenken und hierdurch sowohl eine individuelle Förderung sicherzustellen als auch eine von manchen Eltern befürchtete „Etikettierung“ zu vermeiden, scheint sich hier bereits abzuzeichnen, dass sich das von Rot-Grün gewünschte einfache „Verhindern“ der Feststellung eines Förderbedarfs zulasten vieler Kinder auswirken dürfte. Vor dem Hintergrund der angeführten Zahlen und offensichtlich beträchtlichen Elternwünschen nach dem Besuch eines Förderschulangebots für ihr Kind stellt sich insbesondere die Frage, wie die Landesregierung ihr eigenes Vorgehen bei der Inklusion unter dem Aspekt der Berücksichtigung von Elternwünschen reflektiert. Auch wenn im Zuge der Umsetzung und aufgrund des demographischen Wandels die Zahl der Förderschulen natürlich sinken wird, scheint das harte Vorgehen – etwa bei den Mindestgrößen oder bezüglich des § 132 des rot-grünen 9. Schulrechtsänderungsgesetzes – gegen Förderschulen unangemessen. Laut des Paragraphen § 132 können von Schulträgern Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Emotionale und soziale Entwicklung ausnahmslos geschlossen werden, auch wenn für sie noch ein Bedürfnis bestünde. Der Elternwille würde keine Berücksichtigung finden und das scheinbar gewährleistete Wahlrecht für Eltern zwischen allgemeiner Schule und spezialisierter Förderschule liefe leer. Dass ein solches Vorgehen offensichtlich nicht mit vielen Elternwünschen in Einklang zu bringen ist, scheint der Artikel eindrucksvoll zu belegen. In dem genannten Artikel findet sich eine weitere Aussage, die eine Einschätzung der Landesregierung hierzu notwendig macht. Dort heißt es, dass zahlreiche Anträge auf Aufnahme in einer Hauptschule abgelehnt werden mussten. Gerade Hauptschulen wären bisher Schulen gewesen, die sich intensiv um Inklusion bemüht hätten, daher würden an diesen Schulen überproportional viele Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Da u.a. Anteile von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf teilweise relativ hoch seien, habe man mit der Bezirksregierung eine Beschränkung der Platzzahlen vereinbart. Hierzu heißt es weiter in dem Artikel: „Viele Kinder mit Förderbedarf, deren Eltern inklusiven Unterricht wünschten, sind auf Realschulen ausgewichen. Die sind zum Teil jedoch Neulinge auf diesem Gebiet. Die meisten Eltern aber wünschen sich für ihr förderbedürftiges Kind eine Schule mit Erfahrung auf dem Gebiet der Inklusion.“ Des Weiteren wird für einige Hauptschulen auch auf das Auslaufen verwiesen. Da Eltern sich auch Gedanken machen, an welcher Schulform ihr Kind gut aufgehoben ist (neben Aspekten wie der Erfahrung mit integrativem Arbeiten also z.B. auch, ob ihr Kind an bestimmten Schulformen bezüglich des Leitungsniveaus eventuell deutlich überfordert wäre), stellt sich die Frage, wie die Landesregierung das genannte Vorgehen bewertet. Da Eltern von Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zwar ebenfalls keinen Anspruch auf einen bestimmten Schulstandort , aber auf ein Angebot des entsprechenden Bildungsgangs haben, drängt sich die Frage auf, ob hier vor Ort eigentlich eine rein „organisatorische Verteilung“ der Kinder vorgenommen wird, ohne berechtigte Elternwünsche adäquat zu berücksichtigen. Auch wenn selbstverständlich alle Schulformen unter Berücksichtigung der schulformspezifischen Sonderheiten ihre Aufgabe im Rahmen der Umsetzung der Inklusion wahrzunehmen haben, LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7365 3 stellt sich die Frage, ob hier die Entscheidungen im Interesse der Kinder und in Orientierung an den Elternwünschen oder primär nach „verwaltungstechnischen“ Aspekten getroffen werden oder sogar vor dem Hintergrund langfristiger von Rot-Grün gewünschter langfristiger schulpolitischer Weichenstellungen. 1. Wie bewertet die Landesregierung in Anbetracht des im angeführten Beispiel ge- nannten Anstiegs der Elternwünsche nach dem Besuch einer Förderschule für ihr Kind das eigene Vorgehen bezüglich der Bereitstellung eines wohnortnahen Angebots an Förderschulen? Die Frage geht von einem falschen Sachverhalt aus, da nach Mitteilung der Bezirksregierung Köln die absolute Anzahl der Eltern, die für ihr Kind eine Einschulung in eine Förderschule der Städteregion Aachen wünschen, in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr liegt. Hinsichtlich des in der Kleinen Anfrage geschilderten prozentualen Anstiegs lautet die Einschätzung der Landesregierung wie folgt: Es ist davon auszugehen, dass überwiegend die Eltern, die eine Einschulung / Beschulung ihres Kindes an einer Förderschule wünschen, einen Antrag auf Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung stellen werden, da ein solcher Antrag an einer allgemeinen Schule, die bereits Gemeinsames Lernen anbietet, nicht erforderlich ist, um sonderpädagogische Unterstützung für das Kind zu erhalten. In der Vergangenheit war die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs in jedem Fall ein Verwaltungsakt und damit eine Entscheidung der Schulaufsicht. Dies war bis zum Inkrafttreten des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes notwendig, damit den Schulen zusätzliche Lehrerstellenanteile für die sonderpädagogische Förderung zugewiesen werden konnten bzw. die Schülerin oder der Schüler eine Förderschule besuchen konnte. Mit dem Schuljahr 2014/2015 wurde ein Stellenbudget für Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen eingeführt, das unabhängig von der tatsächlichen Zahl von AO-SF-Verfahren zur Verfügung steht und aus dem den Grundschulen durch die Schulaufsicht Stellen zugewiesen werden. Damit ist in vielen Grundschulen sonderpädagogische Förderung auch ohne förmliche Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung möglich. Für die Bereitstellung eines dem Elternbedarf entsprechenden wohn-ortnahen Angebots an allgemeinen Schulen und Förderschulen ist der jeweilige Schulträger zuständig. 2. Wie bewertet die Landesregierung vor dem Hintergrund des geschilderten Bei- spiels den § 132 des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes bezüglich der Berücksichtigung von Elternwünschen? § 20 Abs. 2 SchulG regelt, dass „Eltern (…) auch die Förderschule wählen“ können. Die Möglichkeit für Eltern, für ihr Kind eine Förderschule zu wählen, setzt allerdings voraus, dass es vor Ort noch Bedarf für ein entsprechendes Förderschulangebot in erreichbarer Nähe gibt. Auch im von CDU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN getragenen Schulkonsens heißt es, dass zum Schulangebot in NRW künftig „Förderschulen, soweit sie trotz Inklusion erforderlich sind“, gehören sollen. Die Bereitstellung eines solchen Angebots obliegt den Schulträgern vor Ort in enger Abstimmung mit den Schulaufsichtsbehörden. Es ist Aufgabe aller Beteiligten, den Elternwünschen soweit es möglich ist, gerecht zu werden und gleichzei- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7365 4 tig die Regelungen der Mindestgrößen-Verordnung einzuhalten, damit ein geordneter Schulbetrieb möglich ist. Sofern Kreise und kreisangehörige Gemeinden als Schulträger von der Öffnungsklausel nach § 132 SchulG Gebrauch machen, ist § 20 Abs. 2 SchulG nach § 132 Abs. 1 Satz 3 SchulG nicht anwendbar. In diesem Fall wird das Angebot an sonderpädagogischer Unterstützung nach dem Willen der Beteiligten vor Ort ausschließlich an allgemeinen Schulen vorgehalten . Bislang ist der Landesregierung landesweit kein Fall bekannt, in dem Schulträger von § 132 SchulG Gebrauch gemacht haben. 3. Wie bewertet die Landesregierung den vor Ort feststellbaren Rückgang einer An- tragstellung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs durch Eltern vor dem Hintergrund der Einschränkungen der Antragsmöglichkeiten für Schulen und der damit verbundenen, auch von vielen Verbänden geäußerten Sorge, dass Kindern so eine frühzeitige und oftmals auch präventive Förderung versagt bleiben könnte? Der Landesregierung liegen zum Antragsverhalten der Eltern keine landesweiten Daten vor. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 4. Wie begründet die Landesregierung das offensichtlich mit dem Ministerium nach- geordneten Schulbehörden abgesprochene Vorgehen vor Ort, die Platzzahl für Schulformen (hierbei insbesondere Hauptschulen) zu begrenzen und daraus folgend Elternwünschen nicht zu entsprechen? Die Landesregierung begrüßt, dass sich zunehmend auch Schulformen dieser Aufgabe stellen , die das in der Vergangenheit eher selten getan haben. Dies ist gerade auch mit Blick auf die zurückgehende Zahl von Hauptschulstandorten von Bedeutung. Sonderpädagogische Förderung ist nach dem Ersten Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen ein erster Schritt auf dem Weg zur Inklusion und ermöglicht es den Eltern, ein Angebot an einer allgemeinen Schule zu erhalten. 5. Wie bewertet die Landesregierung Überlegungen von Eltern mit sonderpädagogi- schem Förderbedarf, für ihre Kinder allgemeine Schulen einer aus ihrer Sicht geeigneten Schulform auch nach speziellen Kriterien wie z.B. Erfahrung mit inklusivem Arbeiten oder auch Leistungsanforderungen der Bildungsgänge auszuwählen (bitte genannte Aspekte jeweils einzeln beantworten)? Derartige Überlegungen der Eltern sind nachvollziehbar und verständlich. Allerdings werden sich im Prozess der Inklusion immer mehr allgemeine Schulen bei entsprechendem Bedarf dieser Aufgabe stellen. Es wird immer wieder Schulen geben, die neu mit dem Gemeinsamen Lernen beginnen. Erfahrene Schulen allein können nicht ausreichend Plätze anbieten, wenn die Eltern eine allgemeine Schule für ihr Kind mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wünschen. Aus diesem Grund sieht das Erste Gesetz zur Umsetzung der VNBehindertenrechtskonvention an Schulen auch keinen Anspruch auf eine konkrete allgemeine Schule vor. Der Anspruch ist vielmehr aufgrund von § 19 Abs. 5 Satz 3 SchulG darauf gerichtet, dass die Schulaufsicht den Eltern mit Zustimmung des Schulträgers mindestens eine allgemeine Schule vorschlägt, an der ein Angebot zum Gemeinsamen Lernen eingerich- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7365 5 tet ist; bei zielgleicher Förderung ist grundsätzlich der Schulformwunsch der Eltern zu berücksichtigen . Die vorgeschlagene allgemeine Schule kann daher auch eine andere als die von den Eltern gewünschte Schule sein, vor allem dann, wenn in der Region die Angebote des Gemeinsamen Lernens noch nicht an allen allgemeinen Schulen eingerichtet sind. Schulen, die neu mit dem Gemeinsamen Lernen beginnen, werden dabei unter anderem auch durch Fortbildungen durch das Kompetenzteam des Schulamtes unterstützt.