LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/7662 29.12.2014 Datum des Originals: 23.12.2014/Ausgegeben: 05.01.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 2919 vom 15. November 2014 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/7329 Schwierige Umsetzung der Schulpflicht für immer mehr Flüchtlingskinder in Essen – Welche konkrete Hilfe erfährt die Stadt bei der großen Herausforderung, traumatisierte Jugendliche ohne Deutschkenntnisse in den regulären Schulalltag zu integrieren? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 2919 mit Schreiben vom 23. Dezember 2014 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales, dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales, der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter und der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Flüchtlingszahlen in Deutschland steigen durch zahlreiche weltweite Konflikte, wie zum Beispiel im Irak, in der Ukraine oder in Syrien, stetig an und haben sich in den vergangenen Monaten bereits drastisch erhöht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat am 7. November 2014 mitgeteilt, dass im laufenden Jahr schon 135.634 Asylerstanträge gestellt worden sind. Allein im Monat Oktober hat das Bundesamt 18.415 Asylerstanträge entgegen genommen. Im Vergleichsmonat des Vorjahres waren es 12.940 Erstanträge, was einen Zuwachs von 42,3 Prozent bedeutet. Ein Ende des Zustroms ist nicht in Sicht. Für das Land und die Kommunen ist diese Situation auch deshalb eine ganz besondere Herausforderung, da für Flüchtlingskinder in Nordrhein-Westfalen gemäß Schulgesetz § 34, Absatz 6 grundsätzlich eine Schulpflicht besteht: „Die Schulpflicht besteht für Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und alleinstehende Kinder und Jugendliche, die einen Asylantrag gestellt haben, sobald sie einer Gemeinde zugewiesen sind und solange ihr Aufenthalt gestattet ist. Für ausreisepflichtige ausländische Kinder und Jugendliche besteht die Schulpflicht bis zur Erfüllung ihrer Ausreisepflicht .“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7662 2 Die WAZ berichtet am 9. November 2014 im Essener Lokalteil anschaulich und umfangreich über die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Umstand für die Stadt Essen ergeben, in der derzeit rund 1.200 Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien an 41 Schulen unterrichtet werden. Allein in den Monaten Juli bis September 2014 wurden 266 Flüchtlingskinder an Essener Schulen vermittelt: „Kinder aus Flüchtlingsfamilien, die im Schulalter sind, stellen die Essener Bildungseinrichtungen zunehmend vor räumliche und organisatorische Probleme. Das geht aus einem Bericht der Stadtverwaltung hervor. (…) Die meisten dieser Kinder sind komplett ohne Deutschkenntnisse. Kriegs- und Fluchttraumata erschweren zudem die Eingliederung zusätzlich . Zwar haben sich vor allem einige Grundschulen auf die so genannten „Seiteneinsteiger “ spezialisiert – zuletzt sind sogar die beiden Kupferdreher Grundschulen für ihre Flüchtlingskinderarbeit mit dem Deichmann-Förderpreis ausgezeichnet worden. Doch angesichts der wachsenden Zahl von Kindern heißt es klipp und klar: ‚Die bisherige Angebotsstruktur wird nicht hinreichen.‘ Das gilt sowohl für Räume als auch für Personal, das geschult sein muss in der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache.“ Eine besondere Herausforderung liegt aber offensichtlich nicht in der Beschulung junger Kinder, sondern bei älteren Jugendlichen in den weiterführenden Schulen. Hierzu wird in der WAZ Essen am 9. November 2014 ebenfalls ausgeführt: „Während die Arbeit mit Grundschulkindern auch dank etablierter Konzepte als relativ erfolgversprechend gilt, blicken die Bildungsverantwortlichen mit Sorge auf weiterführende Schulen : Die Integration von Jugendlichen, heißt es, ‚fällt schwerer‘. Das liege an den sehr unterschiedlichen Biographien und Bildungsniveaus, die die jungen Flüchtlinge mitbringen.“ Auf Initiative der örtlichen FDP-Ratsfraktion beschäftigen sich in diesen Tagen und Wochen auch die zuständigen Gremien in der Stadt Essen intensiv und ernsthaft mit der Frage, wie diese besonderen Herausforderungen gemeistert werden können. Schwerpunkt ist dabei insbesondere eine Problemlösung, wie die dauerhafte Integration gewährleistet werden und eine psychologische Betreuung gesichert werden kann. Die Stadt Essen hat bereits angekündigt, dass noch in diesem Schuljahr weitere Schulen aller Schulformen ‚Seiteneinsteigerklassen‘ einrichten und weitere Kinder in vorhandene Gruppen aufgenommen werden müssen. Der zuständige Schuldezernent weist darauf hin, dass verstärkt die psychische Gesundheit von Flüchtlingskindern in den Mittelpunkt gerückt werden sollte und es um mehr gehe „als um Unterbringungs- oder Sicherheitsfragen“. Angesichts der aktuellen und zukünftig verstärkt zu erwartenden Lage darf sich das Land Nordrhein-Westfalen hier nicht aus seiner Verantwortung stehlen. Es ist dringend geboten, die Stadt Essen als betroffenen Schulträger nach Kräften bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe in adäquater Weise zu unterstützen. Die amtierende Landesregierung betont regelmäßig ihren politischen Anspruch, kein Kind zurücklassen zu wollen. Der Landtag hat daher ein Anrecht darauf, im Detail zu erfahren, welche konkreten Leistungen für die zahlreichen hilfsbedürftigen Kinder und Jugendlichen erbracht werden und welche Unterstützung der kommunale Schulträger für die sachgerechte Bewältigung der Herausforderung im Einzelnen erfährt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7662 3 1. Wie haben sich in der Stadt Essen in den vergangenen fünf Jahren die Flüchtlingszahlen jeweils jährlich differenziert nach Alter, Geschlecht und Nationalität entwickelt? 2. Wie haben sich in der Stadt Essen in den vergangenen fünf Jahren die Zahlen an schulpflichtigen Flüchtlingskindern jeweils jährlich differenziert nach Alter, Geschlecht , Nation, Schulform und aufnehmendem Schulstandort entwickelt? Die Fragen 1 und 2 werden gemeinsam beantwortet. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, dass unter dem Begriff Flüchtlinge nicht nur die Personengruppe der Asylbewerber verstanden wird. Neben dieser Gruppe sind auch Personen, die aufgrund bestehender Rechtsgrundlagen (Bundes-, Landesaufnahmeanordnungen, Resettlementverfahren ) nach Deutschland kommen, Flüchtlinge. Für die Erfassung des Merkmals Flüchtling gibt es keine melderechtliche Grundlage. Eine Differenzierung nach Alter und Geschlecht ist daher derzeit nicht möglich. Es liegen folgende Bestandszahlen vor: 01.01. 2010 01.01.2 011 01.01.2 012 01.01.2 013 01.01.2 014 Gesamtanrechnung *) der Flüchtlinge auf die Stadt Essen 247 463 408 736 915 *Angaben laut Statistiken der Bezirksregierung Arnsberg zum 01.01. eines Jahres 3. Welche Leistungen gewährt das Land in den letzten fünf Jahren jeweils jährlich der Stadt Essen zur Beschulung von Flüchtlingskindern? (differenzierte Darstellung nach allen sächlichen, personellen und finanziellen Leistungen erbeten) Das Land gewährt sowohl in Form der Schlüsselzuweisung nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG), als auch nach dem Teilhabe- und Integrationsgesetz (TIntG NRW) (Integrationspauschalen ) Leistungen für Flüchtlinge an die Kommunen. Integrationspauschalen wurden wie folgt gewährt: 2012 = 68.500,00 Euro 2013 = 44.950,00 Euro 2014 = 115.800,00 Euro. Die Stadt Essen entscheidet über die konkrete Verwendung dieser Pauschale. Zur Beschulung von zugewanderten Kindern ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen stellt das Land - jeweils für den Zeitraum von zwei Jahren - Integrationsstellen zur Verfügung . Diese Stellen werden den Schulen auf Antrag zugewiesen, wobei die Antragstellung von unterer und oberer Schulaufsicht begleitet wird. Die Integrationsstellen ersetzen nicht den Regelunterricht, sondern sie dienen der zusätzlichen Sprachförderung der angesprochenen Gruppe. Den Kindern und Jugendlichen stehen also Unterrichtsstunden aus dem Regelbereich und zusätzlich aus den Stellen zur Integration zu. Pro Seiteneinsteigergruppe steht dafür in der Regel ein Stellenanteil von 0,5 Lehrerstellen zur Verfügung. Hierbei wird nicht differenziert zwischen Flüchtlingen und Kindern von zuwandernden EU-Bürgern, lediglich der Sprachstand ist ausschlaggebend für die Förderung . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7662 4 In Essen verteilen sich diese Stellen wie folgt auf die einzelnen Schulformen: Schulform Integrationsstellen gesamt davon für Seiteneinsteiger - förderung Grundschule 39,67 28,39 Hauptschule 13 13 Förderschulen 9,01 0 Realschulen 5,5 2 Gesamtschulen 18,54 3 Gymnasien 5 5 Berufskollegs 5 2 insgesamt 95,72 53,4 Bis Juli 2013 wurden in Nordrhein-Westfalen Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien – RAA – gefördert. Seit August 2013 wird die Struktur der Kommunalen Integrationszentren (KI) durch die Ministerien für Arbeit, Integration und Soziales sowie für Schule und Weiterbildung gefördert (5,5 Personalstellen). Sie sind wichtige Partner im Land NRW um sicherzustellen, dass allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an Bildung ermöglicht wird. Sie haben u.a. die Aufgabe, sowohl Schulen und außerschulische Bildungsträger bei der Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrages und auch zuwandernde Kinder, Jugendliche und ihre Eltern in Bildungsfragen zu beraten und zu unterstützen. Ein Schwerpunkt im Kontext dieser Aufgaben ist auch die sogenannte Seiteneinsteigerberatung. 4. Welche besonderen physischen wie psychischen Gesundheitsmerkmale weisen Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien auf, die in den vergangenen fünf Jahren in die Stadt Essen gekommen sind? (differenzierte Darstellung unter Nennung wesentlicher Befunde und Herkunftsländern mit besonderer Problemausprägung erbeten) Eine differenzierte Darstellung unter Nennung wesentlicher Befunde und Herkunftsländern ist nicht möglich, da Gesundheitsdaten zum aktuellen physischen und psychischen Status nicht generell während der ersten Aufnahme in Nordrhein-Westfalen bei jeder und jedem Asylsuchenden erhoben werden. Seiteneinsteigende Kinder und Jugendliche werden zum Beginn ihrer Einschulung vom Öffentlichen Gesundheitsdienst schulärztlich untersucht. Es wird jedoch keine systematische Datendokumentation zum Gesundheitsstatus von seiteneinsteigenden Kindern und Jugendlichen vorgenommen. Bei einer qualitativen Abfrage, die das Landeszentrum Gesundheit NRW im Sommer 2014 bei allen Gesundheitsämtern zum Thema schulärztlicher Untersuchungen von Seiteneinsteigern durchgeführt hat, wurden von den Schulärztinnen und Schulärzten die teilweise schwierigen psychosozialen Lebensumstände herausgestellt. Die Traumatisierung durch das Erleben von Flucht, Krieg und Gewalt wurde ebenfalls in diesem Kontext erwähnt. Auf den schlechten Zustand der Zähne wurde ebenso hingewiesen wie auf den zum Teil mangelnden Impfschutz der seiteneinsteigenden Kinder und Jugendlichen. Asylbewerberinnen und -bewerber stammen in den letzten Jahren mehrheitlich aus Osteuropa , Syrien, Afghanistan und dem Irak. Daher ergeben sich auch sprachliche Schwierigkeiten, sowohl im täglichen Leben als auch bei der Wahrnehmung von gesundheitlicher Versorgung, welche für diese Menschen zu zusätzlicher seelischer Belastung führen können. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7662 5 Es wird geschätzt, dass ein Drittel aller Flüchtlinge unter posttraumatischen Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchtverhalten leiden. Eine belastbare, differenzierte Darstellung nach Alter und Geschlecht ist der Landesregierung nicht möglich. 5. Welche Leistungen gewährt das Land der Stadt Essen, um speziell den jungen häufig traumatisierten Flüchtlingskindern adäquate psychologische oder sozialpädagogische Unterstützung zukommen zu lassen? Gemäß § 89 d SGB VIII werden den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für die Unterbringung, Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen von den Ländern erstattet. Unter die Kostenerstattungspflicht der Länder fallen auch Leistungen der sozialpädagogischen Unterstützung, sowie ggf. eine psychotherapeutische Behandlung. Welches Land konkret der Stadt Essen die Kosten in jedem Einzelfall erstattet, wird vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Grundsätzlich kann die Landesregierung bei Anträgen der jeweils zuständigen Kommunen (in der Regel untere Gesundheitsbehörde) im Einzelfall Zuwendungen für besondere Leistungen gewähren (z.B. Impfungen). Vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter wurden für psychosoziale, psychiatrische oder psychotherapeutische Leistungen in den letzten fünf Jahren keine Zuwendungen an die Kommune Essen bereitgestellt.