LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/7993 25.02.2015 Datum des Originals: 24.02.2015/Ausgegeben: 02.03.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3052 vom 22. Januar 2015 der Abgeordneten Peter Biesenbach und Jens Kamieth CDU Drucksache 16/7806 Islamisten im Strafvollzug – Verkennt die Landesregierung die Gefahr? Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 3052 mit Schreiben vom 24. Februar 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage I. Unter der Überschrift „Eine neue Klientel im Gefängnis“ hat die Westfalenpost am 20.01.2015 die Frage aufgeworfen, ob der deutsche Strafvollzug – und damit auch der in Nordrhein-Westfalen – in ausreichendem Maße auf den Umgang mit radikalen Islamisten vorbereitet ist. Weil die Zahl der einsitzenden IS-Sympathisanten und - Rückkehrer „merklich steigen“ werde, erhöhe sich die Gefahr, dass in den Hafteinrichtungen neue Kämpfer rekrutiert werden. Prof. Dr. Joachim Kersten von der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster warnt: „Wenn in dem besonderen Klima einer Justizvollzugsanstalt ideologisch geschulte Strafgefangene auf anfällige Menschen treffen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Radikalisierungen kommt“. II. Dass diese Annahme berechtigt ist, zeigen bereits die bisherigen Ermittlungsergebnisse der Anschläge in Paris. Die dortigen Attentäter hatten sich in der Strafhaft radikalisiert. Seit 2010 hat sich die Zahl der Salafisten in Nordrhein-Westfalen schätzungsweise fast vervierfacht (von 500 auf 1.900). Diese 1.900 sollen sich in rund 40 Netzwerken unterschiedlicher Größe organisieren. Dort professionalisieren sie sich zunehmend auch hinsichtlich ihrer Propaganda und ihrer persönlichen Propagandafähigkeit. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7993 2 Gelegenheit zur Radikalisierung bisher nicht extremistisch indoktrinierter Gefangener bietet jede JVA zur Genüge. In Freistunden, beim Umschluss und den sonstigen Veranstaltungen gibt es täglich ausgedehnte Möglichkeiten zum Gespräch und zur Rekrutierung. III. Nicht zu überhören sind ferner die Sorgen der Justizvollzugsbediensteten. In der Zeitschrift „Vollzugsdienst“ des Bundes der Strafvollzugsbediensteten heißt es in der zuletzt erschienenen Ausgabe 6/2014 im NRW-Teil zum Umgang mit extremistischen Gewalttätern (S. 67): „Der Umgang mit dieser Klientel, dies trat in der Diskussion klar zutage, ist durchaus angstbesetzt. Deshalb erwarten die Strafvollzugsbediensteten, dass für diese Personengruppen handlungsleitende Konzepte entwickelt werden, die den Bediensteten vor Ort ein Stück Sicherheit vermitteln. Es sind frühzeitig Fortbildungsmaßnahmen anzubieten und durchzuführen, die sich neben der Behandlung auch mit den Hintergründen und ideologischen Grundlagen der Gewalt befassen. Der Strafvollzug sollte, anders als in den 1970er und 1980er Jahren mit den RAF-Terroristen, nicht einfach unvorbereitet mit einer schwierigen Tätergruppe konfrontiert werden.“ 1. Wie viele islamistisch motivierte Gefangene - Untersuchungs- und Strafhaft - sind derzeit im nordrhein-westfälischen Strafvollzug untergebracht? (Bitte jeweils unter Angabe des verwirklichten Straftatbestandes und des verhängten Strafmaßes getrennt nach Justizvollzugsanstalten einzeln auflisten.) In nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalten sind derzeit 22 Untersuchungsgefangene sowie ein Strafgefangener untergebracht, die wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen, die landläufig als "islamistisch" bezeichnet werden, bzw. wegen des Verdachts der Unterstützung solcher Vereinigungen inhaftiert oder wegen entsprechender Straftaten verurteilt worden sind. Bei 17 weiteren Gefangenen - sieben Untersuchungsgefangene, neun Strafgefangene und ein in Auslieferungshaft befindlicher Gefangener - liegen teils Hinweise allgemeiner Art von Polizei- oder Justizbehörden vor, dass sie möglicherweise "islamistisches" Gedankengut befürworten; teils sind sie im Vollzug in dieser Richtung auffällig geworden, z.B. durch Gesprächsäußerungen oder Haftraumbemalungen. Konkrete Einzelheiten zu den Aufenthaltsorten dieser Häftlinge können aus Sicherheitsgründen nicht mitgeteilt werden. Der einzige Strafgefangene, der wegen einer Straftat nach § 129a StGB verurteilt worden ist, verbüßt eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren sechs Monaten. Das Strafmaß der Gefangenen, die möglicherweise "islamistische" Inhalte befürworten, bewegt sich zwischen 32 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe und 4 Jahren 6 Monaten Freiheitsstrafe. Die der Verurteilung zugrunde liegenden Delikte beinhalten u.a. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Raub, Körperverletzung, Diebstahl, Verstöße gegen das BtMG und das Erschleichen von Leistungen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7993 3 2. Wie sind die Strafvollzugsbediensteten fachlich auf den Umgang mit diesen Gefangenen vorbereitet worden? 3. Existiert ein gesondertes Behandlungs-/Sicherheitskonzept für diese Gefangenen? Bei Gefangenen, die aufgrund konkreter Hinweise dem islamistischen bzw. salafistischen Umfeld zugerechnet werden müssen, ist sichergestellt, dass von ihnen keine Gefahren für andere Häftlinge ausgehen. Es entspricht jahrzehntelanger Praxis, radikalisierte Gefangene grundsätzlich von Mitgefangenen zu trennen. Ihr Brief- und Besuchsverkehr unterliegt der sorgfältigen Überwachung, ggf. mit Amtshilfe der zuständigen Polizeibehörden. Entsprechend ist bei den Gefangenen zu verfahren, bei denen entsprechende Verdachtsmomente vorliegen. Schwierigkeiten können die Gefangenen bereiten, die eine bereits erfolgte Radikalisierung oder die Bereitschaft hierzu nicht nach außen in Erscheinung treten lassen. Hier kommt es besonders drauf an, etwaige Auffälligkeiten möglichst frühzeitig zu erkennen. Das Erkennen extremistischer Einstellungen ist seit langem Bestandteil der Ausbildung der Justizvollzugsbediensteten verschiedener Ebenen. Der Justizvollzug verfügt des Weiteren über langjährige Erfahrungen im Umgang mit Problemgruppen aus den Bereichen Extremismus, Organisierter Kriminalität etc.; diese Erfahrungen können auch hier fruchtbar gemacht werden. Darüber hinaus finden regelmäßig Fortbildungsmaßnahmen zum Thema "Gewaltbereiter Salafismus" auf örtlicher und überörtlicher Ebene statt, von den Anstaltsleitungen bis hin zum Allgemeinen Vollzugsdienst. Insoweit wird auch auf die Beantwortung der Frage 4 Bezug genommen. Gefangene, die sich aus einem "islamistischen" Umfeld lösen möchten oder bei denen eine Chance hierfür besteht, werden angesprochen und ggf. der Weg zu fachkundigen Stellen, z.B. im Rahmen des Aussteigerprogramms des Verfassungsschutzes NRW, gebahnt. Auf örtlicher Ebene können Projekte zur Deradikalisierung verfolgt werden, sofern ein entsprechender Bedarf besteht und die angedachte Problemlösung der Komplexität des Themas gerecht wird. 4. Sind Fortbildungsmaßnahmen für Strafvollzugsbedienstete geplant, um diese bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt gezielt auf den Umgang mit islamistisch motivierten Gefangenen vorzubereiten? Die Bediensteten werden auf den Umgang mit problematischen Gefangenengruppen vorbereitet, wie bereits bei der Beantwortung der Frage 2 dargelegt worden ist. Eine Fortbildungsmaßnahme mit dem Titel "Sicherheitsfragen - Islam, Islamismus und Justizvollzug" für Strafvollzugsbedienstete des mittleren und gehobenen Dienstes wird bereits seit mehreren Jahren angeboten. Eine gemeinsame Projektgruppe "Zusammenarbeit von Polizei und Justiz auf dem Gebiet der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus" hat bereits im Jahr 2005 Indikatoren zum Erkennen islamistisch-terroristischer Zusammenhänge in Merkblättern für Staatsanwälte und Justizbedienstete zusammengefasst. Diese Merkblätter werden fortlaufend aktualisiert. Insbesondere sollen Beschäftigte der Justizvollzugsanstalten durch eine zielorientierte LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/7993 4 Sensibilisierung Verbindungen Inhaftierter zu islamistisch-terroristischen Kreisen frühzeitig erkennen. Auch der Verfassungsschutz NRW wirkt seit längerem bei Informationsveranstaltungen für Beschäftigte der Justizvollzugsanstalten zur Sensibilisierung hinsichtlich des Phänomenbereichs gewaltbereiter Salafismus mit. Dabei wird ausführlich zu den Erscheinungsformen, den Hintergründen und Inhalten des Islamismus und speziell Salafismus sensibilisiert. Die Veranstaltungen verfolgen das konkrete Ziel, die Beschäftigten in die Lage zu versetzen, bereits frühzeitig auch erste Radikalisierungstendenzen zu erkennen, diese von einer reinen Religionsausübung abzugrenzen und allgemeine Empfehlungen für den weiteren Umgang mit den Häftlingen zu erhalten. Es wird außerdem die Möglichkeit aufgezeigt, dass sich die Beschäftigten bei Bedarf in konkreten Einzelfällen an Beratungspersonen des Präventionsprogramms "Wegweiser" oder bei bereits radikalisierten Häftlingen an das Team des Aussteigerprogramms Islamismus beim Verfassungsschutz NRW wenden können. Diese nehmen dann weiterführende Gespräche in der jeweiligen JVA wahr. 5. Ist daran gedacht, in Deutschland ausgebildete muslimische Seelsorger, Sozialarbeiter und Psychologen damit zu betrauen, islamistisch radikalisierten Gefangenen Perspektiven zu Verhaltens- und Einstellungsänderungen zu eröffnen? Werden Gefangene als "islamistisch gefährdet oder radikalisiert" erkannt, stehen geeignete Mitarbeiter(innen) zur Verfügung, die ihnen einen Kontakt zu fachkundigen Stellen, z.B. beim Verfassungsschutz NRW, vermitteln können. Es ist beabsichtigt, die religiöse Betreuung muslimischer Gefangener auszubauen. Darüber hinaus wird aktuell geprüft, ob die vorhandene Problemlösungskompetenz des Justizvollzugs durch die Einstellung mehrerer Islamwissenschaftler oder -wissenschaftlerinnen weiter gesteigert werden kann. Diese könnten sich gezielt des Themas "Erkennen möglicher Radikalisierungsgefahren im Justizvollzug" annehmen, um weitere Optimierungspotentiale bei der Prävention zu erkennen.