LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/8092 09.03.2015 Datum des Originals: 06.03.2015/Ausgegeben: 12.03.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3086 vom 30. Januar 2015 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/7857 Wahlkreisgeometrie des Innenministers im südlichen Essener Landtagswahlkreis 68 – Aus welchen Gründen agiert die Landesregierung derart parteipolitisch motiviert bei der Neueinteilung des Wahlgebietes für die nächste Landtagswahl in 2017? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 3086 mit Schreiben vom 6. März 2015 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Als Wahlkreisgeometrie wird politikwissenschaftlich das Vorgehen bezeichnet, Einteilungen eines Wahlgebietes in Wahlkreise durch die aktuelle politische Mehrheit so vorzunehmen, dass diese für den nächsten Urnengang ihre Chancen für den Gewinn eines Wahlkreises optimiert. Wahlkreisgeometrie bezeichnet damit das Phänomen, dass die rein quantitativ etwa gleichgroße Zuordnung von Wahlberechtigtenzahlen zu Wahlkreisen eine scheinbare Objektivität nur vortäuscht und ganz ausdrücklich nicht ausreicht, um von einer fairen und sachgerechten Ausgangslage bei einer zukünftigen Wahlauseinandersetzung auszugehen. Bei einer willkürlichen und interessengeleiteten Einteilung des Wahlgebietes, die nur auf die Anzahl der Wahlberechtigten abstellt, ergeben sich strukturelle Ungerechtigkeiten für die Bewerber bei der Ansprache ihrer potentiellen Wählerschaft. Versuche der Wahlkreisgeometrie sind keine neue Erscheinung und werden bereits seit über 200 Jahren praktiziert. Bereits im Jahr 1812 hat der Massachusetts Governor Elbridge Gerry eine nicht nachvollziehbare Wahlkreiseinteilung vorgenommen, um die Zusammensetzung der parlamentarischen Vertretung zu manipulieren. Das Gebiet eines Wahlkreises hat dabei der Gestalt eines Salamanders geglichen, woher auch die Bezeichnung „Gerrymandering“ stammt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8092 2 Diese signifikanten Auswirkungen der Wahlkreisgeometrie bei einem Mehrheitswahlrecht kommen bei dem kombinierten nordrhein-westfälischen Wahlrecht, das üblicherweise die Mehrzahl der Sitze als Direktmandate vergibt und ferner mit einem Verhältnisausgleich das Zweitstimmenergebnis inklusive Ausgleich für Überhangmandate zur Berechnungsgrundlage der Parlamentszusammensetzung macht, zugegebenermaßen nicht analog zur Geltung. Die Frage der Wahlkreiseinteilung ist aber faktisch doch von gewisser Relevanz, da sie über die regionale Zusammensetzung des Landtags entscheidet, Einfluss hat auf die Optionen von Parteien zur Aufstellung von Kandidaten und deren jeweiliger Verankerung bei den Bürgern im Wahlgebiet sowie den Aufwuchs eines Parlaments durch zahlreiche Überhangmandate. Es ist völlig legitim und gewollt, dass Wahlentscheidungen nicht nur zugunsten von Parteien erfolgen, sondern auch von der persönlichen Identifikation mit Wahlbewerbern abhängen. Politikwissenschaften und Fachliteratur liefern etliche Hinweise auf Manipulationsstrategien beim Wahlkreiszuschnitt zur Schmälerung des Wahlerfolgs bei der Opposition. Ein beliebtes Mittel ist dabei die sogenannte Zerstreuung: Für die Opposition potentialreiche Gebiete eines Wahlkreises mit wechselnden Mehrheiten (Swing States) werden herausgeschnitten und auf mehrere andere umliegende Wahlkreise verteilt, um sie so in ihrer Wirkung zu neutralisieren. Um sich Vorwürfen einer interessengeleiteten Neubemessung eines Wahlgebietes gar nicht verdächtig zu machen, empfehlen sich klare Spielregeln beim Wahlkreiszuschnitt, die über Wahlperioden und konkrete Mehrheitskonstellationen hinaus Bestand haben und Akzeptanz finden, sowie ein Dialog mit der Opposition bei objektiven Anpassungsnotwendigkeiten. Auch die Hinzuziehung und Auswahl von neutralen Experten dient der breiten Legitimation von Entscheidungen über geänderte Wahlkreisgrenzen, wenn diese beispielsweise durch die demografische Veränderung von Wahlberechtigtenzahlen notwendig werden. Das nordrheinwestfälische Wahlrecht sieht zur Einhaltung des etwa gleichen Stimmgewichts eines Wählers zwar eine enge quantitative Beschränkung der Abweichung bei Wahlkreisgrößen über 20% vom Mittelwert vor (Bundestagswahlrecht ist mit 25% Schwankungstoleranz großzügiger), stellt den Wahlkreiszuschnitt aber allein ins Belieben der aktuellen Parlamentsmehrheit. Deshalb kommt einer fairen und transparenten Vorgehensweise der Regierungsmehrheit bei der regionalen Neueinteilung von Wahlkreisen eine große Bedeutung zu. Um Willkür beim Wahlkreiszuschnitt vorzubeugen und eine auf das Wahlergebnis gerichtete Manipulation zu erschweren, schlagen Wahlrechtsexperten folgende Spielregeln vor: - Wahlkreisgrenzen sollten möglichst eng mit anderen Verwaltungsgrenzen übereinstimmen. - Wahlkreisgebiete als solche sollten kompakt sein (keine unförmig angehängten Streifen). - Wahlkreiszuschnitte sollten sich an langjährigen bisherigen Einteilungen orientieren. Im Idealfall ist ein Wahlkreisgebiet identisch mit einem unter einem anderen Gesichtspunkt außerhalb der rein quantitativen Frage der Wahlberechtigtenzahl logischen Merkmal, das auch für die hiervon betroffenen wahlberechtigten Bürger problemlos nachvollziehbar ist, deren Akzeptanz findet und Identifikation schafft. Gegen all die zuvor genannten Grundsätze verstößt Innenminister Ralf Jäger erkennbar mit seinen aktuellen Planungen für ein Gesetz über die Wahlkreiseinteilung für die Wahl zum Landtag (Wahlkreisgesetz), nachlesbar in Landtags-Vorlage 16/2641 vom 23. Januar 2015, wie das bezeichnende Beispiel zur Neuordnung der Landtagswahlkreise im Gebiet der Stadt Essen leider eindrucksvoll dokumentiert. Zu den tatsächlichen Verhältnissen: Der südliche Essener Landtagswahlkreis (aktuell WK 68) besteht seit Jahrzehnten aus dem Gebiet der beiden südlichen Bezirksvertretungen Ruhrhalbinsel und Ruhrtal mit den Verwaltungsnummern VIII und IX. Durch die Reduzierung LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8092 3 der Wahlkreise (und der dadurch landesweit notwendigen Wahlkreisvergrößerung) ist ab der Landtagswahl 2005 zusätzlich der Stadtbezirk II hinzugefügt worden. Das Erfordernis einer Ausdehnung hat also sachlogisch zu einer Ausweitung des alten Wahlgebietes in Richtung Norden geführt. Basierend auf einem vereinfachten Verfahren der Bevölkerungsfortschreibung hat nun der Innenminister als landesweit durchschnittliche Anzahl deutscher Einwohner pro Wahlkreis knapp 124.000 ermittelt. Diese Berechnung ist zulässig, entspricht aber nicht der Anzahl der tatsächlich Wahlberechtigten, da dafür noch auf weitere Kriterien (wie Mindestalter 18 Jahre, keine Verwirkung des Wahlrechts etc.) abgestellt werden müsste. Für den WK 68 ergeben sich analog über 155.000 deutsche Einwohner, also eine Überschreitung von über 25%, die aufgrund der nur 20%-igen Schwankungsbreite nicht zulässig ist. Völlig unstrittig ist deshalb eine Verkleinerung notwendig für den WK 68, zumal die beiden angrenzenden Essener Wahlkreise WK 66 und 67 den Landesdurchschnitt unterschreiten und daher noch über Aufnahmepotential für neue Wahlberechtigte aus dem Essener Süden verfügen. Doch anstatt zur einzig naheliegenden Lösung zu greifen und den erst 2005 dem südlichen Landtagwahlkreis hinzugefügten Stadtbezirk II (oder Teile davon) wieder auszugliedern, will der Innenminister nun ein offensichtliches Gerrymandering praktizieren, indem er gezielt an mehreren ganz unterschiedlichen Rändern des WK 68 vier einzelne Stadtteile herauslöst, wodurch der WK 67 die Gestalt eines Dinosaurierkopfes und der WK 68 die eines halbhohen Stiefels erhält und der WK 66 willkürlich einen schmalen südlichen Längsstreifen angehängt bekommt. Sicherlich höchst zufällig handelt es sich bei genau diesen vier Stadtteilen gemäß des offiziellen statistischen Analysebandes vom Wahlamt der Stadt Essen um bürgerliche Hochburgen, die der SPD-Direktkandidat bei den zurückliegenden Landtagswahlen nicht für sich gewinnen konnte, während die Herauslösung von Stadtteilen aus dem Stadtbezirk II Gebiete mit wechselnden Mehrheitsverhältnissen beinhaltet (Karte S. 148). Offensichtlicher kann interessengeleitete Wahlkreisgeometrie kaum aussehen. Entgegen allen Traditionen, den administrativen Grenzen mehrerer Stadtbezirke und landschaftlich sowie sozialräumlich bestehenden Zusammenhängen sollen nun künstliche Wahlkreisverläufe gebildet werden, die im Ergebnis auf lange Zeit den Gewinn aller Essener Direktmandate zugunsten der SPDKandidaten sicherstellen dürften. Da ist es kaum verwunderlich, dass eine Konsultation der Opposition bei der Neueinteilung des Essener Wahlgebietes bislang gezielt unterblieben ist. Problemlos wären bei gutem Willen unterschiedliche andere Modelle zur Wahlkreisbildung zu finden und mit den politischen Wettbewerbern konfliktfrei zu verabreden gewesen, die zugleich eine breite Akzeptanz auch in der Bevölkerung gefunden hätten. Mit seinem Vorgehen widerspricht der Innenminister prozedural und inhaltlich allen üblichen Gepflogenheiten, insbesondere dabei den Grundsätzen, dass - Wahlkreise homogene und gewachsene Bereiche abbilden sollten - der Zuschnitt regionalen und historischen Besonderheiten Rechnung tragen sollte - Gebietsgrenzen nicht unnötig durchschnitten werden sollten - und eine möglichst große Kontinuität gelten sollte, auf die Wähler, Kandidaten und Parteien vertrauen dürfen. Der Innenminister ist dem Parlament dringend eine umfassende Erklärung für sein rational außerhalb von parteipolitischen Erwägungen nicht nachvollziehbares Vorgehen schuldig. Aus Gründen der politischen Brisanz wird um eine umfassende Darlegung zu nachfolgenden Fragekomplexen gebeten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8092 4 1. Aus welchen genauen Gründen heraus hat der amtierende Innenminister trotz der Brisanz der von ihm vorgeschlagenen Neuregelungen vor Veröffentlichung seiner Wahlkreisneueinteilungen nicht den Dialog mit allen Fraktionen des Landtags gesucht? Nach § 2 des Wahlkreisgesetzes vom 03.02.2004 (GV. NRW. S. 80), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.12.2009 (GV. NRW. S. 750), berichtet das für Inneres zuständige Ministerium dem Landtag über die Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet und in den Wahlkreisen und legt dar, ob und welche Änderungen es im Hinblick auf § 13 Abs. 2 des Landeswahlgesetzes (LWahlG) für geboten hält. Ein Anhörungsverfahren der Fraktionen des Landtags im Vorfeld ist gesetzlich nicht vorgesehen und ist auch bei der letzten Neueinteilung (Bericht vom 18.09.2007, LT-Vorlage 14/1327) nicht erfolgt. Der Bericht nimmt keine Entscheidung des Landtags vorweg, sondern dient ausschließlich als Beratungsunterlage zu Beginn des parlamentarischen Verfahrens zur Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs zur Änderung des Wahlkreisgesetzes. 2. Jeweils welche einzelnen Parteigliederungen von SPD und Grünen sowie Perso- nen aus den regierungstragenden Fraktionen hat der Innenminister offiziell sowie inoffiziell zur Neueinteilung der Essener Wahlkreise vor seiner Veröffentlichung der Vorlage 16/2641 am 28. Januar 2015 (Eingang beim Landtag) kontaktiert bzw. kontaktieren lassen? (vollständige Auflistung erbeten) Die Annahme, dass ein Minister im Vorfeld einer im politischen Raum bekannten Berichtsfrist über Vorschläge für die Einteilung von Wahlkreisen nicht von verschiedensten Seiten angesprochen und selbstverständlich auch mit Vorschlägen konfrontiert würde, entspricht nicht der Lebenswirklichkeit. Aufgrund dessen ist auch eine vollständige Auflistung von Kontakten bzw. Gesprächen, bei denen Fragen der Wahlkreiseinteilung angesprochen wurden, nicht leistbar. Maßgeblich ist, dass die in dem Bericht an den Landtag enthaltenen Vorschläge zu allen Wahlkreisen - nicht nur zu Essen - in eigener Verantwortung von mir entschieden wurden . 3. Zu welchen Zeitpunkten ist der beabsichtigte Neuzuschnitt der Landtagswahl- kreise für das Wahljahr 2017 jeweils Gegenstand einer Kabinettbefassung gewesen ? Die Berichtsaufforderung des § 2 des Wahlkreisgesetzes richtet sich an das für Inneres zuständige Ministerium und nicht an die Landesregierung. Eine Kabinettbefassung war daher nicht erforderlich. 4. Aus jeweils welchen einzelnen Gründen im Detail verstößt der Innenminister wie zuvor dargestellt mit seinem Essener Neueinteilungsvorschlag gleich gegen mehrere zentrale Grundsätze und Gepflogenheiten einer fairen und nachvollziehbaren Einteilung des Wahlgebietes außerhalb einer rein statistischen Einwohnerzahlenbetrachtung ? Die (Neu-)Einteilung von Landtagswahlkreisen findet ihre gesetzliche Grundlage in § 13 Abs. 2 LWahlG. Ein Verstoß gegen die dort beschriebenen Grundsätze liegt nicht vor. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8092 5 5. Welche weiteren Varianten zum Neuzuschnitt des Wahlgebietes von WK 68 hat der Innenminister jenseits seines letztlich mit Vorlage 16/2641 unterbreiteten Vorschlags zuvor in Erwägung gezogen und dann offenbar nicht mehr verfolgt? Wie im Bericht dargelegt, hat das Ministerium für Inneres und Kommunales bei der Erstellung des Berichtes alle Wahlkreise in den Blick genommen, bei denen die Abweichung +/- 18,0 % betrug. In allen Fällen, in denen ein Neuzuschnitt geboten bzw. in Betracht zu ziehen ist, sind verschiedenste Varianten denkbar. Der Bericht stellt einen Vorschlag an den Landtag dar. Er dient als Grundlage für das weitere parlamentarische Beratungsverfahren für einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlkreisgesetzes .