LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 10.03.2015 Datum des Originals: 09.03.2015/Ausgegeben: 13.03.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3006 vom 6. Januar 2015 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/7697 Schwierige Umsetzung der Schulpflicht für immer mehr Flüchtlingskinder in Mülheim - Welche konkrete Hilfe erfährt die Stadt bei der großen Herausforderung, traumatisierte Jugendliche ohne Deutschkenntnisse in den regulären Schulalltag zu integrieren? Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 3006 mit Schreiben vom 9. März 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales, dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales, der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport und der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Flüchtlingszahlen in Deutschland steigen durch zahlreiche weltweite Konflikte, wie zum Beispiel im Irak, in der Ukraine oder in Syrien, stetig an und haben sich in den vergangenen Monaten bereits drastisch erhöht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat Anfang Dezember 2014 mitgeteilt, dass bis dahin im Jahr 2014 schon 155.427 Asylerstanträge gestellt worden waren. Allein im Monat November hat das Bundesamt 18.748 Asylerstanträge entgegen genommen. Im Vergleichsmonat des Vorjahres waren es 12.130 Erstanträge, was einen Zuwachs von 54,6 Prozent bedeutet. Ein Ende des Zustroms ist nicht in Sicht. Für das Land und die Kommunen ist diese Situation auch deshalb eine ganz besondere Herausforderung, da für Flüchtlingskinder in Nordrhein-Westfalen gemäß Schulgesetz § 34, Absatz 6 grundsätzlich eine Schulpflicht besteht: „Die Schulpflicht besteht für Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und alleinstehende Kinder und Jugendliche, die einen Asylantrag gestellt haben, sobald sie einer Gemeinde zugewiesen sind und solange ihr Aufenthalt gestattet ist. Für ausreisepflichtige aus- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 2 ländische Kinder und Jugendliche besteht die Schulpflicht bis zur Erfüllung ihrer Ausreisepflicht .“ Für die Stadt Essen ist bekannt, dass derzeit rund 1.200 Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien an rund 40 örtlichen Schulen unterrichtet werden. Es ist anzunehmen, dass sich auch in der benachbarten Stadt Mülheim die Zahlen der schulpflichtigen Flüchtlingskinder in den vergangenen Wochen und Monaten rasant entwickelt haben. Schulen erfahren teils absolut kurzfristig, dass sie neue Flüchtlingskinder aufnehmen sollen, was sie oftmals nicht nur vor räumliche und organisatorische Probleme stellt. Viel gravierender sind die Herausforderungen durch fehlende Deutschkenntnisse der Kinder. Während sich die Arbeit mit Grundschulkindern auch dank etablierter Konzepte meist als leistbar erweist , wenn die vorhandenen Strukturen dem Bedarf angepasst werden, ist die Beschulung älterer Jugendlicher in den weiterführenden Schulen eine besondere Schwierigkeit. Dies liegt begründet in den höchst unterschiedlichen Biographien und Bildungsniveaus, die die jungen Flüchtlinge mitbringen. Zudem sind junge Flüchtlinge häufig durch Bürgerkrieg, Flucht und Gewalt traumatisiert und leiden unter posttraumatischen Störungen wie Depressionen oder Angstzuständen, die die Eingliederung deutlich erschwert oder sogar unmöglich macht. Angesichts der aktuellen und zukünftig verstärkt zu erwartenden Lage darf sich das Land Nordrhein-Westfalen hier nicht aus seiner Verantwortung stehlen. Es ist dringend geboten, die Stadt Mülheim als betroffenen Schulträger nach Kräften bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe in adäquater Weise zu unterstützen. Die amtierende Landesregierung betont regelmäßig ihren politischen Anspruch, kein Kind zurücklassen zu wollen. Der Landtag hat daher ein Anrecht darauf, im Detail zu erfahren, welche konkreten Leistungen für die zahlreichen hilfsbedürftigen Kinder und Jugendlichen erbracht werden und welche Unterstützung der kommunale Schulträger für die sachgerechte Bewältigung der Herausforderung im Einzelnen erfährt. Vorbemerkung der Landesregierung Die vorliegende Kleine Anfrage ist Teil einer Serie von inhaltsgleichen Kleinen Anfragen in einem Kreis und sieben kreisfreien Städten des Landes Nordrhein-Westfalen, die von den Abgeordneten Ralf Witzel und Thomas Nückel der Fraktion der FDP gestellt wurden. Die Beantwortung erfolgt jeweils nach einem gleichlautenden Schema. 1. Wie haben sich in der Stadt Mülheim in den vergangenen fünf Jahren die Flücht- lingszahlen jeweils jährlich differenziert nach Nationalität entwickelt? (bitte differenzierte Darstellung nach vorhandenem Bestand, jährlich neu hinzugekommenen Flüchtlingen sowie insgesamt) Unter dem Begriff „Flüchtlinge“ wird nicht nur die Personengruppe der Asylbewerber verstanden , sondern auch Personen, die aufgrund bestehender Rechtsgrundlagen (Bundes-, Landesaufnahmeanordnungen, Resettlementverfahren) nach Deutschland kommen. Die Zahl der Flüchtlinge aller Nationalitäten in der Stadt Mülheim hat sich in den letzten fünf Jahren wie folgt entwickelt: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 3 Gesamt 2010 69 2011 82 2012 124 2013 245 2014 417 Summe 937 Die Reihung der Flüchtlinge ist der Top-Ten-Liste der Herkunftsländer der BAMFGeschäftsstatistik (Stand 01.2015) entnommen. Diese stellt sich in der Stadt Mülheim für die Jahre 2010 bis 2014 wie folgt dar: Stadt Mülheim Syrien 101 Republik Kosovo 53 Republik Serbien 177 Albanien 48 Afghanistan 29 Irak 92 Eritrea 26 Mazedonien 78 Nigeria 25 Bosnien-Herzegowina 11 Sonstige Staaten und Staatenlose 39 Eine Differenzierung nach Jahren war in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 2. Wie haben sich in der Stadt Mülheim in den vergangenen fünf Jahren die Zahlen an schulpflichtigen Flüchtlingskindern jeweils jährlich differenziert nach Schulform und aufnehmendem Schulstandort entwickelt? Die Zahl der schulpflichtigen Flüchtlingskinder wird mit den Amtlichen Schuldaten nicht erfasst . Nach den Statistiken der Bezirksregierung Arnsberg, die zentral die vom Bund auf das Land NRW verteilten Flüchtlinge erfassen, stellen sich die Zahlen schulpflichtiger Flüchtlingskinder in der Stadt Mülheim wie folgt dar: 6-17 Jahre 2010 21 2011 16 2012 40 2013 62 2014 65 Zur Differenzierung nach Schulform und aufnehmenden Schulstandort liegen keine Daten vor. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 4 3. Welche Leistungen gewährt das Land in den letzten fünf Jahren jeweils jährlich der Stadt Mülheim zur Beschulung von Flüchtlingskindern? (differenzierte Darstellung nach allen sächlichen, personellen und finanziellen Leistungen erbeten) Das Land gewährt den Gemeinden Leistungen für Flüchtlinge sowohl in Form der pauschalierten Zahlungen nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG) als auch nach dem Teilhabe - und Integrationsgesetz (TIntG). Eine differenzierte Darstellung nach sächlichen, personellen und finanziellen Leistungen kann nicht erfolgen. Pauschalen nach dem FlüAG wurden der Stadt Mülheim wie folgt gewährt: 2010: 274.836 2011: 327.000 2012: 474.175 2013: 690.184 2014: 990.534 Ab dem Jahr 2013 wurde neben der Pauschalierten Landeszuweisung gem. §4 FlüAG zusätzlich eine pauschalierte Sonderzuweisung gem. §4b FlüAG aufgrund des Urteils des BVerfG vom 18.07.2012 gezahlt. Pauschalen nach dem TIntG wurden der Stadt Mülheim wie folgt gewährt: 2010: - 2011: - 2012: 1.000 € 2013: - 2014: 1.500 € Die Stadt Mülheim entscheidet über die konkrete Verwendung dieser Pauschalen. Zur Beschulung von zugewanderten Kindern ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen stellt das Land - jeweils für den Zeitraum von zwei Jahren - Integrationsstellen zur Verfügung . Diese Stellen werden den Schulen auf Antrag zugewiesen, wobei die Antragstellung von unterer und oberer Schulaufsicht begleitet wird. Die Integrationsstellen ersetzen nicht den Regelunterricht, sondern sie dienen der zusätzlichen Sprachförderung der angesprochenen Gruppe. Die Kinder und Jugendlichen erhalten also Unterrichtsstunden aus dem Regelbereich und zusätzlich aus den Stellen für Integration . Pro Seiteneinsteigergruppe steht dafür in der Regel ein Stellenanteil von 0,5 Lehrerstellen zur Verfügung. Hierbei wird nicht differenziert zwischen Flüchtlingen und Kindern von zuwandernden EU-Bürgern, lediglich der Sprachstand ist ausschlaggebend für die Förderung . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 5 In Mülheim verteilen sich diese Stellen wie folgt auf die einzelnen Schulformen: Schulform Integrationsstellen gesamt davon für Seiteneinsteigerförderung Grundschule 10 9 Hauptschule 4 4 Förderschulen 2 2 Realschulen 4 2 Gesamtschulen 4 1 Gymnasien 4 4 Berufskollegs 3 1 Summe 31 23 Bis Juli 2013 wurden in Nordrhein-Westfalen Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien – RAA – gefördert. Seit August 2013 wird die Struktur der Kommunalen Integrationszentren (KI) durch die Ministerien für Arbeit, Integration und Soziales sowie für Schule und Weiterbildung gefördert (5,5 Personalstellen). Sie sind wichtige Partner im Land NRW um sicherzustellen, dass allen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an Bildung ermöglicht wird. Sie haben u.a. die Aufgabe, sowohl Schulen als auch außerschulische Bildungsträger bei der Erfüllung ihres Bildungsund Erziehungsauftrages und auch zuwandernde Kinder, Jugendliche und ihre Eltern in Bildungsfragen zu beraten und zu unterstützen. Ein Schwerpunkt im Kontext dieser Aufgaben ist auch die sogenannte Seiteneinsteigerberatung. 4. Welche besonderen physischen wie psychischen Gesundheitsmerkmale weisen Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien auf, die in den vergangenen fünf Jahren in die Stadt Mülheim gekommen sind? (differenzierte Darstellung unter Nennung wesentlicher Befunde und Herkunftsländern mit besonderer Problemausprägung erbeten) Eine differenzierte Darstellung unter Nennung wesentlicher Befunde und Herkunftsländern ist nicht möglich, da Gesundheitsdaten zum aktuellen physischen und psychischen Status nicht generell während der ersten Aufnahme in Nordrhein-Westfalen bei jeder und jedem Asylsuchenden erhoben werden. Seiteneinsteigende Kinder und Jugendliche werden zum Beginn ihrer Einschulung vom Öffentlichen Gesundheitsdienst schulärztlich untersucht. Es wird jedoch keine systematische Datendokumentation zum Gesundheitsstatus von seiteneinsteigenden Kindern und Jugendlichen vorgenommen. Bei einer qualitativen Abfrage, die das Landeszentrum Gesundheit NRW im Sommer 2014 bei allen Gesundheitsämtern zum Thema schulärztlicher Untersuchungen von Seiteneinsteigern durchgeführt hat, wurden von den Schulärztinnen und Schulärzten die teilweise schwierigen psychosozialen Lebensumstände herausgestellt. Die Traumatisierung durch das Erleben von Flucht, Krieg und Gewalt wurde ebenfalls in diesem Kontext erwähnt. Auf den häufig schlechten Zustand der Zähne wurde ebenso hingewiesen wie auf den zum Teil mangelnden Impfschutz der seiteneinsteigenden Kinder und Jugendlichen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8095 6 5. Welche Leistungen gewährt das Land der Stadt Mülheim, um speziell den jungen häufig traumatisierten Flüchtlingskindern adäquate psychologische oder sozialpädagogische Unterstützung zukommen zu lassen? Gemäß § 89 d SGB VIII werden den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für die Unterbringung, Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen von den Ländern erstattet. Unter die Kostenerstattungspflicht der Länder fallen auch Leistungen der sozialpädagogischen Unterstützung, sowie ggf. eine psychotherapeutische Behandlung. Welches Land konkret der Stadt Mülheim die Kosten in jedem Einzelfall erstattet, wird vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Grundsätzlich kann die Landesregierung bei Anträgen der jeweils zuständigen Kommunen (in der Regel untere Gesundheitsbehörde) im Einzelfall Zuwendungen für besondere Leistungen gewähren (z.B. Impfungen). Vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter wurden für psychosoziale, psychiatrische oder psychotherapeutische Leistungen in den letzten fünf Jahren keine Zuwendungen an die Stadt Mülheim bereitgestellt.