LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/8223 19.03.2015 Datum des Originals: 18.03.2015/Ausgegeben: 24.03.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3135 vom 17. Februar 2015 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/7943 Verzögerungen bei der Abschiebung ausreisepflichtiger Personen in Essen – Welche kommunalen Mehrbelastungen bei der Asylbewerberunterbringung erwachsen aus den Versäumnissen des Landes? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 3135 mit Schreiben vom 18. März 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist in Deutschland ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht. Es ist unsere humanitäre Verpflichtung der Zivilgesellschaft, bedauernswerten Menschen aus den Krisenregionen dieser Welt Schutz zu bieten, deren Leben durch Krieg, Terror oder durch Verfolgung bedroht ist. Für diese Hilfen gibt es dankenswerterweise ein großes Verständnis und eine breite Unterstützung in allen Teilen der Bevölkerung. Zugleich haben die seit etlichen Monaten stark ansteigenden Flüchtlingsströme dazu geführt, dass Kommunen bei ihren Bemühungen einer bestmöglichen Asylbewerberunterbringung zunehmend mit einer stark ansteigenden Armutsmigration aus sicheren Herkunftsländern konfrontiert werden. Dieser Umstand und die wachsenden Zuwanderungszahlen hindern gerade arme Großstädte in der Ruhrregion daran, ihre ganze Kraft und Integrationsleistung auf die Unterbringung tatsächlich verfolgter und bedrohter Menschen zu richten. Der Rat der Stadt Essen beschäftigt sich seit über einem Jahr regelmäßig damit, immer neue und weitere Unterkünfte für Asylbewerber einzurichten. Vorhandene Planungen für Standorte werden schnell von den stark ansteigenden Flüchtlingszahlen überholt. Die Stadt Essen ist die am höchsten verschuldete Stadt Deutschlands, die daher auch die mit Abstand größten Geldleistungen aus dem Stärkungspakt des Landes bezieht. Die Stadt Essen wird infolge der neuen Herausforderungen bei der Asylbewerberunterbringung voraussichtlich schon bald ihre Nettokreditaufnahme wieder ausweiten müssen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8223 2 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Rückführung ausreisepflichtiger Personen, die aus den sicheren Herkunftsstaaten stammen, zunehmend an Bedeutung für die Stadt. Allein aus den drei Westbalkanländern Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien leben über 800 Asylbewerber in Essener Unterbringungseinrichtungen. Ein Großteil dieses Personenkreises ist sofort oder zumindest nach Beendigung von temporären rechtlichen Hemmnissen wie Krankheiten oder Klageverfahren ausreisepflichtig. Im zurückliegenden Jahr 2014 ist aber nur ein kleiner Teil der tatsächlich ausreisepflichtigen Personen auch freiwillig ausgereist oder zwangsweise zurückgeführt worden. Die Stadt hat ein hohes Interesse daran, dass für Personen aus sicheren Herkunftsländern, für die eine grundsätzliche Ausreisepflicht besteht, die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch zeitnah durchgeführt werden. Vor diesem Hintergrund werden zusätzliche Hemmnisse für eine baldige Umsetzung der Ausreisepflicht für Personen aus den Westbalkanrepubliken vor Ort kritisch gesehen, die sich unter anderem aus einem neuen Erlass des Innenministers vom 22. Dezember 2014 ergeben. Trotz stark anwachsender Flüchtlingszahlen bleibt der Abschiebeprozess in der Stadt Essen, für den das Land Verantwortung trägt, bereits seit einiger Zeit deutlich hinter den rechtlichen Möglichkeiten zurück. Bei konsequenter Anwendung der gültigen Gesetzeslage könnten also viele Ressourcen eingespart werden und Hilfeleistungen deutlich besser auf die Betreuung von Erstantragstellern und tatsächlich asylberechtigten Personen konzentriert werden. Unser Land sollte weiterhin zu seiner humanitären Verpflichtung stehen, Menschen, die vor Unrecht und Gewalt fliehen, bei uns eine menschenwürdige Zuflucht zu ermöglichen. Dazu gehört auch, für die Zeit eines legalen Aufenthaltes am Arbeits- und Sozialleben teilhaben zu können. Millionen Menschen in unserem Land haben schon heute ausländische Wurzeln. Zusammen mit den Einheimischen ohne eine Migrationsgeschichte bilden sie unsere offene Gesellschaft. In ihr sind gemeinsame Regeln, gegenseitiger Respekt und Bereitschaft zu Teilhabe unabdingbar für das Miteinander. Die Themenfelder der gesteuerten Einwanderung und des Grundrechts auf Asyl werden in der öffentlichen Debatte oft vermischt – Gründe, Maßstäbe und Regeln müssen dafür jedoch ganz andere sein. Für gezielte Einwanderung sind neue rechtliche Regeln notwendig, nicht aber als Anspruchsgrundlage das Asylrecht. Vorbemerkung der Landesregierung Die Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder haben am 17.10.2014 in einer gemeinsamen Erklärung zu den Herausforderungen der Flüchtlingspolitik u.a. Folgendes festgehalten: „Damit wirklich Schutzberechtigte zeitnah ihren Aufenthaltsstatus erhalten können und die große Akzeptanz der Bevölkerung bei der Aufnahme von Flüchtlingen nachhaltig erhalten bleibt, ist es vorbehaltlich unabweisbarer Härten unabdingbar, bestehende Ausreisepflichten konsequent durchzusetzen. Bund und Länder richten für Problemfälle, insbesondere Dublin-Überstellungen, eine Koordinierungsstelle zur Etablierung eines integrierten Rückkehrmanagements ein.“ Unter der Moderation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wurde die BundLänder -Koordinierungsstelle `Integriertes Rückkehrmanagement´ (BLK-IRM) zu allen Aspekten der Rückkehrpolitik (Rückführung, freiwillige Rückkehr, Reintegration) inzwischen eingerichtet. In einem gemeinsamen Lenkungsausschuss sollen sich die drei Bereiche folgender Handlungsfelder annehmen:  Identifizierung prioritärer Problembereiche bei der Durchsetzung bestehender Ausreisepflichten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8223 3  Bereitstellung praktischer Unterstützungsmöglichkeiten der handelnden Stellen über die Themen Pass(ersatzpapier)beschaffung und Flugbuchung hinaus in den Bereichen Dublin-Überstellungen, Schaffung von Schwerpunktbehörden, Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Ausreisepflichtigen, Freiwillige Rückkehr (zB Rückkehrberatung).  Erarbeitung einheitlicher Standards und praktischer Handlungsanleitungen (Best Practice). 1. Wie viele der grundsätzlich ausreisepflichtigen Asylbewerber in der Stadt Essen haben differenziert nach Geschlecht, Alter und Herkunftsland in den letzten fünf Jahren jeweils jährlich, aufgeschlüsselt nach freiwilliger Ausreise in ihre Heimat bzw. zwangsweiser Abschiebung, auch tatsächlich die Stadt Essen verlassen? Die erbetenen Angaben konnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Registerbehörde dem Ausländerzentralregister nicht entnehmen. Soweit sich die Frage auf den Personenkreis der ausreisepflichtigen Asylbewerber aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina beschränkt, konnte die Ausländerbehörde Essen auf der Basis eigener Erfassungen die Zahl der von ihr durchgeführten Abschiebungen mitteilen: Bosnien und Herzegowina Mazedonien Serbien 2010 2 2 2011 6 3 26 2012 1 2 20 2013 2 4 10 2014 1 2 10 Gesamt: 12 11 68 Statistische Angaben über Geschlecht und Alter liegen nicht vor. Nach Angaben der Ausländerbehörde Essen sind in den vergangenen fünf Jahren darüber hinaus ca. 1.500 Personen freiwillig ausgereist, davon 325 im Jahr 2013 und 283 im Jahr 2014. Es ist darauf hinzuweisen, dass eine hohe Zahl freiwillig ausgereister Personen regelmäßig, teilweise binnen weniger Wochen und Monate, mehrfach zwischen ihrem Heimatland und der Bundesrepublik hin und her reisen und Asylfolgeanträge stellen. Daher kommt es zu Mehrfacherfassungen. 2. Welches sind jeweils quantifiziert die wichtigsten Sachgründe dafür gewesen, dass die in Essen lebenden ausreisepflichtigen Personen in den letzten zwei Jahren nicht auch tatsächlich in ihr Herkunftsland abgeschoben worden sind? Die Gründe für im Einzelfall nicht vollzogene Abschiebungen werden statistisch nicht erfasst und sind daher nicht quantifizierbar. Als nicht nur den Zuständigkeitsbezirk Essen betreffende Hauptursachen können jedoch die Geltendmachung von inlandsbezogenen Abschiebehindernissen genannt werden: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8223 4  Häufig liegen gesundheitliche Vollzugshindernisse vor (Reiseunfähigkeit), zumeist psychische Erkrankungen. Häufig bedarf es dann zur Abklärung der Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens.  Bei Familienabschiebung die Vorlage von Attesten (Reiseunfähigkeit) für einzelne Familienmitglieder, ggf. auch zu unterschiedlichen Zeiten und für verschiedene Familienmitglieder. Die Trennung von Familien ist stets problematisch.  Reiseunfähigkeit aufgrund von Risikoschwangerschaften.  Häufig werden nicht alle Familienmitglieder angetroffen. Die Trennung von Familien ist stets problematisch.  Häufig werden noch kurz vor dem Flugtermin ärztliche Atteste vorgelegt oder Betroffene befinden sich kurzzeitig in einem stationären Krankenhausaufenthalt.  Vaterschaftsanerkennungen von deutschen Staatsangehörigen.  Härtefallanträge.  Fehlende Nationalpässe und Identitätsdokumente mit der Folge langwieriger Passersatzpapierverfahren.  Rückzuführende können erst zur Flugbuchung gemeldet werden, wenn alle denkbaren Vollzugshindernisse überprüft wurden, da es ansonsten zu noch höheren Stornierungszahlen kommt und im Falle eines verwaltungsgerichtlichen Eilantrages ein nicht unerhebliches Prozessrisiko besteht. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der Bereitstellung von Sammelchartern nicht ausschlaggebend für die Frage des zügigen Vollzugs ist. Reicht die Zahl der Anmeldungen für eine in wirtschaftlich vertretbarem Umfang nutzbare Kapazitätsauslastung eines landeseigenen Sammelcharters nicht aus und stehen auch keine nutzbaren Kontingente auf Sammelchartern anderer Länder und/oder Mitgliedstaaten (sogen. Frontex-Charter) zur Verfügung, werden die angemeldeten Personen stattdessen auf Linienflüge gebucht. 3. Welche quantitativen Kapazitäten für Abschiebungen kann bzw. wird das Land der Stadt Essen für das Jahr 2015 in etwa zur Verfügung stellen? (bitte mit Vergleichswert für 2014) Den Ausländerbehörden werden keine gesonderten „Kapazitäten“ für Abschiebungen bereitgestellt. Die Zentralstelle für Flugabschiebung des Landes Nordrhein-Westfalen (ZFA) bei der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld bucht für jeden der gemeldeten Rückzuführenden so zeitnah wie möglich den entsprechenden Flug. Von der jeweiligen Bedarfslage hängt es ab, ob die Betroffenen auf Linienflüge gebucht werden oder Sammelcharter organisiert werden (siehe Ausführungen zu Frage 2). 4. Welche Kosten sind der Stadt Essen in den letzten fünf Jahren jeweils jährlich durch den Umstand entstanden, dass vollziehbar ausreisepflichtige Personen nicht auch tatsächlich die Stadt verlassen haben? Genaue Kosten vermag die Stadt Essen nicht zu verifizieren, nicht jeder einzelne Fall kann berechnet werden. Die Stadt Essen geht von folgenden Durchschnittsleistungen aus: Die durchschnittlichen monatlichen Leistungen nach dem AsylbLG betrugen im Jahr 2014 für Asylbewerber gemäß § 3 AsylbLG pro Person 626 €. In den Essener Einrichtungen halten sich derzeit rund 1.000 Asylbewerber aus den genannten drei sicheren Herkunftsstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina sowie aus den weiteren Westbalkanstaaten Kosovo und Albanien auf. Der überwiegende LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8223 5 Teil dieses Personenkreises ist nach Abschluss des Asylverfahrens vollziehbar ausreispflichtig, derzeit ca. 650 Personen. Mit ablehnendem Bescheid des Bundesamtes sind die Asylantragsteller grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet. Die zwangsweise Rückführung setzt darüber hinaus sowohl die Vollziehbarkeit/Bestandskraft dieser Asylentscheidung, als auch das Fehlen sonstiger Abschiebehindernisse voraus (siehe Ausführungen zu Frage 2). Die unterschiedlichen Stadien dieses Verfahrens werden quantitativ nicht erfasst. Deshalb können die Fragen nach der aktuellen Zahl der Personen, die zwangsweise zurückgeführt werden können, und nach den damit zusammenhängenden Kosten nicht beantwortet werden. 5. Welche konkreten Maßnahmen, differenziert nach Instrumenten zur Aufenthaltsbeendigung für alle Ausreisepflichtigen und Mitteln zur prozeduralen Beschleunigung der Asylverfahren, ergreift die Landesregierung bislang seit Anstieg der Flüchtlingsströme, aktuell und zukünftig noch neu, um die Stadt Essen zu entlasten? Siehe Vorbemerkungen.