LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 16.04.2015 Datum des Originals: 16.04.2015/Ausgegeben: 21.04.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3220 vom 11. März 2015 der Abgeordneten Andrea Milz CDU Drucksache 16/8181 Welche Möglichkeiten zur Behandlung von umwelterkrankten Menschen gibt es in Nordrhein-Westfalen? Der Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage 3220 mit Schreiben vom 16. April 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter sowie der Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Versorgung umwelterkrankter Menschen stellt die Gesellschaft vor neue Herausforderungen . Patienten mit MCS (Multiple chemicals sensitivity, T 78.4) CFS (Chronic fatique syndrome ,) G 93.3 und FMS (Fibromyalgie syndrome, M 79.70) leiden oftmals an verschiedenen Symptomen, die aber meist einem bestimmten Krankheitsbild zunächst nicht zugeordnet werden können. Als Auslöser der Beschwerden gelten chemische Stoffe, denen man tagtäglich ausgesetzt ist und die von Betroffenen nicht über das körpereigene Entgiftungssystem abgebaut werden können. Um eine Verschlechterung des Gesundheitszustands der betroffenen Menschen zu verhindern, benötigen sie eine spezielle Versorgung. Vorbemerkung der Landesregierung Bei MCS (Multiple Chemical Sensitivity), CFS (Chronic Fatigue Syndrome) und FMS (Fibromyalgiesyndrom ) handelt es sich um sogenannte Syndrome. Das Syndrom ist in der Medizin das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Krankheitszeichen (Symptome). Deren ursächlicher Zusammenhang ist mehr oder weniger bekannt oder kann zumindest vermutet werden, jedoch ist die Entstehung und Entwicklung der Krankheit nicht bekannt. Von Syndrom wird häufig dann gesprochen, wenn es sich um zumindest in gewisser Hinsicht einheitliche und in vergleichbaren Fällen ähnliche Krankheitszeichen handelt. Erst wenn sowohl ursächlicher Zusammenhang als auch Entstehung und Entwicklung bekannt sind, handelt es sich um ein Krankheitsbild. Die Ermittlung dieser Zusammenhänge stellt bei der Diagnose einer Krank- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 2 heit immer den ersten Schritt zu einer Krankheitssystematik oder Krankheitslehre und damit zu ihrem Verständnis und zu ihrer Behandlung dar. Zu MCS (Multiple Chemical Sensitivity, T78.4): Dieses Beschwerdebild mit z. T. starken Unverträglichkeiten gegenüber einer Vielzahl von flüchtigen Chemikalien wird aufgrund des Fehlens einer verbindlichen Krankheitsdefinition in der Literatur unterschiedlich beschrieben. Die in internationalen Studien angegebenen Häufigkeiten zum Auftreten von MCS schwanken zwischen 0,5% und 6,3% der Bevölkerung. In der deutschen Multi-Center-Studie des Umweltbundesamtes zu MCS konnten keine systematischen Zusammenhänge zu Umweltnoxen als Ursache dieses Krankheitsbildes gefunden werden. Es wurden verschiedene psychische Auffälligkeiten und weitere Symptome aus dem Bereich der psychosomatischen Beschwerden als Begleitdiagnosen gefunden. Eine Beurteilung ist daher schwierig. Zu CFS (Chronic Fatigue Syndrome, G93.3): Die Prävalenz des Chronischen Erschöpfungssyndroms liegt in internationalen Studien bei etwa 1 bis 3% der Bevölkerung. Zu FMS (Fibromyalgiesyndrom, M79.70): Die Fibromyalgie (Faser-Muskel-Schmerz) ist eine chronische und unheilbare Erkrankung, gekennzeichnet durch weit verbreitete Schmerzen mit wechselnder Lokalisation in der Muskulatur , den Gelenken und der Wirbelsäule sowie vielfältigen Begleitsymptomen. Laut der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) S 3 Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms“ haben 0,7 – 3,3% der Bevölkerung die gesicherte Diagnose „Fibromyalgiesyndrom“. Sowohl das Chronische Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome, ICD-10 G93.3) als auch das Fibromyalgiesyndrom (ICD-10 M79.70) werden in der Forschungsliteratur als Manifestation einer Dysbalance zwischen Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem beschrieben, bei denen für die Ursache wie auch für die Mechanismen der Entstehung bisher nur Hypothesen existieren. Körperliche und psychische Traumata sowie Störungen des Immunsystems scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Umweltnoxen als Auslöser dieser beiden Syndrome werden in der wissenschaftlichen Literatur nicht benannt. Da es sich nicht um definierte Krankheitsbilder handelt, muss jeder Fall im Hinblick auf die Ursache(n) der Beschwerden individuell abgeklärt werden. 1. Wie viele Menschen in Nordrhein-Westfalen leiden unter den oben beschriebenen Krankheiten (aufgelistet nach der Anzahl, Alter und den einzelnen Krankheitsbildern )? Die drei in der Vorbemerkung der Anfrage genannten Syndrome zählen zur Gruppe der seltenen Erkrankungen mit teilweise ungeklärter Ursache. Da es sich bei den in der Anfrage genannten Syndromen um spezielle Untergruppen von Krankheitsbildern handelt, werden sie in der hierarchischen ICD-10-Klassifizierung (International Classification of Diseases der WHO) in der vierten Stelle kodiert, allerdings sind in den Routinestatistiken (Angaben der Krankenhäuser über erbrachte Leistungen) in der Regel nur die ersten drei Stellen erfasst. Daher stehen für diese Auswertung NRW-Daten nur aus der Krankenhausdiagnosestatistik zur Verfügung. Es ist davon auszugehen, dass der überwiegende Teil der Betroffenen mit diesen Symptomen nur ambulant behandelt wird und daher stationäre Behandlungsdaten nur grobe Rückschlüsse auf die Alters- und Geschlechtsverteilung der drei Syndrome zulassen . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 3 Zu MCS: Im Jahr 2013 wurden 860 Personen wegen dieser Diagnose in Nordrhein-Westfalen im Krankenhaus behandelt, davon 506 Frauen und 354 Männer. Allerdings umfasst die ICD-10 Diagnose T78.4 alle „Nicht näher bezeichneten Allergien“; MCS macht wahrscheinlich nur einen Teil dieser Fälle aus. Tab. 1: Krankenhausbehandlungen wegen ICD-10 T78.4, NRW, 2013 Zu CFS: Im Jahr 2013 wurden 179 Personen wegen eines Chronischen Erschöpfungssyndroms in Nordrhein-Westfalen im Krankenhaus behandelt, der Krankheitsgipfel liegt zwischen 45 und 60 Jahren, Frauen werden doppelt so häufig stationär behandelt wie Männer. Tab. 2: Krankenhausbehandlungen wegen ICD-10 G93.3, NRW, 2013 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 4 Zu FMS: In Nordrhein-Westfalen wurden 2013 insgesamt 4.086 Personen wegen dieser Diagnose stationär behandelt, 93% der Behandelten waren Frauen, auch hier liegt der Behandlungsgipfel im mittleren Alter. Tab. 3: Krankenhausbehandlungen wegen ICD-10 M79.7, NRW, 2013 2. In welchen Kliniken/Praxen in Nordrhein-Westfalen gibt es den Bereich „Umwelt- medizin“ bzw. zumindest umweltmedizinisch ausgebildete Fachärzte, die Patienten mit den o.g. Krankheiten speziell, ganzheitlich und interdisziplinär behandelt können? 3. Gibt es Akut-Krankenhausbetten für die o. g. Patienten, bei denen auf die indivi- duelle Empfindlichkeit (Suszeptibilität) gegenüber Schadstoffen und deren genetischen Grundlagen geachtet wird? Frage 2 und 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Angaben zu umweltmedizinischen Fachabteilungen von Krankenhäusern und zu umweltmedizinischen Praxen und Fachärztinnen/Fachärzten liegen in der amtlichen Statistik nicht vor. In der Systematik der Krankenhausstatistik gibt es keine Fachabteilungsposition „Umweltmedizin “; die Betroffenen werden je nach Beschwerdebild in verschiedenen Abteilungen (Psychotherapeutische Medizin, Schmerzklinik, Innere Medizin etc.) behandelt. Es gibt keine Facharztausbildung allein für das Fach Umweltmedizin, die Facharztbezeichnung lautet „Fachärztin/Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin“ und führt häufig zu Tätigkeiten in der Krankenhaushygiene oder im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Alternativ kann eine Fachärztin/ein Facharzt die Zusatzbezeichnung „Umweltmedizin“ erwerben. Konkrete Zahlen zu Ärztinnen und Ärzten mit dieser Zusatzbezeichnung oder der genannten Facharztausbildung zu diesem Sektor liegen nicht vor. Die Universitätskliniken in NRW betreuen Patientinnen und Patienten zum Teil in speziellen Kliniken für Arbeits- und Umweltmedizin, zum Teil aber auch in anderen Kliniken, wie z. B. der Dermatologie. Die Betreuung erfolgt durch entsprechend vorgebildetes Personal. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 5 4. Gibt es Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen, die Forschungen betreiben, um das Wissen über die physiologischen Vorgänge und Zusammenhänge bei diesen Krankheitsbildern zu vertiefen, mit dem Ziel, besser diagnostizieren und letztlich gezielter behandeln zu können? (wenn ja, bitte die Einrichtungen mit den jeweiligen Schwerpunkten auflisten) Es gibt eine Reihe von Einrichtungen, die - unabhängig von den genannten Syndromen - Untersuchungen und Forschungen zu umweltmedizinischen Zusammenhängen durchführen. Im Rahmen des Rechercheaufwands, der im Rahmen der Beantwortung einer Kleinen Anfrage möglich ist, werden insbesondere folgende Beispiele genannt: Am Institut und der Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung der Universität Köln werden vor allem epidemiologische Studien zu Kausalzusammenhängen zwischen Noxen an Arbeitsplätzen sowie in Umweltbereichen und der Entwicklung von bösartigen Erkrankungen erarbeitet. Die Medizinische Fakultät Düsseldorf, das Universitätsklinikum und das Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung (IUF) an der Universität Düsseldorf forschen gemeinsam vor allem auf den Gebieten der umweltinduzierten Alterungsprozesse, der Störungen von Immunreaktionen und der Neurotoxizität. Neben den Folgen von Strahlung werden Auswirkungen von Chemikalien und luftgetragenen Partikeln untersucht. Das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der Technischen Universität Dortmund (IfADo) erforscht die Potenziale und Risiken moderner Arbeit auf lebens- und verhaltenswissenschaftlicher Grundlage. Aus den Erkenntnissen werden Prinzipien für die Gestaltung der Arbeitswelt zur Förderung von Leistung und Gesundheit gewonnen. Am Institut für Hygiene und Umweltmedizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen werden interdisziplinäre umweltmedizinische, naturwissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Fragestellungen bearbeitet, die sich aus den Teilgebieten Wasser -, Boden-, Luft- und Arbeitshygiene sowie Umweltmedizin, Epidemiologie und Umweltmikrobiologie ableiten lassen. Das Institut für Hygiene, Sozial- und Umweltmedizin der Ruhr-Universität Bochum bearbeitet ebenfalls Fragestellungen der Umweltmedizin, Epidemiologie und Umwelttoxikologie. 5. Was tut die Landesregierung um umwelterkrankten Menschen in NRW zu helfen? Jeder Fall einer Umwelterkrankung muss individuell abgeklärt werden, was nur im persönlichen Kontakt der betroffenen Patientin/des Patienten und der Ärztin/dem Arzt ihres/seines Vertrauens möglich ist. Die Einrichtungen des Landes sind hauptsächlich mit der Prävention vor umweltbedingten Erkrankungen betraut. Darüber hinaus verfolgt die Landesregierung auf bevölkerungsbezogener Ebene wissenschaftliche Erkenntnisse und Entwicklungen in der Umweltmedizin. Unter Leitung von Umweltmedizinerinnen/Umweltmedizinern und Toxikologinnen/Toxikologen des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV) wurden auch eigene Untersuchungen hierzu vorgenommen (z. B. Feinstaub-Kohorte Frauen NRW oder ChromNickel -Studie in der Umgebung von Edelstahlwerken). Die auf Ebene der Bevölkerung erhaltenen Erkenntnisse zum Zusammenhang von Umweltnoxen und Gesundheit können wiederum individualmedizinisch von umweltmedizinisch ausgebildeten Arztinnen/Ärzten genutzt werden. Das LANUV berät außerdem den öffentlichen Gesundheitsdienst in umweltmedizinischen Fragen und ist an der Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen/Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Bereich Umweltmedizin beteiligt. Auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse wirkt die Landesregierung auch an der Weiterentwicklung gesetzlicher Regelungen mit. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/8398 6 Die Beratung zu umweltmedizinischen Fragestellungen ist Teil des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst in NRW. Eine Liste umweltmedizinischer Beratungsstellen und Ambulanzen für NRW ist im Internet zugänglich: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/377/dokumente/nw.pdf