LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9310 20.07.2015 Datum des Originals: 17.07.2015/Ausgegeben: 23.07.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3591 vom 17. Juni 2015 des Abgeordneten Christof Rasche FDP Drucksache 16/9032 Chancen von Gigalinern nutzen – Warum verschließt die Landesregierung die Augen vor den Vorteilen von Lang-Lkw? Der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat die Kleine Anfrage 3591 mit Schreiben vom 17. Juli 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk und dem Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Aktuellen Berichten ist zu entnehmen, dass die Landesregierung dem Automobilhersteller Daimler den Einsatz von sogenannten Gigalinern, also bis 25,25 Meter langen Lkws, in Nordrhein-Westfalen nicht erlauben will. Daimler möchte Gigaliner auf 23 Strecken einsetzen , auf denen ein Gütertransport auf der Schiene keine Alternative ist. Der Einsatz von Gigalinern, die in Nachbarländern zu Recht auch „Ökoliner“ genannt werden , hat viele Vorteile und bietet große Chancen. Ein geringerer Kraftstoffverbrauch je transportierter Tonne, CO2-Einsparungen und weniger Feinstaubbelastung kommen der Umwelt zugute. Dadurch, dass die Gigaliner nicht schwerer als 40 Tonnen sein dürfen, sich das Gewicht allerdings auf mehr Achsen verteilt, verringert sich die Belastung für die Straßeninfrastruktur , insbesondere auch die Brücken. Die Gigaliner sind damit ein gutes Beispiel dafür, wie die verkehrlichen Interessen mit den Belangen des Umweltschutzes in Einklang gebracht werden können. Für den Wirtschafts- und Logistikstandort Nordrhein-Westfalen bedeutet die Zulassung von Gigalinern zusätzliche Wachstumschancen. Ihr Einsatz ermöglicht, die vorhandene knappe Straßeninfrastruktur intelligenter zu nutzen und dadurch theoretisch jeden dritten Lkw einzusparen . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9310 2 Befürchtungen, die Lang-Lkws würden zu unerwünschten Verlagerungseffekten von der Schiene auf die Straße führen, entbehren jeglicher Grundlage. Die prognostizierten Güterverkehrszuwächse bei allen Verkehrsträgern sind so groß, dass die Straße überhaupt nicht in der Lage ist, zusätzliche Gütermengen von der Schiene zu übernehmen. Schließlich haben die bisherigen Erfahrungen mit der Erprobung von Gigalinern gezeigt, dass die Sorge vor mehr Unfällen unbegründet und der Einsatz auch auf vielfrequentierten Strecken möglich ist. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unverständlich, warum sich Nordrhein-Westfalen bislang nicht an dem Feldversuch des Bundes beteiligt, mit dem zunächst nur aussagekräftige und wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse zum Einsatz der Fahrzeuge erzielt werden sollen. Vorbemerkung der Landesregierung Der Landesregierung sind die Effekte des Einsatzes von größeren Lkw-Gespannen (ohne höheres zulässiges Gesamtgewicht) bekannt, zumal das Land NRW schon vor Jahren an der Umsetzung und Auswertung eines entsprechenden Praxisversuchs intensiv beteiligt war. Grundsätzlich weist die Landesregierung darauf hin, dass aus Gründen der Nachhaltigkeit, der Energieeffizienz und des Klimaschutzes ebenso wie zur Erreichung weiterer umweltpolitischer Ziele (Schadstoffemissionen, Lärm) bei allen motorisierten Verkehrsträgern auch weiterhin ehrgeizige Verbesserungen notwendig sind. Die Landesregierung bekennt sich im Blick auf den Gütertransport im Fernverkehr, bei dem Lkw, Eisenbahn und Binnenschiff miteinander konkurrieren, weiterhin zu dem Ziel, einen möglichst großen Anteil der Verkehrsleistungen außerhalb der Straßen abzuwickeln. Damit erhebliche Zuwächse auch auf der Schiene möglich sind, müssen dazu allerdings deren Netze noch substantiell ausgebaut werden. Wie das Beispiel der Ausbaustrecke Emmerich–Oberhausen zeigt (Anschluss Betuwe-Linie), ist dies ein sehr anspruchsvolles Vorhaben, für das erhebliche öffentliche Mittel eingesetzt und langwierige Überzeugungsarbeit gegenüber der betroffenen Öffentlichkeit (vorgelagert und im Rahmen der Genehmigungsverfahren) geleistet werden müssen. Im Blick auf die auch zukünftig unzweifelhaft sehr umfangreichen Güterverkehrsleistungen, die im Fernverkehr auf der Straße abgewickelt werden, sind gerade hier weitere umwelt- und energiepolitische Fortschritte unbedingt erforderlich. Die erheblichen Erfolge bei der Reduzierung der Luftschadstoff-Emissionen infolge der politisch induzierten Durchsetzung anspruchsvoller Grenzwerte (Emissionsklassen) sind nicht das Ende der Entwicklung. Daher sind auch die Fahrzeughersteller in der Verpflichtung, die Energieeffizienz auf technischem Wege weiter signifikant zu steigern. Hingegen ist zu warnen vor einer Fokussierung allein auf den Einsatz von „Gigalinern“, zumal auch im Lkw-Fernverkehr nicht einfach davon ausgegangen werden kann, dass das gesamte Güteraufkommen tatsächlich auf überlange Lkw-Gespanne verladen werden könnte. Die Vorstellung, man könne in diesem Segment „theoretisch jeden dritten Lkw“ einsparen, ist nach Überzeugung der Landesregierung nicht realistisch. Auch das Straßenverkehrsgewerbe selbst, mit dem die Landesregierung im engen fachlichen Austausch steht, sieht die überlangen Lkw nur für einen Teil des Güteraufkommens als mögliche Lösung an. So sind manche Frachten einfach zu schwer (haben zu hohes spezifisches Gewicht) und würden bei größerem Ladevolumen auch die zulässigen Gesamtgewichte übersteigen. Andere Aufkom- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9310 3 mensanteile werden auf Relationen erzielt, die für „Gigaliner“ wegen hierauf nicht vorbereiteter Verkehrswege nicht in Frage kommen. Vor diesem Hintergrund werden die Einzelfragen wie folgt beantwortet: 1. Wie bewertet die Landesregierung die Vorteile des Einsatzes von Gigalinern für die Umwelt durch einen geringeren Kraftstoffverbrauch je transportierter Tonne, niedrigere CO2-Emmissionen und weniger Feinstaubbelastung? Die möglichen Vorteile von „Gigalinern“ bei der Energieeffizienz sind prinzipiell unbestritten. Allerdings weist die Landesregierung darauf hin, dass der spezifische Energieeinsatz (und damit CO2-Ausstoß) im Güterfernverkehr auf der Straße ohnehin vergleichsweise niedrig liegt, im Gegensatz zu Transporten (mit Lkw unterschiedlicher Größe) im Nah- und Regionalbereich . Die CO2-Emission je Tonnen-km betragen bei einem modernen Lkw mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 40 t etwa 40 Gramm; der Gesamtdurchschnitt beim LkwVerkehr beträgt dagegen etwa 100 Gramm. Im Nahverkehr mit kleineren Fahrzeugen steigt dies noch deutlich an. Daher erscheint es aus Sicht der Landesregierung besonders vordringlich , in diesen Marktsegmenten, in denen eine Verlagerung auf Schiene oder Schiff praktisch kaum in Frage kommt, durch ehrgeizige technische Verbesserungen bei den Fahrzeugen den umweltpolitischen Zielen gerecht zu werden. Eine auf „Gigaliner“ verengte Diskussion führt insoweit gerade an den Hauptaufgaben einer ökologischen Verbesserung im Straßengüterverkehr vorbei. 2. Welche Vorteile hat der Einsatz von Gigalinern für den Wirtschafts- und Logistikstandort Nordrhein-Westfalen? Die Verkehrs- und Logistikbranche befürwortet grundsätzlich den Einsatz von Lang-Lkw. Vorteile für die Unternehmen könnten demnach dadurch entstehen, dass sie für den Transport gleicher Mengen eine geringere Anzahl von Fahrzeugen (Zugmaschinen) und damit auch Fahrern benötigen würden. Dies würde zu Kosteneinsparungen führen. Insofern könnte theoretisch auch der Logistikstandort NRW indirekt von der Zulassung von Lang-Lkw auf seinen Straßen profitieren - indem das Land für die Unternehmen bzw. potentielle Neuansiedlungen an Attraktivität gewinnen würde. Dieser theoretische Effekt ist aus fachlicher Sicht jedoch als eher gering einzuschätzen. In der Praxis würde ein ohnehin nur schwer zu bewertender Standortvorteil zunächst hohe Investitionen der Speditionsunternehmen (in neue Fahrzeuge) erfordern. Vor dem Hintergrund einer stark von mittelständischen Unternehmen geprägten Branche kann nicht damit gerechnet werden, dass hier hohes Potential bestünde. Insofern sind die durch eine Teilnahme NRWs am Feldversuch zu erwartenden Vorteile für den Wirtschafts- und Logistikstandort vernachlässigbar. 3. Wie bewertet die Landesregierung angesichts der prognostizierten Zuwächse im Güterverkehr die Möglichkeiten, die vorhandene Straßeninfrastruktur dadurch effizienter zu nutzen, dass zwei Gigaliner drei normale Lkw-Gespanne ersetzen? 4. Wie schätzt die Landesregierung die Entlastung der Straßen und Brücken in Nordrhein -Westfalen durch den Einsatz von Gigalinern mit einem Maximalgewicht von 40 Tonnen ein? Die Fragen 3 und 4 werden wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9310 4 Auf durch Lkw-Fernverkehr stark belasteten Autobahnen verkehren typischerweise bis zu 10.000 Lkw je Tag (Querschnittsbelastung). Selbst wenn 10 Prozent des betroffenen Aufkommens (volumenmäßig) von „Gigalinern“ übernommen würden, wären somit maximal etwa 333 Fahrzeuge je Tag „einzusparen“. Angesichts der Tatsache, dass auf stark belasteten Autobahnen insgesamt weit über 100.000 Fahrzeuge je Tag (im Strecken-Querschnitt) verkehren , warnt die Landesregierung vor überhöhten Erwartungen an die „Entlastung“ der Verkehrswege durch den Einsatz überlanger Lkw. Die Überlastung der Infrastruktur würde nur marginal reduziert und im Alltag kaum feststellbar sein. Dies gilt entsprechend für die Entlastung der Brücken. 5. Wird die Landesregierung angesichts der in der Fachwelt unbestrittenen Vorteile und Chancen des Einsatzes von Gigalinern ihre bisherige Haltung, sich an dem Modellversuch des Bundes nicht zu beteiligen, noch einmal überdenken? Die Studien, auf deren Grundlage zurzeit die Diskussion pro und contra „Gigaliner“ geführt wird, datieren in der Regel aus den Jahren 2008 bis 2010 und beziehen sich zumeist auf bis zu 60 t schwere überlange Fahrzeugkombinationen, deren Einsatz nicht ernsthaft zur Diskussion steht. Der Landesregierung liegen damit keine neuen, abschließenden und belastbaren Erkenntnisse vor, die ein sofortiges Überdenken der bisherigen Haltung zum Lang-Lkw notwendig machen. Das Land Nordrhein-Westfalen wird daher in der relativ kurzen noch verbleibenden Laufzeit des bundesweiten Feldversuchs keinen Antrag auf Freigabe von Strecken für Lang-Lkw beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur stellen. In der weiteren Diskussion werden die Ergebnisse des bundesweiten Feldversuchs und des Abschlussberichts der wissenschaftlichen Begleitung des Feldversuchs in Baden-Württemberg von besonderer Bedeutung sein.