LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9469 12.08.2015 Datum des Originals: 12.08.2015/Ausgegeben: 17.08.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3666 vom 10. Juli 2015 der Abgeordneten Marcel Hafke, Dr. Björn Kerbein und Dirk Wedel FDP Drucksache 16/9267 Wie bewertet die Landesregierung das Potential der Doppelresidenz? Der Justizminister hat die Kleine Anfrage3666 mit Schreiben vom 12. August 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In 95 Prozent der Scheidungen in Nordrhein-Westfalen teilen sich beide Elternteile das Sorgerecht , da kein Antrag nach § 1671 Abs. 1 BGB gestellt wurde. Bei den verbliebenen fünf Prozent der Scheidungen fällt in 16,5 Prozent der Fälle das Sorgerecht an beide Elternteile. Sorgerechtsverfahren gibt es jedoch nicht nur im Zuge von Scheidungen, sondern auch zwischen verheirateten oder eben nicht mehr verheirateten Ehepartnern. In diesen Fällen beträgt der Anteil der Sorgerechtsübertragungen an beide Elternpaare 12 Prozent, in den Verfahrensfällen , in denen die Eltern niemals miteinander verheiratet waren, liegt dieser Wert bei 16 Prozent. Im Jahr 2013 führten so insgesamt 16.876 Verfahren in Nordrhein-Westfalen zu dem Ergebnis, dass beide Elternteile das Sorgerecht erhalten. Das gemeinsame Sorgerecht heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass diese Kinder gleich viel Zeit bei ihren Eltern verbringen. Meistens wird das sogenannte Residenzmodell praktiziert: Die Kinder leben bei einem Elternteil, in der Regel der Mutter, und haben mit dem anderen Elternteil meist am Wochenende oder in den Schulferien Umgang. Dieses Modell wird vor allem von dem Elternteil bevorzugt, bei dem das Kind sich gewöhnlich aufhält. Es kann jedoch dem Wohl des Kindes zuwiderlaufen, wenn dieses nicht ausreichend Kontakt zu beiden Elternteilen hat. Besonders bei strittigen Fragen des Umgangs und des Aufenthaltsbestimmungsrechts sind die Folgen dieser Auseinandersetzungen für die betroffenen Kinder vielfach schwerwiegend, LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9469 2 da sie in Loyalitätskonflikte geraten, der Kontakt und die Beziehung zu mindestens einem der beiden Elternteile leidet und der Umgang mit einem Elternteil vielfach eingeschränkt oder sogar ausgesetzt wird. In Konfliktsituationen zwischen den beiden Elternteilen geraten die Interessen der Kinder oftmals aus dem Blick oder finden keine ausreichende Berücksichtigung . Für die betroffenen Kinder ist es wichtig, eine zeitnahe und zufriedenstellende Lösung zu erzielen, die den Kontakt zu beiden Elternteilen zuverlässig ermöglicht. Neben dem traditionellen Residenzmodell wird in der Fachwelt zunehmend über die Vorteile der Doppelresidenz („Wechselmodell“) diskutiert. Dabei wohnen die Kinder nach einer Trennung bei beiden Elternteilen und verbringen dadurch auch ungefähr gleich viel Zeit mit ihnen. Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass es in diesem Modell weniger elterliche Konflikte gibt und gleichzeitig beide Elternteile auch nach der Trennung wichtige Bezugspersonen für ihre Kinder bleiben können. 1. Wie bewertet die Landesregierung das Potential der Doppelresidenz („Wechselmodell “)? Der Umgang mit beiden Elternteilen entspricht in der Regel dem Wohl des Kindes. Dementsprechend regelt § 1684 BGB, dass ein Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil hat. Zugleich ist jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Bei einer (räumlichen) Trennung der Eltern ist eine Regelung zu finden, die dem Umgangsrecht des Kindes und dessen Wohl orientiert an den Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls am besten entspricht. Das Wechselmodell trägt dazu bei, dem Kind den Umgang mit beiden Elternteilen in zeitlich ähnlichem Umfang zu ermöglichen. Ob ein solches Modell auch faktisch umsetzbar ist (z. B. wenn die Eltern in unterschiedlichen Städten leben) und ob es tatsächlich die dem Kindeswohl am ehesten entsprechende Lösung ist, muss am Einzelfall orientiert entschieden werden und entzieht sich damit einer pauschalen Bewertung durch die Landesregierung. Die Entscheidung zwischen dem Residenzmodell und dem Wechselmodell obliegt dabei in erster Linie den getrennt lebenden Eltern. Kommt es zwischen diesen zu keinem Einvernehmen , hat das Familiengericht unter Berücksichtigung des Kindeswohls eine Entscheidung zu treffen. Die Landesregierung respektiert dabei die jeweilige in richterlicher Unabhängigkeit getroffene Entscheidung des Familiengerichts. 2. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung darüber, inwiefern die Doppelresidenz („Wechselmodell“) in Nordrhein-Westfalen zur Anwendung kommt (bitte für die Jahre 2010 bis 2015 angeben)? Statistische Daten zu der Frage, wie häufig sich getrennt lebende Eltern vor den Familiengerichten auf ein Wechselmodell einigen, werden im Rahmen der Justizgeschäftsstatistiken nicht erhoben. Eine Einzelauswertung der Akten ist in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 3. Gibt es auch Fälle, in denen eine Doppelresidenz („Wechselmodell“) gegen den Widerstand eines Elternteils angeordnet wird (bitte für die Jahre 2010 bis 2015 angeben)? Auf die Antwort zu Frage 2. wird verwiesen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9469 3 Ebenso wenig liegen im Rahmen der Justizgeschäftsstatistiken Daten vor, wie häufig ein Wechselmodell durch die Familiengerichte gegen den Willen eines Elternteils angeordnet wird. 4. Welche Fortbildungen zum Thema Doppelresidenz und Wechselmodell werden Familienrichtern bzw. pädagogischen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe in Nordrhein- Westfalen angeboten (bitte aufschlüsseln nach Maßnahmenträgern, Zielgruppen sowie Teilnehmerzahlen für die Jahre 2010 bis 2015)? An der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen werden regelmäßig Tagungen für Familienrichterinnen und Familienrichter durchgeführt, bei denen Fragen des Umgangs- bzw. Sorgerechts erörtert werden, z.B. in Grundlagenschulungen für Berufsanfängerinnen und -anfänger bzw. für Dezernatswechsler. Thematisiert wird bei diesen Tagungen auch das Wechselmodell. Gegenstand ist dieses Thema darüber hinaus in spezifischen Veranstaltungen , die psychologisches Hintergrundwissen wie Bindungstheorien und systemische Betrachtungsweisen familiärer Konflikte vermitteln. Voraussetzungen, Möglichkeiten und Folgen des Wechselmodells werden des Weiteren bei den Tagungen an der Deutschen Richterakademie behandelt, an denen Familienrichterinnen und Familienrichter aus Nordrhein-Westfalen teilnehmen. Zu nennen sind hier neben den Einführungsveranstaltungen in das Familienrecht insbesondere die Veranstaltungen "Konfliktlösung im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren" und "Familienrecht für Fortgeschrittene". An den genannten Fortbildungsveranstaltungen haben in den Jahren 2010 bis 2014 im Durchschnitt jeweils 145 Teilnehmerinnen und Teilnehmer teilgenommen; voraussichtlich wird diese Anzahl auch im Jahr 2015 erreicht werden. Für Fortbildungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendhilfe sind gemäß § 85 Abs. 2 Nr. 8 SGB VIII die Landschaftsverbände als überörtliche Träger der Jugendhilfe zuständig . Außerdem können gemäß § 85 Abs. 3 SGB VIII auch die örtlichen Träger selber Fortbildungen durchführen. Vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Landesjugendamt, werden jährlich drei mehrtägige Veranstaltungen zum Thema „Beratung bei Trennung und Scheidung“ bzw. Einbeziehung der Kinder in diesen Prozess und Gruppenarbeit mit Kindern/Jugendlichen, die von Trennung ihrer Eltern betroffen sind, angeboten. Bei diesen Veranstaltungen wird jeweils auch auf das Doppelresidenz- oder Wechselmodell Bezug genommen. Zielgruppe der Fortbildungen sind Fachkräfte der Jugendämter und Beratungsstellen. Jährlich nehmen ca. 60 Fachkräfte an den Veranstaltungen teil (d. h. von 2010 – 2015 haben insgesamt ca. 300 Fachkräfte teilgenommen). Der Landschaftsverband Rheinland, Landesjugendamt, führt jährlich eine dreitägige Veranstaltung zum Thema „Trennungs- und Scheidungsberatung/Mediationstechnik“ durch, bei der auch das Modell der Doppelresidenz angesprochen wird. Darüber hinaus wird die Thematik bei der jährlich mit etwa 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführten Fachtagung zum FamFG erörtert. Auch bei den Fortbildungen des Landschaftsverbandes Rheinland sind die Fachkräfte der Jugendämter und der Beratungsstellen die angesprochene Zielgruppe. 5. Welche Unterstützungsangebote, die zum Gelingen des Wechselmodells beitragen sollen, werden für Eltern in Nordrhein-Westfalen angeboten? In Nordrhein-Westfalen wird Eltern bei Fragen zur Regelung des Kindesaufenthalts nach einer Trennung von Beratungsstellen und Jugendämtern Beratung, Mediation sowie die Erstellung von „Elternvereinbarungen“ angeboten.