LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9545 21.08.2015 Datum des Originals: 20.08.2015/Ausgegeben: 26.08.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3686 vom 16. Juli 2015 des Abgeordneten André Kuper CDU Drucksache 16/9295 Dauerhafter Krisenmodus bei der Flüchtlingsunterbringung in Nordrhein-Westfalen Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 3686 mit Schreiben vom 20. August 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Erstaufnahmeeinrichtung in Dortmund- Hacheney verfügt über 300 reguläre Plätze - plus 50 Notfallplätze. Am Mittwoch 1. Juli 2015 musste die Erstaufnahmeeinrichtung in Dortmund-Hacheney wegen dreifacher Überbelegung einen Aufnahmestopp verhängen. In der Nacht zum 1. Juli hätten 870 Menschen auf dem Gelände geschlafen, teilte die Stadtverwaltung mit. Eine geordnete Weitervermittlung der Menschen sei dadurch nicht mehr möglich gewesen, weil es zu diesem Zeitpunkt in Nordrhein-Westfalen keine ausreichenden Kapazitäten gegeben habe . Einige Landesaufnahmeeinrichtungen seien krankheitsbedingt geschlossen gewesen. Der aktuelle Ausbruch von Windpocken sowie Magen-Darm-Erkrankungen blockierte gleich mehrere Standorte des Landes. Sie stehen unter Quarantäne und dürfen vorerst keine weiteren Personen aufnehmen. Am Abend des Folgetags, 2. Juli 2015, wurde der Aufnahmestopp aufgehoben, weil die Asylbewerber auf die Kommunen verteilt werden konnten. Dennoch war der Standort Dortmund weiterhin auch die folgenden Tage mit rund 450 Personen überbelegt. Am Montag, 6. Juli, verhängte die Stadt Dortmund abermals einen Aufnahmestopp für die Erstaufnahmeeinrichtung in Hacheney. Für diesen Tag rechnete die Stadt abermals mit einer Überbelegung. Für 0.00 Uhr wurde mit rund 750 Asylbewerbern gerechnet, um 8.00 Uhr rechnete man wieder mit mehr als 800 Flüchtlingen. Der Aufnahmestopp sollte bis Mittwoch, 8. Juli 12.00 Uhr gelten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9545 2 Hintergrund der Entwicklung in Dortmund ist, dass der weitere Ausbau der Platzkapazitäten in Landesaufnahmereinrichtungen nicht voran geht und weiterhin die notwendige Platzzahl an Kapazitäten in Landeserstaufnahmerichtungen und Zentralen Unterbringungseinrichtungen nicht der Anzahl der tatsächlich notwendigen Kapazitäten entspricht. Das Land will bis zum Jahresende 10.000 reguläre Plätze vorweisen. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Innenminister Ralf Jäger hatten noch auf dem zweiten Flüchtlingsgipfel im April von einem gelungenen Paradigmenwechsel gesprochen und hervorgehoben, dass es gelungen sei, die Qualität in den Landeseinrichtungen zu steigern. Ziel sollte es bleiben, so Innenminister und Ministerpräsidentin im April auf dem Flüchtlingsgipfel 10.000 Regelunterbringungsplätze und 2.500 Notplätze bis Mitte 2016 anbieten zu können. Gleichzeitig sollte davon die Zahl der Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen von 600 auf zukünftig 3.000 Plätze erhöht werden mit dem Ziel, künftig Asylbewerber bis zu 4 Wochen, anstatt aktuell 14 Tage in den Landesaufnahmeeinrichtungen zu beherbergen. Laut Presseberichten beklage nun die Bezirksregierung Arnsberg, die für die Einrichtung des Landes zuständig ist, dass es unerwartete Zuweisungen gebe; obendrein lege der plötzliche Ausbruch von hoch ansteckenden Krankheiten bloß, wie fragil die Lage tatsächlich ist. Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung bekennt sich eindeutig zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Das Land steht zu seiner humanitären Verantwortung und unternimmt große Anstrengungen, um Flüchtlingen Schutz und Zuflucht zu gewähren. Dies zeigen auch die unter anderem auf den nordrhein-westfälischen Flüchtlingsgipfeln vereinbarten Maßnahmen, wozu auch der weitere Ausbau der Landeskapazitäten zählt. Seit 2012 wurden die Unterbringungskapazitäten des Landes von rund 1.800 auf 9.500 Regelplätze am 31.07.2015 und damit auf mehr als das Fünffache erhöht. Mit allen Notunterkünften stehen am 31.07.2015 rund 21.500 Plätze zur Verfügung. Alleine die Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) wurden von 600 auf 2.000 erhöht. Bis zum Jahresende sind mehrere Tausend weitere Plätze in der Landesaufnahme geplant, siehe dazu auch die Antwort auf die Kleine Anfrage 3469 (LT-Drs. 16/9240). Immer mehr Menschen fliehen aus ihrer Heimat, weltweit sind dies zurzeit rund 60 Millionen. Im Jahr 2015 sind bis 31. Juli über 300.000 Asylsuchende nach Deutschland gekommen, davon rund 87.400 nach NRW (darunter 59.210 in NRW verbleibende Erstantragsteller und rund 28.200 Folgeantragsteller oder wegen Erfüllung der Aufnahmequote in andere Bundesländer weiter zu verteilende Personen). Zum Vergleich: im gesamten Jahr 2014 wurden in den EAE des Landes rund 47.000 Asylerstantragsteller verzeichnet. Die Dynamik der aktuellen Situation wird besonders deutlich beim Vergleich der Zugangsentwicklung der Monate Mai bis Juli 2015. Während im Monat Mai noch 6.721 dem Bundesland NRW zugewiesene Asyl-erstantragsteller in den Landeseinrichtungen aufzunehmen waren, ist die entsprechende Zahl im Juni auf 9.452 und im Juli auf 16.273 angewachsen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass tatsächlich deutlich mehr Personen die EAE des Landes aufsuchen. Erstantragsteller, die über die von NRW zu erfüllende Quote hinaus in den EAE Nordrhein-Westfalens ankommen und von hier aus in andere Bundesländer weitergeleitet werden, und Folgeantragsteller, die in ihre Zuweisungskommune aus dem Erstverfahren weitergeleitet werden, müssen vorläufig untergebracht und versorgt werden. So sind im Monat Juli durchschnittlich pro Woche rund 5.000 Personen in die nordrhein-westfälischen EAE LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9545 3 gekommen. Dies entspricht in etwa dem Gesamtjahreszugang in NRW von 2007. Die Tageszugänge liegen teilweise bei rund 1.000 Personen, am 03. August wurde mit 1.379 Personen der höchste Tageszugang in der Geschichte des Bundeslandes NRW erreicht. Diese Entwicklung war so nicht vorhersehbar. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) musste seine Prognosen für das Jahr 2015 bereits mehrfach nach oben korrigieren. Auch die jüngste Prognose von Mai 2015 mit 400.000 Erst- und 50.000 Folgeantragstellern wurde zwischenzeitlich von der Realität überholt, da in den ersten sieben Monaten bereits rund drei Viertel des vorhergesagten Jahreszugangs eingetreten sind und nach den Erfahrungen der Vorjahre in der zweiten Jahreshälfte mit noch höheren Zugängen zu rechnen ist. Diese Situation stellt alle Beteiligten - Bund, Länder und Kommunen - vor immense Herausforderungen , insbesondere auch die EAE in Nordrhein-Westfalen. Hier kommen Asylsuchende in NRW täglich erstmals an, in kaum prognostizierbarer Anzahl. Deswegen liegt ein Schwerpunkt beim Ausbau der Kapazitäten auf der Errichtung weiterer EAE. Zu den bereits bestehenden EAE in Bielefeld und Dortmund sind in diesem Jahr neue EAE in Unna und im Kreis Siegen-Wittgenstein hinzugekommen, eine weitere in Essen befindet sich im Aufbau und soll im Dezember in Betrieb gehen. Hiermit soll eine bessere Verteilung der Zugänge auf mehrere EAE-Standorte erreicht werden. Die konkrete Situation der EAE Dortmund ist neben ihrer bisherigen, zentralen Stellung im Aufnahmesystem Nordrhein-Westfalens von den dargelegten, enormen Steigerungsraten bei den Zugängen geprägt. Hinzu kamen Sondereffekte durch ansteckende Krankheiten sowohl in mehreren Landeseinrichtungen NRWs, als auch in anderen Bundesländern. Kurzfristig mussten 600 Asylsuchende zusätzlich in NRW aufgenommen werden, weil EAE anderer Länder gesperrt waren. Weiterhin waren Transfers aus den NRW-EAE in Zentrale Unterbringungseinrichtungen (ZUE) und Notunterkünfte des Landes nicht im erforderlichen Umfang möglich, weil dort wegen Maßnahmen der Gesundheitsämter keine oder nur eingeschränkte Aufnahmen erfolgen konnten. Aufgrund der verschiedenen Faktoren wurden in der EAE Dortmund im Juni und Juli Belegungszahlen erreicht, die über die Regelkapazität von 300 Plätzen (zzgl. 50 Reserve) hinausgingen . In der Spitze hielten sich am 01.07.2015 792 Personen in der Einrichtung auf. Der sodann von der Stadt Dortmund angekündigte Aufnahmestopp konnte abgewendet werden , weil durch die Bezirksregierung Arnsberg kurzfristig Notunterkünfte bereitgestellt wurden , in denen die Asylsuchenden vorübergehend untergebracht werden konnten. Ein Aufnahmestopp wurde seitdem verhängt, wenn um 12 Uhr in Kenntnis der Zugangsprognose für diesen Tag und der sicher feststehenden Entlastungsplätze festgestellt wurde, dass die zu erwartende Belegung um 24 Uhr 400 Personen übersteigen werde. In der Folge kam es am 06.07.2015 zu einem Aufnahmestopp in der EAE Dortmund zwischen 16:00 Uhr und 0:00 Uhr, weil die Belegung um 16:00 Uhr bei 387 lag und für 0:00 Uhr eine Belegung in Höhe von 746 prognostiziert wurde. Auch hier wurden durch die Bezirksregierung Arnsberg Ausweichkapazitäten angeboten, so dass die Belegungszahl bis 0:00 Uhr tatsächlich auf 286 gesenkt werden konnte. Zu zwei weiteren Aufnahmestopps wegen prognostizierter Kapazitätsüberschreitungen kam es am 16.07.2015 von 17:00 Uhr bis 0:00 Uhr und am 20.07.2015 von 16:00 Uhr bis 0:00 Uhr. Auch hier konnten in den Abendstunden die nötigen Ausweichunterbringungen geschaffen werden. Auch um die Aufnahmefähigkeit der EAE zu sichern, wurden durch alle Bezirksregierungen in den vergangenen Wochen zahlreiche Notunterkünfte geschaffen. Alleine im Juli wurden über 9.000 Notunterkunftsplätze eingerichtet. Um der aktuellen Entwicklung der Asylbewerberzahlen Rechnung zu tragen, werden in allen Regierungsbezirken derzeit weitere Unterbringungskapazitäten geschaffen, die längerfristig zur Verfügung stehen werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9545 4 1 Hält die Landesregierung die dauerhafte Überbelegung der Landeserstaufnahmeeinrichtung Hacheney mit der Verhängung von zeitweisen Ausnahmestopps für einen haltbaren Zustand? Zur Beantwortung der Frage wird auf die Vorbemerkung verwiesen. 2. Wie lange will die Landesregierung den unhaltbaren Zustand der Überbelegung von Landesaufnahmeeinrichtungen zur Vermeidung von Obdachlosigkeit hinnehmen ? Zur Beantwortung der Frage wird auf die Vorbemerkung verwiesen. 3. Wie will die Landesregierung konkret den weiteren notwendigen Ausbau der Platzkapazitäten forcieren? Zur Beantwortung dieser Frage wird auf die Antwort auf die Kleine Anfrage 3616 (LT-Drs. 16/9424) verwiesen. 4. Wie bewertet die Landesregierung die Forderung nach einem Ausbau der Platzkapazitäten der Landesaufnahmeeinrichtungen von mindestens 20.000 Plätzen? Eine Aussage zu angestrebten Platzkapazitäten in Landeseinrichtungen kann zum einen nur in Abhängigkeit von der Festlegung durchschnittlicher Aufenthaltszeiten getroffen werden. Zum anderen sind längere Aufenthaltszeiten nur sinnhaft, wenn diese Zeit in einer Aufnahmeeinrichtung insbesondere für die Durchführung des Asylverfahrens genutzt werden kann (Antragstellung, Anhörungsverfahren beim BAMF). Im Grundsatz ist festzustellen: Ausgangspunkt für diese notwendige Festlegung ist das Asylverfahrensgesetz . Das Bundesgesetz sieht vor, dass Asylbewerber die Aufnahmeeinrichtung in der Regel innerhalb von sechs Wochen verlassen. Dabei wird für das vom Bundesamt durchzuführende Asylverfahren lediglich ein Zeitansatz von wenigen Wochen angesetzt. Das beim ersten nordrhein-westfälischen Flüchtlingsgipfel im Oktober 2014 vereinbarte Ausbauziel von 10.000 Regelplätzen basierte auf der BAMF-Prognose von 200.000 Erstantragstellern plus 30.000 Folgeantragstellern aus September 2014. Die Zielzahl 10.000 für NRW sicherte für die damalige BAMF-Prognose einen Aufenthalt von mindestens sechs Wochen für Asylbewerber in Landeseinrichtungen. Mit der BAMF-Prognose aus Februar 2015 von 250.000 Erstantragstellern plus 50.000 Folgeantragstellern konnte dieses Ziel für die Aufenthaltsdauer im Jahr 2015 nicht aufrechterhalten werden. Vor dem Hintergrund der für dieses Jahr zu erwartenden Platzkapazitäten war daher für die bisherige Planung des Landes von einem Aufenthalt von ca. vier Wochen in Landeseinrichtungen auszugehen. Die jüngste BAMF-Prognose mit 400.000 Erstantragstellern plus 50.000 Folgeantragstellern aus Mai 2015 bedeutet 85.000 Erst- und 11.000 Folgeantragsteller für NRW und damit für NRW eine vollständig veränderte Situation. Und selbst diese Prognose wurde bereits durch die Realität überholt, siehe Vorbemerkung. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9545 5 Die Entwicklung der Flüchtlingszahlen führt dazu, dass das Jahr 2015 nur ein Jahr des Übergangs sein kann. Alle Beteiligten müssen sich dieser Herausforderung stellen, um die notwendigen Anpassungsleistungen zu bewältigen. Die Landesregierung wird alle notwendigen Maßnahmen treffen, um in einem ersten Schritt möglichst eine bis zu vierwöchige Aufenthaltszeit zu gewährleisten. Dieses Ziel wird je nach Entwicklung der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 nicht mehr erreichbar sein und auch davon abhängen, in welchem Umfang zügig weitere zur menschenwürdigen Unterbringung geeignete Unterbringungskapazitäten geschaffen werden können. 5. In welchem Ausmaß gab es in der vergangenen Zeit Überbelegungen von Landesaufnahmeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen? Zu aktuellen Kapazitäten und Belegungen wird regelmäßig dem Innenausschuss berichtet.