LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 02.09.2015 Datum des Originals: 27.04.2015/Ausgegeben: 04.05.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3690 vom 16. Juli 2015 des Abgeordneten André Kuper CDU Drucksache 16/9303 Wie will die Landesregierung die Kommunen zusätzlich beim Thema „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ unterstützen? Die Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport hat die Kleine Anfrage 3690 mit Schreiben vom 2. September 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales und dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Mit der zunehmenden Zahl der Krisenregionen in der Welt suchen immer mehr Menschen Zuflucht in Deutschland. Kinder und Jugendliche stehen dabei unter dem besonderen Schutz der UN-Kinderrechtskonvention: Sie haben ein Recht darauf, dem Kindeswohl entsprechend untergebracht, versorgt und betreut zu werden. Um dies zu gewährleisten hat die Bundesregierung am 15. Juli 2015 im Kabinett den Gesetzentwurf zur bundesweiten Verteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge beschlossen . Durch das Gesetz soll dafür gesorgt werden, dass die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen, die alleine nach Deutschland einreisen, in Deutschland besser wird. Um zu gewährleisten, dass die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen gleichmäßig verteilt werden, gibt es künftig eine bundes- und landesweite Aufnahmepflicht . Maßstab für die Verteilung ist ein landesinternes und bundesweites Verfahren, das sich an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert. Das aufnehmende Jugendamt kann Minderjährige damit an einen anderen Ort weiterleiten. Bei der Reise dorthin sind sie von einer geeigneten Person zu begleiten und am Zielort von einer Fachkraft des zuständigen Jugendamtes in Empfang zu nehmen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 2 Eine weitere Neuerung durch das Gesetz gilt für das asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren . Das Alter, ab dem Verfahrenshandlungen wirksam vorgenommen werden können, soll von 16 auf 18 Jahre angehoben werden. Damit wird auch für die ausländischen Minderjährigen , die bereits das 16. Lebensjahr vollendet haben, der Vorrang des Kinder- und Jugendhilferechts betont. Die Einreise unbegleiteter Minderjähriger konzentriert sich auf bestimmte Regionen in Deutschland. Nach geltendem Recht ist das Jugendamt, in dessen Bereich sich der unbegleitete ausländische Minderjährige vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält, zu dessen Inobhutnahme verpflichtet, § 42 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3, § 87 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Dabei handelt es sich um das Jugendamt, in dessen Bereich die Einreise eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen festgestellt wird. Vor diesem Hintergrund sind für die Inobhutnahme unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher die Jugendämter bzw. örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuständig, die an bestimmten Einreiseknotenpunkten liegen. Einige kommunale Gebietskörperschaften sind gegenwärtig aufgrund der kontinuierlichen Zunahme unbegleitet nach Deutschland einreisender Minderjähriger sehr stark belastet. Mancherorts sind die Kapazitätsgrenzen bereits so weit überschritten, dass eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Kinder und der Jugendlichen erheblich erschwert bzw. nicht mehr möglich ist. Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik weist bei denjenigen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, die von den Jugendämtern in Obhut genommen wurden, im Jahr 2013 eine Steigerung von bundesweit rund 133 Prozent gegenüber dem Jahr 2010 aus. Im Jahr 2013 wurden insgesamt 6.583 unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche von den Jugendämtern in Obhut genommen. Nach einer aktuellen Abfrage der Länder befanden sich zum Stichtag 31. Dezember 2014 bundesweit 17.955 unbegleitete ausländische Minderjährige in vorläufigen Schutzmaßnahmen oder Anschlussmaßnahmen (Hilfen zur Erziehung und Hilfen für junge Volljährige) der Kinder- und Jugendhilfe. Es ist in den kommenden Jahren nicht mit einem Rückgang bzw. einer Stagnation zu rechnen; vielmehr kann von weiteren Steigerungen ausgegangen werden. In Nordrhein-Westfalen wurden zuletzt (Stichtag 31. Mai 2015) rund 3.500 Flüchtlinge betreut , die meisten davon in Aachen, Dortmund, Köln, Bielefeld, Wuppertal und Düsseldorf. Die vorläufigen Zahlen mit dem Stand vom 31.05.2015 zeigen, dass 6 Jugendämter in NRW besonders viele Jugendliche betreuen: Aachen (791), Dortmund (684), Köln (507), Bielefeld (221), Wuppertal (166), Düsseldorf (162). Dort wo die Zahl der Ankommenden nicht abreißt, sei bestmögliche Betreuung für die oft traumatisierten Kinder zunehmend schwierig, sagte der Jugenddezernent beim Landschaftsverband Rheinland. Aber auch Unsicherheit sei zu spüren, berichtete ein Vertreter des Landesjugendamt des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, denn die meisten der 186 Jugendämter im Bereich Westfalen-Lippe hatte kaum oder noch nie mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu tun. Das Gesetz wird nunmehr in das parlamentarische Verfahren in Bundesrat und Bundestag eingebracht. Es soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 3 Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes ist nun in den Ländern die Vorbereitung der neuen Möglichkeiten des Gesetzes zu schaffen. Denn innerhalb eines zur Aufnahme verpflichteten Landes erfolgt die Zuweisung des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen an ein Jugendamt , das geeignet ist, den spezifischen Schutzbedürfnissen dieser jungen Menschen im Hinblick auf ihre Unterbringung, aber vor allem auch hinsichtlich ihrer sozialpädagogischen und ggf. therapeutischen Betreuung und Unterstützung Rechnung zu tragen. Damit in den Ländern , in denen bislang nur sehr wenige unbegleitete ausländische Minderjährige aufgenommen worden sind, entsprechende Unterbringungsmöglichkeiten ausgebaut bzw. geschaffen und die erforderlichen Kompetenzen erweitert bzw. erworben werden können, sieht das Gesetz eine Übergangsregelung vor, die es diesen Ländern ermöglicht, ihre Aufnahmekapazität stufenweise zu erhöhen und erst drei Monate nach Inkrafttreten vollumfänglich entsprechend der Aufnahmequote erfüllen zu müssen. 1. Wie hoch war in den vergangenen 3 Jahren bis heute der nordrhein-westfälische Anteil bei der Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge im Ländervergleich? Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik erfasst die Anzahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen aufgrund unbegleiteter Einreise ausländischer Kinder und Jugendlicher, die in einem Kalenderjahr beendet wurden oder am 31. Dezember fortbestehen. Die Daten der Länder sind in der folgenden Tabelle aufgeführt. Unbegleitete Minderjährige im Rahmen der vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahmen) nach Bundesländern (2012 und 2013; Anzahl, Verteilung in %) Angaben absolut Verteilung nach Ländern in % 2012 2013 2012 2013 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 4 BW 270 517 5,7 7,9 BY 334 349 7,0 5,3 BE 823 984 17,3 14,9 BB 9 15 0,2 0,2 HB 48 37 1,0 0,6 HH 687 1.061 14,4 16,1 HE 547 945 11,5 14,4 MV 14 17 0,3 0,3 NI 211 257 4,4 3,9 NW 1.115 1.519 23,4 23,1 RP 155 182 3,3 2,8 SL 225 157 4,7 2,4 SN 38 72 0,8 1,1 ST 18 10 0,4 0,2 SH 267 438 5,6 6,7 TH 6 24 0,1 0,4 D 4.767 6.584 100,0 100,0 Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Vorläufige Schutzmaßnahmen, versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik. Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass die Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik (TU Dortmund) Vorbehalte hat, ob die Datenlage – die auf Angaben der Jugendämter und der Freien Träger fußt - wirklich gefestigt ist. Nach Auffassung der Arbeitsstelle ist – unterschiedlich nach Ländern – möglicherweise eine Untererfassung nicht auszuschließen. Für das Jahr 2014 liegen noch keine bundesweiten Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik vor, IT NRW hat aber bereits die Zahlen für NRW veröffentlicht. Laut IT NRW wurden im Jahre 2014 aufgrund einer unbegleiteten Einreise nach Deutschland 2.201 Inobhutnahmen gem. § 42 SGB VIII durchgeführt. 2. Sieht die Landesregierung weitere Handlungsnotwendigkeiten, um die Kommunen bei der Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zu entlasten? Vordringlich ist aus Sicht der Landesregierung eine Entlastung der Jugendämter, bei denen sich aufgrund der Flucht- und Reisewege die Aufnahme einer erhöhten Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge konzentriert. In Nordrhein-Westfalen konzentriert sich wie bun- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 5 desweit die unbegleitete Einreise Minderjähriger auf wenige Jugendamtsbezirke. Da das jeweilige Einreisejugendamt nach den derzeitigen bundesgesetzlichen Regelungen für die Betreuung örtlich zuständig bleibt, betreuen sieben Jugendämter in Nordrhein-Westfalen fast 80 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen. Mit der vorgesehenen bundesgesetzlichen Änderung des SGB VIII sollen diese Jugendämter durch eine ausgewogene regionale Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen entlastet werden und deren kinder- und jugendhilfegerechte Betreuung weiter ermöglicht werden. Mit der in einem Fachgesprächskreis erarbeiteten und gemeinsam vom MFKJKS und vom MIK herausgebenden „Handreichung zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen “ liegt eine wichtige Arbeitshilfe für die Jugendämter und die Freien Träger vor. Die Landesjugendämter organisieren in Absprache mit dem MFKJKS Fachveranstaltungen für die Jugendämter. Darüber hinaus setzt die Landesregierung sich für eine finanzielle Entlastung der Länder und Kommunen auch für die Kosten der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge durch den Bund ein. 3. Wie bewertet die Landesregierung eine mögliche Entlastung der betroffenen Kommunen, indem das Land in Vorleistung geht und Tagespauschalen an die Kommunen für die Unterbringung und Versorgung der unbegleiteten Minderjährigen zahlt im Vorgriff auf die bundesweite Kostenerstattung? Die derzeitige bundesweite Kostenerstattung erfolgt zwischen dem jeweiligen Jugendamt und einem Land, dem der unbegleitete Minderjährige als „Zahlfall“ zugewiesen worden ist. Nordrhein -Westfälische Jugendämter rechnen die Kosten also mit unterschiedlichen Ländern ab, so wie das Land Nordrhein-Westfalen Kosten auch für Fälle außerhalb Nordrhein-Westfalens erstattet. Schon aufgrund dieser - ohnehin mit einem hohen Bürokratieaufwand verbundenen - Verfahrensweise wären pauschale Vorabzahlungen des Landes an die nordrheinwestfälischen Jugendämter nicht praktikabel. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht nach einem Übergangszeitraum eine Beendigung des bundesweiten Kostenausgleichs auch für Bestandsfälle vor; die Ergebnisse der parlamentarischen Beratung bleiben diesbezüglich allerdings abzuwarten. In jedem Fall wird die bundesweite Kostenerstattung für Neufälle nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung entfallen. Bei der Erarbeitung der landesgesetzlichen Ausführungsbestimmungen wird die Landesregierung auch die Verfahrensweise bei der künftigen Kostenerstattung prüfen. 4. Zukünftig ist vorgesehen, dass die nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen zuständige Stelle des Landes das Kind oder den Jugendlichen innerhalb von zwei Werktagen einem in seinem Bereich gelegenen, für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger geeigneten Jugendamt zur Inobhutnahme zu. Welche Stelle wird in Nordrhein-Westfalen zukünftig für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen zuständig sein? Der Gesetzentwurf der Bundesregierung überträgt diese Aufgabe den Landesjugendämtern, sieht aber einen Landesrechtsvorbehalt vor. Das MFKJKS prüft derzeit in Gesprächen mit den beiden Landesjugendämtern eine Bündelung dieser Aufgabe bei einem Landesjugendamt . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9659 6 5. Wie wird zukünftig festgelegt werden, welches Jugendamt für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger geeignet ist? Mit dem Entwurf einer landesgesetzlichen Ausführungsregelung wird die Landesregierung zur künftigen regionalen Verteilung Vorschläge vorlegen, mit denen die derzeit hauptbetroffenen Jugendämter entlastet, die Standards des SGB VIII sowie die Aspekte der Integration unbegleiteter Minderjähriger in Bildung und Ausbildung berücksichtigt werden.