LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9665 02.09.2015 Datum des Originals: 02.09.2015/Ausgegeben: 07.09.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3736 vom 28. Juli 2015 des Abgeordneten Ralf Witzel FDP Drucksache 16/9397 Nachfrage nach dem Sozialticket bei den bezugsberechtigten Nutzern im Ruhrgebiet – Ist das vom Land hoch subventionierte VRR-Sozialticket unverändert eine Belastung für die öffentlichen Haushalte und ein Flop für die lokalen Verkehrsbetriebe? Der Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr hat die Kleine Anfrage 3736 mit Schreiben vom 2. September 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Finanzminister, dem Minister für Arbeit, Integration und Soziales und dem Justizminister beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 19. Juli 2011 hat der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) leider mit den Stimmen von CDU und Grünen nach jahrelangem Ringen beschlossen, als Modellprojekt ein sogenanntes Sozialticket einzuführen. Ab 1. November 2011 konnten Bezieher von Hartz IV, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfen zum Lebensunterhalt, Leistungen für Asylbewerber, Hilfen vom Jugendamt für junge Erwachsene oder Wohngeld in verschiedenen Städten der Ruhrregion eine Monatskarte für 29,90 Euro erwerben, die in der Preisstufe A gültig war. Seit einer entsprechenden Beschlussfassung der Landtagsfraktionen von SPD, Grünen und Linken in der 15. Wahlperiode wird das Sozialticket auch noch zu Lasten aller Steuerzahler aus dem Landeshaushalt jährlich mit einem zweistelligen Millionenbetrag subventioniert. Seit Auslaufen des Modellprojekts wird das sogenannte Sozialticket unter dem gezielt diskriminierungsfrei gewählten Namen „Mein Ticket“ seit dem 1. Januar 2013 als Regelangebot im gesamten Verkehrsverbund Rhein-Ruhr angeboten. Es gilt für das jeweilige Kreisgebiet bzw. in größeren Städten für das Stadtgebiet und kostet mittlerweile 30,90 Euro. Ab dem 1. Januar 2016 wird der Preis um 1,05 Euro auf 31,95 Euro steigen. Für räumlich darüber hinausgehende Fahrten innerhalb des VRR-Gebietes muss ein Zusatzticket für drei Euro gelöst werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9665 2 Die Bilanz ein gutes Jahr nach der Einführung ist im Frühjahr 2014 nicht nur aufgrund der mangelnden Leistungsgerechtigkeit, sondern gerade auch hinsichtlich der Nutzerakzeptanz verheerend ausgefallen. Die WAZ hat vor rund einem Jahr am 22. April 2014 sogar getitelt „Sozialticket des VRR ist ein Flop – Abschaffung gefordert“ und dazu wörtlich ausgeführt: „Das Sozialticket soll arme Bürger mit Bus und Bahn mobil machen. Doch gut zwei Jahre nach seiner Einführung ist die Nachfrage nach dem Fahrschein viel geringer als erwartet. Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) rechnet vor: ‚Es gibt 1,14 Millionen potentielle Nutzer im VRR-Gebiet. Wir sind davon ausgegangen, dass 12 bis 17 Prozent das Sozialticket kaufen. Im Moment liegen wir bei der Hälfte‘, sagte VRR-Sprecher [Name]. Zurzeit sind das monatlich im Schnitt 90 .000 verkaufte Tickets. Große Verkehrsbetriebe im Ruhrgebiet bestätigen, dass der Fahrschein ein Flop ist. So nutzten in Duisburg im Februar 2014 rund 7.600 Bürger das Sozialticket. Das sind 3.000 mehr als zum Start des Angebots im November 2011. ‚Aber eigentlich war der VRR in Duisburg von 14 .000 Nutzern ausgegangen‘, sagt [Name] von der Duisburger Verkehrsgesellschaft. Auch bei der Essener Evag heißt es: ‚Ein Renner ist das Sozialticket nicht‘. Die Dortmunder Stadtwerke DSW 21 verkauften im Februar 2014 insgesamt 12. 251 Sozialtickets.“ Diese zahlreichen Hinweise aus den Verkehrsbetrieben auf eine nutzerseitig nur denkbar geringe Inanspruchnahme dokumentieren das faktische Scheitern dieses Vorhabens. Trotz millionenschwerer Subventionen aus dem Landeshaushalt – das Land bezuschusst dieses Sozialticket unverändert mit 30 Millionen Euro, um die daraus resultierenden Defizite der Verbundstädte zumindest teilweise abzudecken – findet das Ticket offensichtlich bislang kaum Akzeptanz als Regelangebot im gesamten VRR-Gebiet. Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist zu bewerten. Das sogenannte Sozialticket für wenige Begünstigte ist zugleich eine Belastung für viele, die dann die hohen Subventionen dafür tragen müssen – über weiter anwachsende öffentliche Schuldenberge oder über allgemeine Fahrpreiserhöhungen, die zum 1. Januar 2016 erneut anstehen. Wer weitere Einnahmeausfälle der ohnehin schon stark bezuschussten Fahrpreise im ÖPNV durch immer wieder neue Tariferhöhungen zu Lasten anderer Nutzergruppen oder einer fortgesetzten Rekordverschuldung der öffentlichen Haushalte kompensieren will, zeigt wenig Verantwortungsbewusstsein für die dauerhafte Finanzierbarkeit des Nahverkehrs. Bereits heute müssen etliche Ruhrgebietskommunen jedes Jahr gigantische Millionenbeträge aufwenden , um immer neue Defizite ihrer Nahverkehrsbetriebe auszugleichen. Insbesondere Geringverdiener fühlen sich durch diverse Steuer- und Abgabenerhöhungen gegenüber Sozialleistungsbeziehern verständlicherweise zunehmend benachteiligt. Für das Parlament ist es daher von großem Interesse, einen aktuellen Sachstandsbericht über die Nutzungsakzeptanz des „Mein Tickets“ im Ruhrgebiet als ÖPNV-Regelangebot zu erhalten. Vorbemerkung der Landesregierung In der Kleinen Anfrage wird vom faktischen Scheitern des Sozialtickets wegen schwacher Nachfrage gesprochen. Die Landesregierung teilt diese Auffassung nicht. Die steigenden Absatzzahlen im Verbundgebiet des VRR in Schwankungsbreiten bis zu 11,7 % der Berechtigten zeigen, dass die vom Land beabsichtigte Wirkung bereits eingetreten ist, einkommensschwächeren Personengruppen in Nordrhein-Westfalen kostengünstige ÖPNV-Tickets LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9665 3 anzubieten und ihnen dadurch die Teilnahme an einem durch Mobilität geprägten Leben zu ermöglichen. Für die Bewertung einer Quote zur Sozialticketabnahme ist es geboten, die Quote der verkauften Tickets mit dem Modal Split-Anteil des ÖPNV insgesamt zu vergleichen. Nach den Ergebnissen der Studie „Mobilität in Deutschland“ von 2008 liegt der Modal-Split-Anteil des ÖPNV in Kernstädten bei 15%, bei verdichteten und ländlichen Kreisen bei 6%. Zieht man die jetzt ermittelten Zahlen für verkaufte Sozialtickets zu Rate, so liegen die Quoten im VRRVerbundgebiet mittlerweile deutlich über 10%. Wenn man berücksichtigt, dass der ModalSplit -Anteil des ÖPNV ganz wesentlich durch Fahrten zur Arbeit und zur Ausbildungsstätte geprägt wird, die Sozialticket-Berechtigten hier aber unterrepräsentiert sind, liegt die Entwicklung der Nachfrage beim Sozialticket mindestens im Trend des Modal Splits. 1. Wie viele „Mein Ticket“-Sozialtickets sind seit der Einführung am 1. Januar 2013 bis heute jeweils in jedem Monat im Verbandsgebiet des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) verkauft worden? (bitte differenzierte Darstellung in absoluten Zahlen und in Prozent der Anspruchsberechtigten, idealerweise differenziert nach den einzelnen Verkehrsgesellschaften im VRR-Gebiet) In der nachstehenden der Landesregierung vom VRR zur Verfügung gestellten Tabelle sind die geforderten Werte aufgeführt. Verkehrsunternehmensbezogene Daten liegen der Landesregierung nicht vor. 2. In jeweils welcher Höhe sind Kosten einerseits dem Land und andererseits den einzelnen Kommunen bzw. Verkehrsbetrieben im VRR-Gebiet durch die flächendeckende Einführung des „Mein Ticket“-Sozialtickets im Gebiet des VRR seit dem 1. Januar 2013 bis heute entstanden? (bitte Angabe der Vollkosten, also bspw. auch Einnahmeentfall seitens früherer Nutzer als Umsteiger von teureren Tickets auf das Sozialticket) Dem Land sind für das Sozialticket im VRR folgende Kosten entstanden: 2013: 20.412.000 € 2014: 17.728.388 € 2015: bislang 16.996.426 € Jan 2013 Feb 2013 Mrz 2013 Apr 2013 Mai 2013 Jun 2013 Jul 2013 Aug 2013 Sep 2013 Okt 2013 Nov 2013 Dez 2013 78.575 77.997 80.989 88.298 86.626 86.593 89.153 85.534 93.410 98.270 94.963 86.307 6,4% 6,3% 6,6% 7,1% 7,0% 7,0% 7,2% 6,9% 7,6% 7,9% 7,7% 7,0% Jan 2014 Feb 2014 Mrz 2014 Apr 2014 Mai 2014 Jun 2014 Jul 2014 Aug 2014 Sep 2014 Okt 2014 Nov 2014 Dez 2014 115.265 102.374 108.263 105.538 107.790 105.252 99.756 103.405 116.340 117.183 112.362 98.212 9,3% 8,3% 8,8% 8,5% 8,7% 8,5% 8,1% 8,4% 9,4% 9,5% 9,1% 7,9% Jan 2015 Feb 2015 Mrz 2015 Apr 2015 144.632 122.111 124.368 127.810 11,7% 9,9% 10,1% 10,3% LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9665 4 Nach den Sozialticket-Richtlinien vom 08.08.2011 ist die Zuwendung des Landes für Sozialtickets vollständig Preis senkend bzw. zur Deckung der durch den Fahrausweis entstehenden Mindereinnahmen einzubringen. Angaben zu Kosten in den Kommunen und Verkehrsbetrieben im VRR-Gebiet liegen dem Land nicht vor. 3. In voraussichtlich jeweils welcher Höhe jährlich wird die Landesregierung auch in den kommenden Haushaltsjahren bis Ende dieser Legislaturperiode für die Finanzierung von Sozialtickets in ihren Gesetzentwurf für den nordrhein-westfälischen Landeshaushalt einstellen? Zum derzeitigen Zeitpunkt wird nach dem Entwurf des Haushaltsplans 2016 das Sozialticket weiterhin mit 30 Mio. Euro jährlich gefördert. 4. Mit jeweils welchen quantitativen Fallzahlen und inhaltlichen Urteilsentscheidungen , unter Angabe des materiellen Streitgegenstands, haben Klagen im Zusammenhang mit dem Sozialticket bislang nordrhein-westfälische Gerichte seit dessen Einführung bis heute beschäftigt? Der VRR hat bislang kein gerichtliches Verfahren geführt, bei dem das Sozialticket Verfahrensgegenstand gewesen ist. In einzelnen sozial- und/oder verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen spielte das Sozialticket eine Rolle, etwa, wenn es um die Relevanz des Tickets hinsichtlich der Berechnung von Sozialleistungen ging. Statistische Daten über die Fallzahl von Klagen im Zusammenhang mit dem nordrhein-westfälischen Sozialticket werden im Rahmen der bundeseinheitlichen Statistiken nicht erhoben. Anderweitige belastbare Erkenntnisse , die zur Beantwortung der Frage dienen könnten, würden eine unverhältnismäßig aufwändige Aktendurchsicht durch die Gerichte vor Ort erfordern und sind in der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht mit vertretbarem Aufwand zu beschaffen. 5. Welche politischen und finanziellen Konsequenzen zieht die Landesregierung aus den bisherigen Erfahrungen seit Einführung des Sozialtickets in NordrheinWestfalen ? Auch aufgrund der im Zeitraum von 2012 bis 2015 erheblich gestiegenen Nachfrage wird die Landesregierung das Sozialticket weiterhin finanziell unterstützen. Die Landesregierung sieht in diesem eingeführten Angebot einen wesentlichen Beitrag zu einem kunden- und zugleich sozialorientierten öffentlichen Personennahverkehr.