LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/969 25.09.2012 Datum des Originals: 25.09.2012/Ausgegeben: 28.09.2012 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 360 vom 24. August 2012 der Abgeordneten Ulrich Alda und Susanne Schneider FDP Drucksache 16/722 Wie bewertet die Landesregierung die Hartz-Gesetze zehn Jahre nach ihrer Einfüh- rung? Der Minister für Arbeit, Integration und Soziales hat die Kleine Anfrage 360 mit Schreiben vom 25. September 2012 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Auf Basis der Vorschläge der »Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« unter Leitung von Peter Hartz wurden im Jahr 2002 Arbeitsmarktreformen, die sogenannten Hartz-Gesetze, entwickelt und in den folgenden Jahren eingeführt. Grundgedanke war dabei, mittels durchgreifender, technisch-organisatorischer Verbesserung der Arbeitsvermittlung und stärkerer Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung die eigene Integrationsleistung des Arbeitslosen zu unterstützen. Nach dem Motto „Fördern und Fordern“ sollte jedem die Möglichkeit (zurück-) gegeben werden , sein Leben auf Erwerbsarbeit zu gründen. Die Zielsetzungen der Hartz-Gesetze waren ehrgeizig, wie an den folgenden Beispielen deutlich wird:  Durch die organisatorische Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialämtern zu sogenannten Job-Centern sollte ein verbesserter Service für Kunden erreicht werden. Zudem sollten durch die Entstehung der Job-Center hoher Verwaltungsaufwand und fehlende Transparenz vermieden sowie Abstimmung und Verantwortlichkeit verbessert werden. Die Job-Center sollten die umfassende arbeitsmarktrelevante Beratung und Betreuung des Sozialamtes, des Jugendamtes, des Wohnungsamtes sowie der der Sucht- und Schuldnerberatung übernehmen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/969 2  Die Zumutbarkeit einer Arbeitsstelle sollte nach geographischen, materiellen, funktionalen und sozialen Kriterien neu formuliert werden, so dass potenzielle Arbeitsstellen nicht grundlos abgelehnt und somit staatliche Leistungen nicht über den tatsächlich notwendigen Bedarf hinaus bezogen werden können. Bei einer Ablehnung einer Beschäftigung sollte der Arbeitslose nachweisen müssen, dass die nicht angenommene Beschäftigung tatsächlich unzumutbar war. Sperrzeiten für die Zahlung von Arbeitslosengeld sollten vor diesem Hintergrund differenzierter nach verschiedenen Tatbeständen eingesetzt werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/969 3  Die Personal-Service-Agentur (PSA) als Instrument zum Abbau der Arbeitslosigkeit hatte zum Ziel, Unternehmen die Möglichkeit zu geben, die Eignung eines potenziellen Mitarbeiters festzustellen, ohne ihn zunächst direkt selbst einzustellen. So sollten Einstellungsbarrieren überwunden und Arbeitslose mit einer neuen Form vermittlungsorientierter Arbeitnehmerüberlassung schnell wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden.  Mittels der beiden neuen Instrumenten Ich-AG und Mini-Job sollten neue Methoden zur Eindämmung bzw. Abschaffung der Schwarzarbeit geschaffen werden. Die Ich-AG sollte Arbeitslosen die Möglichkeit geben, sich - statt schwarz zu arbeiten - unkompliziert selbstständig zu machen, indem sie legal bis zur Grenze von 25.000 Euro hinzuverdienen können sollten. Die Mini-Jobs hatten zum Ziel, mittels der Anhebung der Verdienstgrenze auf 400 Euro monatlich und den vereinfachten Einzug des Sozialversicherungsbeitrags durch eine Pauschale von 12 Prozent die Schwarzarbeit bei Dienstleistungen in Privathaushalten einzudämmen bzw. abzuschaffen.  Auch mit dem Konzept des sogenannten JobFloaters sollte die Arbeitslosenzahl deutlich reduziert und ein entsprechendes Einsparpotenzial bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe realisiert werden, welches wiederum für die Förderung von Ich- oder Familien-AGs und in den PSA verwendet werden sollte. Die JobFloaters sollten Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, indem sie Unternehmen , die einen Arbeitslosen nach der Probezeit einstellen und somit einen neuen Arbeitsplatz schaffen, die Option auf ein Finanzierungspaket in Form eines Darlehens anbieten sollten. Vorbemerkung der Landesregierung Die Landesregierung geht davon aus, dass mit „Hartz-Gesetze“ die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt aus den Jahren 2003 bis 2005 gemeint sind. Die beiden ersten Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt veränderten insbesondere die Art und Höhe von aktiven und passiven Hilfeleistungen erwerbsfähiger Arbeitsloser . Es ging dabei um die Erschließung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten, die Neustrukturierung des Dienstleistungsangebotes der Arbeitsämter in Personal-ServiceAgenturen und Veränderungen des Leistungsbezugs durch Kürzungen aber auch um Verbesserungen . Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt widmet sich dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit. Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bildet die Grundlage für die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem Fürsorgesystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Organisation der Betreuung durch Jobcenter „aus einer Hand“. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/969 4 1. Wie bewertet die Landesregierung die Hartz-Gesetze heute mit Blick auf die vor zehn Jahren festgehaltenen Ziele der arbeitsmarktpolitischen Reformen (bitte mit Zahlenmaterial belegen)? Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat sich grundsätzlich bewährt. Sowohl die Leistungsgewährung als auch die Integration in Ausbildung und Arbeit steht nunmehr allen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu. Die Organisationsformen (gemeinsame und besondere Einrichtungen) sind inzwischen auch verfassungskonform ausgestaltet. Gleichwohl gibt es bezogen auf die Leistungsprozesse in den Jobcentern noch Optimierungspotential . Hieran wird gearbeitet. Die Reformen – insbesondere das Zusammenspiel zwischen der „Zumutbarkeit“ von Arbeitsstellen ohne ortsübliche Entlohnung und der Verhängung von Sperrzeiten - haben allerdings auch einen Anteil an der Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland. Wie das Statistische Bundesamt am 10. September 2012 mitteilte, arbeiteten im Jahr 2010 bundesweit 20,6 Prozent aller Beschäftigten für einen Niedriglohn. Im Jahr 2006 lag der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglohn noch bei 18,7 Prozent. Die Förderung atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, Minijobs und befristete Beschäftigung hat zudem negative Auswirkungen über den Arbeitsmarkt hinaus, zum Beispiel auf die Systeme der sozialen Sicherung. 2. Welche der oben beschriebenen Maßnahmen haben in Nordrhein-Westfalen, speziell in Regionen wie dem Ruhrgebiet mit seinen spezifischen Strukturwechselfragestellungen /-heraus-forderungen, Wirkung gezeigt (bitte mit Zahlenmaterial belegen)? Die Umsetzung und Wirkung der vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde umfangreich evaluiert, unter anderem im Rahmen der Ressortforschung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung der oben genannten Gesetze und im Rahmen der Wirkungsforschung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Forschungsergebnisse zu den Wirkungen der beschriebenen Maßnahmen sind differenziert zu bewerten und können hier nicht dargestellt werden. 3. Haben die 400 Euro-Jobs, die nachgewiesenermaßen die einzige Möglichkeit für Arbeiter und Angestellte sind, sich legal ohne Abgaben etwas hinzuzuverdienen, auch tatsächlich diese Zielgruppe erreicht oder wurde die Möglichkeit des 400 Euro-Jobs eher als Teilzeitlösung für Arbeitnehmer oder von Firmen als Beschäftigungsmodell durch die ausschließliche Beschäftigung von 400 Euro-Kräften genutzt (bitte mit Zahlenmaterial belegen)? Die vorliegenden Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass von insgesamt 1.829.758 geringfügig entlohnten Beschäftigten in NRW rund 32 Prozent (578.373 Personen) diese Beschäftigung neben einer voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausüben. 1.251.385 Personen (rund 68 Prozent) sind ausschließlich geringfügig entlohnt beschäftigt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/969 5 Nordrhein-Westfalen Deutschland Beschäftigte zum 31. Dezember 2011 Veränderung geg. 31. Dezember 2010 Beschäftigte zum 31. Dezember 2011 Veränderung geg. 31. Dezember 2010 absolut in % absolut in % absolut in % absolut in % geringfügig entlohnte Beschäftigte insgesamt 1.829.758 100 + 21.361 + 1,2 7.507.417 100 + 123.277 + 1,7 im Nebenjob geringfügig entlohnte Beschäftigte 578.373 31,6 + 27.112 + 4,9 2.598.646 34,6 + 145.793 + 5,9 ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte 1.251.385 68,4 - 5.751 - 0,5 4.908.771 65,4 - 22.516 - 0,5 Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Beschäftigungsstatistik, Länderreport - NordrheinWestfalen , Düsseldorf, Juli 2012 Es liegen keine Daten der amtlichen Statistik dazu vor, in welchem Umfang Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse in Minijobs umgewandelt wurden. 4. Sieht die Landesregierung unter Betrachtung der oben aufgeführten Zielsetzun- gen der Arbeitsmarktreformen und der von der Landesregierung dargestellten Ergebnisse die Verwendung des Begriffs "moderner Sklavenmarkt" (bspw. durch den DGB Hagen; zu Lesen in der Westfälischen Rundschau vom 21.08.2012) für die Hartz-Gesetze und deren Instrumentarien als passend und angemessen an? Nein.