LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9693 07.09.2015 Datum des Originals: 04.09.2015/Ausgegeben: 10.09.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3745 vom 4. August 2015 des Abgeordneten Frank Herrmann PIRATEN Drucksache 16/9434 Was unternimmt die Landesregierung gegen rechtsextremistische Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 3745 mit Schreiben vom 4. September 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Nach Angaben des Bundesinnenministeriums steigt die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte für Flüchtlinge massiv an. So sind im ersten Halbjahr 2015 202 Übergriffe registriert worden. Dies sind bereits jetzt schon so viel wie im gesamten Jahr 2014. NRW verzeichnet dabei den höchsten prozentualen Anstieg rechtsextremer Übergriffe. Hier hat sich die Zahl von 1,09 auf 2,11 rechtsextremer Übergriffe pro 100.000 Einwohner fast verdoppelt. Damit ist NRW in Westdeutschland trauriger Spitzenreiter. In keinem anderen westlichen Bundesland gibt es so viele rechtsextreme Gewalttaten wie hier. Nach einer Meldung des WAZ Onlineportals derwesten.de sieht der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt die Polizei nicht in der Lage, Flüchtlingsunterkünfte großflächig zu schützen. Die Polizei verfüge nicht über genug personelle Reserven um derartigen Entwicklungen Herr zu werden. 1 1 http://www.derwesten.de/politik/polizei-gewerkschaft-koennen-fluechtlingsheime-nicht-grossflaechig-schuetzenid 10914913.html LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9693 2 1. Teilt die Landesregierung die Auffassung von Herrn Wendt, dass die Polizei nicht in der Lage sei, Flüchtlingsunterkünfte flächendeckend zu schützen? Nein. Die Sicherheitsbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen erheben fortwährend sicherheitsrelevante Erkenntnisse. Diese sind Grundlage der Beurteilung der Gefährdungslage und darauf basierender Schutzmaßnahmen. Die Beurteilung der Gefährdungslage wird von den Kreis-polizeibehörden vorgenommen. Hierin fließt neben den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes auch die regionale Sicherheitslage ein. Polizeiliche Maßnahmen des Objektschutzes wer-den auf der Grundlage der bundeseinheitlichen Regelungen der Polizei-dienstvorschrift „Personen- und Objektschutz“ PDV 129 (VS-NfD) durchgeführt . Danach umfasst der Objektschutz alle Maßnahmen, die zur Verhinderung oder Abwehr von Angriffen gegen gefährdete Objekte getroffen werden. Durch polizeiliche Objektschutzmaßnahmen sollen insbesondere Vorbereitungshandlungen erkannt sowie Beschädigungen oder Zerstörungen und das Eindringen von Gefährdern verhindert werden. Sofern die ständig fortzuschreibende Beurteilung der Gefährdungslage anlass- und objektbezogen im Ergebnis zu einer entsprechenden Bewertung kommt, führen die Kreispolizeibehörden die erforderlichen Schutzmaßnahmen durch (z. B. Objektschutz, Raumschutz). Bereits im Oktober 2014 wurde durch das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (MIK NRW) vor dem Hintergrund der damaligen Lage veranlasst , dass an Zentralen Unterbringungseinrichtungen, Notaufnahmeeinrichtungen, Erstaufnahmeeinrichtungen sowie sonstigen zentralen Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünften die Kreispolizeibehörden verstärkte anlassbezogene Aufklärungsmaßnahmen sowie eine deutlich sichtbare polizeiliche Präsenz mit lageangepasster Verweildauer an den Unterkünften durchführen. Darüber wurden alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechend sensibilisiert . Soweit Kreispolizeibehörden zur Aufgabenwahrnehmung im Zusammenhang mit Asylbewerberheimen im Einzelfall zusätzliche Personalressourcen benötigen, wird hierüber gesondert entschieden. Zur Erhöhung der sichtbaren polizeilichen Präsenz im öffentlichen Raum wurden im Zusammenhang mit Asylbewerberheimen zur Unterstützung der Polizeibehörden Kräfte der Bereitschaftspolizei im Rahmen von Schwerpunkteinsätzen temporär zugewiesen. Dies war in den Jahren 2014 bzw. 2015 beispielsweise in den Kreispolizeibehörden Siegen-Wittgenstein und Borken der Fall. Eine Steigerung der subjektiven Sicherheit ist allein durch polizeiliche Maßnahmen nicht zu erwarten. Hier ist die Polizei ein verlässlicher Partner im Zusammenwirken mit allen verantwortlichen Beteiligten und bringt sich konstruktiv und zielorientiert in die vorhandenen Gesprächszirkel (z. B. Runde Tische) ein oder initiiert entsprechende Abstimmungen. 2. Welche Schritte gedenkt die Landesregierung zu unternehmen, um Flüchtlinge und bewohnte und geplante Flüchtlingsunterkünfte effektiv, flächendeckend und nachhaltig vor Übergriffen zu schützen? Siehe Ausführungen zu Frage 1. 3. Welche Konsequenzen zieht die Landesregierung aus dem hohen prozentualen Anstieg rechtsextremer Gewalttaten in NRW? In Nordrhein-Westfalen wurden polizeilich für das Jahr 2014 insgesamt 3.286 Straftaten der Politisch motivierten Kriminalität-Rechts (PMK-Rechts) registriert (2013: 3.085). 370 davon LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9693 3 waren Gewaltdelikte (2013: 192). Der Anstieg ist vornehmlich auf die hohe Anzahl von Straftaten im Zusammenhang mit der „HoGeSa“-Demonstration am 26.10.2014 in Köln zurückzuführen . In diesem Zusammenhang wurden 249 Straftaten der PMK-Rechts registriert, davon 176 Gewaltdelikte. Die durch die Landesregierung unternommenen Anstrengungen, Präventionsmaßnahmen gegen Rechtsextremismus zu stärken und zu verzahnen, werden weiter beibehalten. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Träger und Stellen des Landes leisten in Nordrhein-Westfalen wertvolle Beiträge zur Prävention. Die Landesregierung fördert insbesondere Mobile Beratungen gegen Rechtsextremismus in allen Regierungsbezirken und Opferberatungsstellen für das Rheinland und für Westfalen sowie das zivilgesellschaftliche Aussteigerprogramm „Neue Wege in Ausbildung und Arbeit“ (NinA NRW). Zudem ist im Ministerium für Inneres und Kommunales das Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten des Landes angesiedelt, das insbesondere mit ehemaligen gewaltbereiten Rechtsextremisten arbeitet und dessen Wirksamkeit 2015 durch eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation bestätigt wurde. Eine intensive Aufklärungsarbeit, zum Beispiel des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, stärkt die gesellschaftliche Wachsamkeit und informiert auch über Gewalttaten und zum Teil tief verinnerlichte Hassbilder und Gewaltvorstellungen im Rechtsextremismus. Die Maßnahmen zur Rechtsextremismusprävention noch enger aufeinander abzustimmen und Verbesserungspotenziale zu nutzen ist das Ziel des Integrierten Handlungskonzepts gegen Rechtsextremismus und Rassismus, das die Landesregierung unter Federführung des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NordrheinWestfalen und mit Beteiligung aller Ressorts zurzeit entwickelt. Die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen wurde in den letzten Jahren weiter intensiviert. Auch beteiligen sich die Sicherheitsbehörden aus Nordrhein-Westfalen an der bundesweiten Zusammenarbeit im Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ), um die Früherkennung, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung von rechtsextremistischer Gewalt weiter zu verbessern. Die Landesregierung wird Straftaten der PMK-Rechts auch weiterhin konsequent und unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verfolgen. 4. Wie werden die Opfer von Übergriffen, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylBLG) fallen, welches nur eine reduzierte medizinische Versorgung vorsieht , nach einem Übergriff psychologisch betreut? Nach § 4 AsylBLG ist zur Behandlung akuter Erkrankungen die erforderliche ärztliche Behandlung zu gewähren. Zuständig für die Gewährung der Leistungen nach § 4 Abs. 3 AsylBLG sind für die Dauer der Unterbringung in einer Landeseinrichtung die Bezirksregierung Arnsberg und nach erfolgter Zuweisung in eine Kommune, die Kommune selbst. Sofern ein Übergriff eine akute Traumatisierung auslöst - somit also eine akute Erkrankung im Sinne des AsylBLG vorliegt - umfasst das AsylBLG grundsätzlich auch eine psychologische Behandlung durch einen niedergelassen Arzt oder Psychologen. Letztlich bedarf es hier aber einer Einzelfallprüfung durch die hierfür zuständige Behörde. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9693 4 5. Teilt die Landesregierung die Auffassung, dass man angesichts der stark angestiegenen Übergriffswelle auf Flüchtlingsunterkünfte von einer neuen Form des Rechtsterrorismus sprechen kann? Nach Maßgabe des § 129a StGB sind insbesondere außerordentlich schwerwiegende Gewaltdelikte wesentliche Merkmale des Terrorismus. Bei den für das Jahr 2015 registrierten Straftaten in NRW gegen Asylbewerber- und Flüchtlingsunterkünfte handelt es sich vorwiegend um sog. Propagandadelikte, Volksverhetzungen sowie Sachbeschädigungen. Die im ersten Halbjahr 2015 insgesamt registrierte Anzahl von vier Gewaltdelikten, durch die unmittelbar keine Personen verletzt wurden, entspricht nahezu der Anzahl solcher Delikte im Vergleichszeitraum des Vorjahres (drei Gewaltdelikte). Bundesweit ist die Zahl der Straftaten gegen Unterkünfte für Asylbewerberinnen und - bewerber gestiegen. Die aggressive Agitation ist dabei offenbar Konsens im ansonsten heterogenen rechtsextremistischen Spektrum. Bereits in der Planungsphase baut die Szene eine Drohkulisse auf. Dies gilt in NRW besonders für die Partei „Die Rechte“. Die Taten werden indessen überwiegend durch rechtsmotivierte Straftäter vor Ort begangen. Von rechtsextremistischen Organisationen hetzerisch geschürte Angst und Ablehnung kann dabei eine bestärkende Wirkung auf die Straftäter haben. In den vergangenen Jahren entdeckten die Sicherheitsbehörden mehrfach Kleingruppen, die an der Schwelle zum Rechtsterrorismus standen. So ließ der Generalbundesanwalt im Mai 2015 bei Mitgliedern der „Oldschool Society“ (OSS) Durchsuchungsmaßnahmen durchführen und die Führungspersonen festnehmen. Dazu zählte auch ein Rechtsextremist aus Bochum. Die OSS hatte sich zum Ziel gesetzt, unter anderem Anschläge gegen Asylbewerberunterkünfte durchzuführen. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei pyrotechnische Gegenstände mit großer Sprengkraft. Die Sicherheitsbehörden nehmen dies sehr ernst und behalten die Szene sehr genau im Blick, inwiefern sich Anhaltspunkte für Rechtsterrorismus zeigen. Die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen werden auch weiterhin alle erforderlichen und rechtlich zulässigen Maßnahmen treffen, um gegen Straftäter konsequent vorzugehen und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten.