LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 16. Wahlperiode Drucksache 16/9741 14.09.2015 Datum des Originals: 11.09.2015/Ausgegeben: 17.09.2015 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 3764 vom 11. August 2015 des Abgeordneten Marc Lürbke FDP Drucksache 16/9459 Respekt für unsere Polizeibeamte/innen - Wie konsequent werden Beleidigungsstraftaten gegen Polizeibeamte/innen in NRW tatsächlich verfolgt? Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 3764 mit Schreiben vom 11. September 2015 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage I. Ausgangslage: Ausweislich des jüngsten Bundeslagebildes des Bundeskriminalamtes 2014 hat die Zahl der Widerstandshandlungen gegen Polizeivollzugsbeamte/innen in NRW im Jahr 2014 im Vergleich zum Vorjahr spürbar um 4,9 % zugenommen. So stieg die Gewalt durch Widerstände gegen Polizeibeamte/innen im Zeitraum 2012 bis 2014 etwa in den Kreispolizeibehörden Siegen-Wittgenstein (+49%), Duisburg (+ 35 %), Gelsenkirchen (+20%), Essen (+15%) und Krefeld (+13%) deutlich an. Auch in den Städten Dortmund, Düsseldorf und Köln sind die Zahlen nach wie vor auf kontinuierlich hohem Niveau. Nicht in den Zahlen der Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte/innen enthalten sind indes die Fallzahlen von Beleidigungen gegen Polizeivollzugsbeamte/innen. Insbesondere in Zeiten, in denen Polizeibeamte/innen immer häufiger zur Zielscheibe werden und immer stärker Gewalttaten und Beleidigungen ausgesetzt sind, sollte Seitens des Staates grundsätzlich erwartet werden, dass Behördenleiter aus Fürsorgegründen bei objektiv nachweislichem Vorliegen einer Straftat gegen Polizeivollzugsbeamte/innen generell einen Strafantrag stellen und das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung von der Staatsanwaltschaft regelmäßig zu bejahen ist. Die Realität scheint gegenwärtig aber anders auszusehen . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9741 2 Polizeibeamte/innen in NRW berichten immer wieder davon, dass Seitens der vorgesetzten Dienststelle zu einer Beleidigungsanzeige die Stellung eines behördenseitigen Strafantrags bzw. ein sich anschließen an einen solchen von Beamten/der Beamtin gestellten Antrag (vgl. § 194 Abs. 3 StGB) abgelehnt wird. Und dies nicht, weil der Vorgang nicht strafrechtlich relevant ist. Sondern, weil man sich demnach augenscheinlich auf den Standpunkt stelle, Beleidigungen , die keinen sexuellen oder rassistischen Inhalt hätten, seien von den Polizeibeamten grundsätzlich auszuhalten. Oder man laufe damit Gefahr, die Staatsanwaltschaften stärker zu belasten und durch eine Vielzahl von Anträgen ihre Bereitschaft für solche Verfahren zu senken oder gar die Kriminalstatistiken nach oben zu treiben. Unklar ist auch, wie konsequent bei tätlichen Beleidigungen vorgegangen wird (z.B. Spucken). Viele Beamte sind darüber zu Recht verärgert, frustriert oder sprechen gar von „Resignation“ und „Abstumpfen“ und verzichten mittlerweile oft sogar auf das Schreiben einer Beleidigungsanzeige , da die Schreibarbeit „eh meist für die Tonne sei.“ Dabei werden Täter, die die Erfahrung machen, Polizeibeamten respektlos und aggressiv entgegentreten und sanktionslos beleidigen zu können bei der nächsten Begegnung in der Regel nicht besonnener und respektvoller. Im Gegenteil: Die Hemmschwelle für weitere Taten sinkt und die Gefahr weiterer Eskalationsstufen hin zu Tätlichkeiten steigen. Insoweit erscheint ein konsequentes Vorgehen bereits nach der Leitlinie „wehret den Anfängen“ angezeigt, statt abzuwarten, bis das nächste Mal vielleicht zugeschlagen wird. Denn unsere Polizeibeamten/innen sind kein Freiwild für Beleidigungen, sondern ihnen ist mit dem notwendigen Respekt zu begegnen. Die von Innenminister Jäger beauftragte Studie „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte " (abrufbar unter https://www.polizei.nrw.de/artikel__7303.html) hatte bereits im Jahre 2011 selbst festgestellt (vgl. S. 78), dass über 80 % der Polizeibeamten/innen in NRW im Jahre 2011 verbale beziehungsweise gestische Beleidigungen erlebt hatten, angeschrien oder verbal provoziert wurden. Die Studie führte weiter aus: „Insbesondere im Hinblick auf nicht‐tätliche Angriffe sowie bei der Unterstützung von Strafanträgen zeigten sich einige PVB unzufrieden mit dem Rückhalt durch ihre Vorgesetzten. Eine PVB sagte beispielsweise: „Was ich allerdings schon sagen muss, ist […], dass ich wenig Unterstützung bis gar keine Unterstützung erfahren habe, was insbesondere Beleidigungen angeht.“ Ähnlich wie PVB13 und PVB29, die den Umgang mit Gewalt gegen PVB durch Behörden und Gerichte als besonders belastend wahrnahmen (siehe Abschnitt 5.1.12), äußerten sich in diesem Zusammenhang auch mehrere andere PVB negativ über die Unterstützung durch die Behörde. So sagte beispielsweise ein PVB: „Wenn wir zum Beispiel beleidigt werden und wir schreiben deswegen eine Anzeige, kommt es vor, dass die Behörde sich dieser Anzeige nicht anschließt oder sich dem Strafantrag nicht anschließt. Das befremdet mich natürlich schon. […] Da würde ich mir von der Behörde wünschen, dass sie rückhaltloser hinter ihren Beamten steht.“ Diese Kritik einer wahrgenommenen mangelnden Unterstützung durch die Behörde zeichnete sich auch im quantitativen Studienteil ab (siehe Abschnitt 3.5.8).“ (Auszug Studie S. 343): Meiner Erfahrung nach gibt es keinen Rückhalt in der Behörde (…), wenn es um alle Formen der Beleidigungen geht. Nach dem Motto: Dafür wird man ja bezahlt. Gehört zum Beruf dazu .“ (Auszug Studie S. 159). Über 80 % der Beamtinnen und Beamten hatten demnach keine positive Rückmeldung darüber , ob bzw. dass der Behördenleiter wegen eines tätlichen Angriffs Strafantrag gestellt oder sich einem solchen Antrag des Polizeibeamten bzw. der Polizeibeamtin angeschlossen hatte. (vgl. Studie S. 160) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9741 3 Unklar ist, welche Strategie die Landesregierung und Praxis die Behördenleiter der Kreispolizeibehörden in NRW beim Thema Anzeige von Beleidigungsstraftaten gegen Polizeibeamte /innen konkret verfolgen. II. Rechtslage Die Beleidigung wird nach § 185 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Polizeibeamte/innen, die Opfer einer Beleidigung werden, sind hier nicht anders gestellt als ein anderer Bürger. Sie genießen durch das Strafrecht grundsätzlich den gleichen Schutz vor Beleidigungen, auch wenn die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze insbesondere zur Abgrenzung persönlicher Herabsetzung von nur allgemeiner Kritik an polizeilichen Maßnahmen, noch zulässiger Meinungsäußerung und Kollektivbeleidigung einer Personenmehrheit bzw. Einzelner unter Kollektivbezeichnung zu beachten sind. Den Straftatbestand erfüllende rechtswidrige Beleidigungen, die gegenüber Polizeibeamten /innen während der Ausübung des Dienstes oder in Bezug darauf begangen werden, sind vom Gesetz somit nicht nur klar strafbewährt. Sondern im Rahmen des Antragserfordernisses tritt vielmehr neben das Antragsrecht des beleidigten Amtsträgers nach § 194 Absatz 3 Sätze 1 und 2 StGB noch als verfahrensrechtliche Besonderheit ein zusätzliches unabhängiges Antragsrecht des Dienstvorgesetzten, insbesondere der Behördenleiter. Die Tat wird hier nicht nur im Interesse des Amtsträgers, sondern auch der Behörde verfolgt, wobei es auch um die Wahrung des Ansehens der Polizei geht. Zudem fällt auf, dass die sog. Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) in den Ziffern 229 und 232 festschreiben, dass bei der Beleidigung von Justizangehörigen grundsätzlich ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehen soll, bei einer Beleidigung von Polizeibeamte/innen hingegen nicht, so dass der Staatsanwalt - auch wenn ein Strafantrag nach § 194 Abs. 3 StGB vom Behördenleiter gestellt ist - zu prüfen hat, inwieweit ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Die Gründe für diese Ungleichbehandlung erschließen sich nicht. Die Richtlinien des Generalsstaatsanwalts in Saarbrücken zur Verfolgung und Bearbeitung von Straftaten gegen Polizeibeamte vom 21. Februar 2011 – 410-140/2010 – bereinigen dies und enthalten im Wesentlichen einen Appell zur effektiven Verfolgung solcher Straftaten, insbesondere von Widerstandsleistungen gemäß § 113 StGB und Beleidigungen nach § 185 StGB. So wird u. a. bestimmt, dass von Opportunitätseinstellungen zurückhaltend Gebrauch gemacht und bei Beleidigungsdelikten das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nach § 376 StPO - wie bei der Beleidigung von Justizangehörigen (Nr. 232 RiStBV) - regelmäßig bejaht werden soll. Vorbemerkung der Landesregierung Als Datenbasis für die Beantwortung der Fragen dienen die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) sowie die Vorgangsbearbeitungs- und Recherchesysteme der Polizei. Die Erfassung von Delikten erfolgt über das Vorgangsbearbeitungssystem der Polizei. Mit dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und seiner endgültigen Abgabe an die Staatsanwaltschaft wird der Vorgang in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst. Die Erfassung in der PKS erfolgt nach bundeseinheitlichen, jährlich mit den beteiligten Gremien abgestimmten Richtlinien . LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9741 4 1. In wie vielen Fällen sind im ersten Halbjahr 2015 in den Kreispolizeibehörden Köln, Düsseldorf, Bonn, Dortmund, Duisburg und Essen Anzeigen von Polizeibeamte /innen wegen Beleidigung angezeigt worden? Die Polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet im Deliktsbereich „Beleidigung“ zwischen „Beleidigung auf sexueller Grundlage“ und „Beleidigung ohne sexuelle Grundlage“. Eine weitere Differenzierung findet in der PKS nicht statt. Auch geben die Vorgangsbearbeitungs- und Recherchesysteme der Polizei keinen Aufschluss über den beruflichen Status des Anzeigenerstatters , sodass eine Erhebung auf dieser Datenbasis nicht möglich ist. 2. In wie vielen Fällen im ersten Halbjahr 2015 hat die dortige Behördenleitung nach Kenntniserlangung von Beleidigungsdelikten gegen Polizeibeamte/innen selbst Strafanzeige erstattet bzw. sich einer solchen des Beamten/der Beamtin angeschlossen bzw. dies abgelehnt? Weder in der PKS noch in den Vorgangsbearbeitungs- und Recherchesystemen der Polizei werden Angaben zu Behördenleiterstrafanträgen bzw. deren Anschluss oder Ablehnung an den Strafantrag einer Polizeibeamtin/eines Polizeibeamten erfasst. Eine Beantwortung in der dafür vorgesehenen Zeit ist daher mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leisten. 3. Wann hat die vorgesetzte Dienststelle wegen Beleidigung von Polizeibeamten /innen in NRW - zur Wahrung des verdienten Achtungsanspruchs des betroffenen Beamten und insoweit zugleich des Ansehens der Polizei - einen Strafantrag nach § 194 Abs. 3 StGB zu stellen bzw. sich einem Antrag anzuschließen (bitte auch unter Angabe etwaiger Richtlinien, Erlasse, Anweisungen, sonstiger Regelungen dazu)? Die Befugnis, einen Antrag nach § 194 Abs. 3 StGB zu stellen, obliegt im Land NordrheinWestfalen gemäß § 2 Abs. 2 und 4 des Landesbeamtengesetzes in Verbindung mit § 1 der Verordnung über beamtenrechtliche Zuständigkeiten im Geschäftsbereich des für Inneres zuständigen Ministeriums der Leiterin / dem Leiter der Behörde oder Einrichtung, bei der die Beamtin / der Beamte beschäftigt ist. Zur Umsetzung der NRW-Studie „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“ und nach Behandlung des Themas auf der „Führungstagung Frühjahr 2014“ der Polizei NRW habe ich ein Schreiben an die Behördenleiterinnen und Behördenleiter verfasst. Eine der Handlungsempfehlungen hierin hat insbesondere den Aspekt der selbständigen Stellung eines Strafantrages der Behördenleitung im Zusammenhang mit Straftaten zum Nachteil von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zum Thema. Hierbei wurde besonders auf die positive Auswirkung im Hinblick auf die Motivation und damit auf die Funktionsfähigkeit der Polizei insgesamt hingewiesen. 4. Sollte aus Sicht der Landesregierung in NRW entsprechend genannter Regelung der RiStBV zur Beleidigung von Justizangehörigen grundsätzlich auch ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung jeder strafbewährten Beleidigung eines Polizeibeamten bestehen? Der Landesregierung liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen bei der Verfolgung von Beleidigungen von Polizeibeamtinnen und - beamten, denen diese während der Ausübung ihres Berufs oder in Beziehung auf diesen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 16. Wahlperiode Drucksache 16/9741 5 ausgesetzt sind, in den angesprochenen Fällen der Stellung eines Strafantrages durch den Dienstvorgesetzten (§ 194 Absatz 3 StGB) die Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses an gebotener Strafverfolgung und der Verteidigung der Rechtsordnung nicht gebührend berücksichtigten . Im Übrigen sind die inhaltliche Unabhängigkeit der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und deren Entscheidungshoheit über die Ermittlungen zu respektieren. Soweit die grundsätzliche Frage aufgeworfen wird, ob in die bundesweit geltenden Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) eine der Nummer 232 Absatz 1 und 2 entsprechende Regelung aufgenommen werden sollte, wird die Landesregierung dies im Unterausschuss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister für die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV-Ausschuss) über das Vorsitzland Hessen zur Diskussion stellen. 5. Inwieweit werden Polizeibeamte/innen behördenseitig dabei unterstützt, Schmerzensgelder wegen Beleidigung von Polizeibeamten bzw. -innen konsequent - möglichst im Adhäsionsverfahren durchzusetzen? Der Schmerzensgeldanspruch hat grundsätzlich über den Ausgleich für erlittene und gegebenenfalls noch zu erleidende Schmerzen hinaus auch eine auf die Person des Verletzten gerichtete Genugtuungsfunktion. Die Entscheidung, ob, wann und auf welchem Wege ein Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht und durchgesetzt werden soll (Adhäsionsverfahren oder gesonderte zivilrechtliche Durchsetzung), obliegt daher der verletzten Person selbst. Entschließen sich Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte zu einer Verfolgung, so können sie gemäß dem Gemeinsamen Runderlass des Innenministeriums - 24 - 1.42 - 2/08 - und des Finanzministeriums - IV - B 1110-85.4-IV A 2- vom 07.07.2008 („Rechtsschutz für Landesbeschäftigte“) bei der gerichtlichen Durchsetzung eigener zivilrechtlicher Ansprüche aus Rechtsverletzungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit stehen, zur Bestreitung der notwendigen Kosten einen Vorschuss oder zinsloses Darlehen beantragen.