LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/10370 30.07.2020 Datum des Originals: 29.07.2020/Ausgegeben: 05.08.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4008 vom 25. Juni 2020 des Abgeordneten Frank Neppe FRAKTIONSLOS Drucksache 17/10085 „Problem, die geltenden Auflagen zu erfassen“: Corona und die Kommunikationskrise Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Den deutschen Leitmedien attestiert das Nachrichtenmagazin „heise online“, in der Corona- Berichterstattung eine staatstragende Rolle eingenommen zu haben. Zum gesellschaftlichen Lockdown komme „der mediale Lockout der Kritiker“ hinzu. Der Umgang mit Kritikern zeuge von einer „bisher nicht dagewesenen Totalität“. [1] Zugleich lässt sich hinsichtlich der Corona-Beschränkungen und -Hygieneauflagen eine Verunsicherung in der Bevölkerung konstatieren. So ergab eine Umfrage des MDR mit rund 17.000 Teilnehmern, dass es den Menschen schwerfalle, „die für sie geltenden Auflagen zu erfassen“. 50 Prozent der Befragten forderten, die Politik müsse die Regelungen besser erklären; etwa ein Drittel erachte die Vorgaben als zu kompliziert. [2] Ebenjener Verwirrung – mitunter wohl auch schlichter Ignoranz und bewusstem Ungehorsam – mag es geschuldet sein, wenn Menschen in Alltag und Freizeit die Hygieneschutzauflagen verletzen. So rückten in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 2020 in der Düsseldorfer Altstadt Polizei und Ordnungsamt an, um die beliebten Feierlokalitäten Kurze Straße sowie Rheinufer- Promenade zu räumen, als sich dort große Menschenansammlungen gebildet haben sollen. [3] Mit der Einbahnstraße gegen Corona? Um potenziellen Infektionsherden, die aus dem regen Nachtleben in der Düsseldorfer Altstadt erwachsen könnten, einen Riegel vorzuschieben, erwägt Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) die Einführung von sogenannten „Fußgänger-Einbahnstraßen“. Diese, so berichtete „Bild“ online am 23. Juni 2020, könnten u. a. auf der Bolkerstraße, einem beliebten Vergnügungsviertel der Altstadt, Anwendung finden. „Die Idee: So könnte man die Besucherströme, die aktuell gerade am Wochenende und bei gutem Wetter fast so groß sind wie vor der Krise, besser leiten und kontrollieren.“ [4] Wie das in der Praxis konkret aussähe, wie die Einhaltung einer derartigen Maßnahme kontrolliert würde, ob – und wenn ja, welche – Sanktionen bei Missachtung drohten, war zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Kleinen Anfrage nicht bekannt. Händler und Supermärkte: Sicherheitskonzept als Flickenteppich LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10370 2 Dass es bundesweit keine einheitlichen Corona-Regeln gibt, stellt ferner für den Handel ein Problem dar. Den Händlern ist es selbst überlassen, welches Sicherheitskonzept Anwendung findet. Maskenpflicht und Mindestabstand gelten zwar fast überall beim Einkaufen. In puncto Plexiglas-Schutz oder Maskenpflicht bei Mitarbeitern herrscht indes kein allgemeingültiger Konsens – die Filialkonzepte gleichen einem Flickenteppich. Für größere Ketten seien diese regionalen Unterschiede ein erheblicher Mehraufwand, wie das Technikmagazin „CHIP“ online berichtete. [5] Föderalistisch versus zentralistisch und die beliebte Aluhut-Keule Bundesgesundheitsminister Jens Spahn äußerte im ZDF-Interview (6. Mai), er halte „regional angepasste Maßnahmen“ bei der Lockerung der Corona-Maßnahmen für verständlich, plädiere aber weiterhin für ein gemeinsames Vorgehen von Bund und Ländern. „Wenn wir es schaffen, jeden kleinen Ausbruch sehr schnell einzudämmen miteinander, regional oder lokal, dann eben gelingt es auch, jetzt gemeinsam in diese Perspektive, in diese Aufhebung von Beschränkungen bundesweit hineinzugehen“. Einheitliche Kriterien würden Vertrauen schaffen, ein zusammenhangloser Flickenteppich stifte hingegen Verwirrung. [6] Dass er dadurch einen in der Praxis kaum realisierbaren Spagat fordert und vereinen will, was nicht vereinbar ist, scheint sich seiner Expertise zu entziehen – eine „halb-föderalistische“ bzw. „halb-zentralistische“ Bundesrepublik kann es schließlich nicht geben. Das Hauptaugenmerk muss also auf effektivere Kommunikation und Abgleich regional divergierender Schutz- und Hygienekonzepte gelegt werden, und zwar in einer Form, dass es auch der sogenannte Otto Normalbürger versteht. Wobei das Verständnis des Bürgers freilich nicht mit einem blinden Obrigkeitsgehorsam zu verwechseln ist – kritisch-hinterfragende Stimmen müssen in einer liberalen Gesellschaft nicht nur bloß geduldet, sondern vielmehr erwünscht sein. Dass der Meinungspluralismus, der Wettstreit von Ideen und Ansichten, welcher das Herzstück freiheitlicher Demokratien ist, indes in der Coronakrise mehr als kränkelt, äußert sich allein in der Art, wie Regierung und Medien an den Lippen des Charité-Virologen Christian Drosten hängen, während abweichende Stimmen (Wodarg, Streeck, Bhakdi) marginalisiert bis pathologisiert werden. Der aktuell inflationär bemühte Terminus „Verschwörungstheoretiker“ übernimmt hier primär die Funktion einer Totschlagvokabel – ähnlich „altbewährter“ Begriffe wie „Nazi“, „Rassist“ oder „Antisemit“ –, welche die Diskursoffenheit im Keim erstickt. Der Trick besteht vor allem darin, legitime Kritik und Skepsis an den Regierungsmaßnahmen in die Nähe der absurdesten unter den Verschwörungstheorien zu rücken (Kontaktschuld). Motto: Wer die Corona-Maßnahmen der Regierung anzweifelt, glaubt auch an die flache Erde oder dass Elvis lebt. „No Country for Old Men“? – Wer im Internet nicht surft, darf auch nicht schwimmen Des Weiteren scheinen die Corona-Auflagen mancher Freizeit- und Sport-Einrichtungen nicht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass manche Gesellschaftsgruppen ein von der Mehrheit abweichendes Medienkonsumverhalten haben. So beklagte jüngst eine Düsseldorfer Rentnerin, ihr werde der Eintritt ins Freibad verwehrt, da dafür eine vorige Online-Anmeldung vonnöten sei, sie aber kein Internet habe. Ein stellvertretender Vorsitzender des Seniorenrats kritisiert: „Die älteren Menschen fahren mit Aufwand zum Freibad, sehen das Schild und drehen wieder um. Wenn sie am Telefon darauf hingewiesen werden, man könne sich an Bekannte wenden, sorgt das für Unmut! Viele haben diese Möglichkeit nicht.“ [7] LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10370 3 Zahlen-Jonglage und babylonisches Sprachgewirr Die graduellen Lockerungen der Corona-Regeln in NRW sind im Sinne einer freiheitlichen Gesellschaft zwar zu begrüßen – nicht aber das unüberschaubare und teils schwer nachvollziehbare Auflagen-Konvolut, wenn es um maximale Personenzahlen geht. Zitat „Bild“ online vom 11. Juni 2020: „Ab Montag (15. Juni) sind Versammlungen mit mehr als 100 Zuschauern unter bestimmten Auflagen wieder erlaubt. Zudem dürfen private Feste wie Jubiläen, Hochzeiten, Taufen oder Geburtstage mit maximal 50 Teilnehmern gefeiert werden, wenn Auflagen zur Rückverfolgung und Hygienevorkehrungen eingehalten werden. Bars sowie Wellnesseinrichtungen und Erlebnisbäder können ihren Betrieb unter Auflagen wieder aufnehmen. Erleichterungen gelten auch für Sportarten mit Körperkontakt. Sie sind dann auch in geschlossenen Räumen bis zu zehn Personen, im Freien für Gruppen bis zu 30 Personen wieder zulässig.“ [8] Zu Beginn der Coronakrise, im März, schrieb „WELT“ online: „Sollen wir einen Vorrat an Nudeln anlegen? Oder einen Onlinehandel mit Atemschutzmasken betreiben? Sind die Maßnahmen der Behörden übertrieben – oder zu lasch? Für eines sorgt das Coronavirus ganz sicher: Ratlosigkeit und Verwirrung.“ [9] Es wäre hilfreich gewesen, hätten Medien und Politiker versucht, mit einer klareren Sprache mehr Licht ins Dunkel ebenjener Ratlosigkeit und Verwirrung zu bringen. Nicht hinsichtlich des Ausgangs der Pandemie oder der Gefahr einer weiteren Welle – sie sind schließlich keine Hellseher –, sondern hinsichtlich der Gestaltung der Schutzmaßnahmen. Denn von Stringenz konnte kaum die Rede sein, eher: babylonisches Sprachgewirr. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4008 mit Schreiben vom 29. Juli 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet. 1. Mit welchen Maßnahmen will die Landesregierung dem Umstand begegnen, dass bestimmten Gesellschaftsgruppen, die das Internet nicht nutzen, das Besuchen von Freizeit- und Sport-Einrichtungen oder die Nutzung von Dienstleistungen coronabedingt verwehrt wird, da für diese eine Online-Anmeldung oder anderweitige elektronische Kontaktaufnahme vonnöten ist? Die Landesregierung hat keine Regelungen getroffen, dass die Besuche von Freizeit- und Sport-Einrichtungen oder die Nutzung von Dienstleistungen nur über eine elektronische Kontaktaufnahme erfolgen kann. Die Umsetzung der Zugangsregelungen zu Freizeitaktivitäten liegt bei den jeweiligen Einrichtungen. Um die Gesellschaftsgruppen, die keinen Internetzugang nutzen, nicht auszuschließen, bieten viele Einrichtungen Alternativen, wie eine telefonische Anmeldung oder Papierlisten an. Des Weiteren können Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn die elektronische Anmeldung vornehmen. Die Studie zur Nachbarschaftshilfe, die vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Auftrag gegeben wurde, bestätigt, dass die meisten Menschen in Nordrhein- Westfalen in „guter Nachbarschaft“ leben und mehr als die Hälfte bereit ist sich in der Corona- Krise für ihre Nachbarn einzusetzen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10370 4 Für die Rückverfolgbarkeit ist in § 2a Abs. 3 der Coronaschutzverordnung festgelegt, dass Personen, die in die digitale Datenerfassung nicht einwilligen, in jedem Fall eine papiergebundene Datenerfassung anzubieten ist. 2. Wie bewertet die Landesregierung Effektivität und Praxistauglichkeit der von OB Thomas Geisel angeregten „Fußgänger-Einbahnstraßen“, um potenziellen Infektionen mit dem Coronavirus entgegenzuwirken? (Bitte nennen: Medizinische bzw. epidemiologische Erkenntnisse, die für eine derartige Maßnahme sprechen) Die Städte können eigenständig zusätzliche Maßnahmen anordnen, um die Infektionsgefahr bestmöglich zu vermeiden. Dabei haben sie die infektiologische Bewertung selbst aufgrund der konkreten Sachverhaltssituation vor Ort zu bewerten. Da die lokalen Verhältnisse der Landesregierung im Einzelnen nicht bekannt sind, enthält sich die Landesregierung – vorbehaltlich einer konkreten Prüfung im Rahmen der Fachaufsicht der Bewertung lokaler Maßnahmen. 3. Was Kritik und Skepsis hinsichtlich der Schutzmaßnahmen in der Coronakrise anbelangt: Wo verläuft für die Landesregierung die Grenze zwischen legitimer Kritik und sogenannter Verschwörungstheorie? Die Landesregierung setzt sich dafür ein, dass sämtliche staatlichen Institutionen transparente und sachgerechte Informationen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die Landesregierung nimmt keine pauschale Einordnung von Meinungsäußerungen in die vom Fragesteller aufgeworfenen Kategorien vor. 4. Zu wie vielen Polizeieinsätzen mit dem Zwecke der Räumung aufgrund Verletzung der Hygiene- und Abstandsauflagen kam es in der Düsseldorfer Altstadt seit Inkrafttreten der Corona-Schutzmaßnahmen? Laut Bericht der Kreispolizeibehörde (KPB) Düsseldorf kam es seit Inkrafttreten der Corona- Schutzmaßnahmen zu insgesamt acht polizeilichen Einsätzen im Zusammenhang mit Räumungen im Bereich der Altstadt. In allen Sachverhalten ersuchten Mitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt Düsseldorf die Kreispolizeibehörde Düsseldorf um Amts- und Vollzugshilfe, nachdem zu hohe Personendichten bzw. Verstöße gegen die Corona-Schutz- Verordnung festgestellt worden waren. In allen Fällen entsprach die KPB Düsseldorf den Ersuchen und gewährleistete die Räumung der entsprechenden Örtlichkeiten. 5. Bei wie vielen der unter Frage 4 erfragten Einsätze kam es zu gewaltsamem Widerstand oder Verletzungen von Polizeibeamten bzw. anderen Beteiligten? Bei einem der in der Antwort auf Frage 4 erwähnten Einsätze kam es im Bereich der Freitreppe bzw. am Burgplatz in Düsseldorf aus der Personengruppe heraus zu Flaschenwürfen auf die einschreitenden Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten (PVB). Hierbei wurden zwei PVB durch Flaschen getroffen, eine PVB wurde am Sprunggelenk getroffen und leicht verletzt. Darüber hinaus kam es zu keinen Widerstandshandlungen gegenüber den PVB. Verletzungen von anderen beteiligten Personen in Zusammenhang mit den oben genannten Einsätzen sind ebenfalls nicht bekannt.