LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/10489 10.08.2020 Datum des Originals: 07.08.2020/Ausgegeben: 14.08.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4019 vom 6. Juli 2020 der Abgeordneten Mehrdad Mostofizadeh und Norwich Rüße BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/10105 Trotz massivem Vertrauensbruch – wann übernimmt die Landesregierung die Verantwortung für die Tönnies-Belegschaft? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die hohen Infektionszahlen in der Tönnies-Belegschaft mit dem Corona-Virus haben grundsätzliche Fragen darüber aufgeworfen, ob der Arbeitsschutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die oberste Priorität für die Betriebe, aber auch für die involvierten politischen Instanzen hat. So wurde der Firma Tönnies mangelnde Kooperationsbereitschaft in der Aufarbeitung des Infektionsgeschehens vorgeworfen. Die Verantwortlichen der Firma behaupteten etwa, eine Herausgabe der Daten zu den Unterkünften der gesamten Belegschaft an die Behörden sei aus Gründen des Datenschutzes nicht möglich, obwohl die Herausgabe der Daten im Infektionsschutzgesetz zum Schutz der Allgemeinheit klar geregelt ist12. Dem steht auch nicht die Datenschutzgrundverordnung im Wege. Ministerpräsident Armin Laschet bemühte sich daraufhin, eine härtere Gangart gegenüber Tönnies zu demonstrieren und ließ verlauten, man habe die Herausgabe der Daten verfügt, da Tönnies nur mangelnde Kooperationsbereitschaft zeige3. Auch NRW-Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann von der CDU betonte oftmals in vergangenen Ausschusssitzungen und in Interviews, dass es in der Fleischindustrie kein Vertrauen geben könne4. Er habe schon seit langem aufgehört, sich über die Fleischindustrie zu ärgern5. 1 https://blog.wiwo.de/management/2020/06/25/wenn-fleischunternehmer-toennies-mit-demdatenschutz -wedelt-und-geburtstagslisten-verschwinden-drei-fragen-zur-dsgvo-an-arbeitsrechtlerphilipp -byers-ueber-schutzbehauptungen-und-irrtuemer-beim-daten/ 2 https://www.topagrar.com/management-und-politik/news/toennies-problem-laumann-hat-glauben-anfreiwillige -vereinbarungen-mit-fleischwirtschaft-verloren-12091054.html 3 https://www.wz.de/nrw/laschet-wirft-toennies-mangelnde-kooperation-vor_aid-51804717 4 https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/toennies-landesregierung-kommentar-100.html 5 https://rp-online.de/panorama/coronavirus/coronavirus-bei-toennies-laumann-droht-fleischindustrieund -forder-mehr-transparenz_aid-51770629 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10489 2 Ein weiterer Anlass zur Verärgerung bietet jedoch ein Antwortschreiben des Bürgermeisters der Stadt Rheda-Wiedenbrück an die Grüne Ratsfraktion Rheda-Wiedenbrück vom 23.04.2020. Darin heißt es: „Der Kreis Gütersloh und das Land NRW haben in Abstimmung festgestellt, dass Tönnies einen Versorgungsauftrag als Unternehmen mit kritischer Infrastruktur hat, was dazu führt, dass nicht an allen Stellen der Mindestabstand gewährleistet werden kann, um die notwendige Produktion fortzusetzen. Der Schutz der Mitarbeitenden wird, so Tönnies, aber auch unter diesen Voraussetzungen bestmöglich gewährleistet6“. Im Schreiben wird darauf hingewiesen, dass die Antworten durch die Firma Tönnies beantwortet wurden. Während der Aussprache zur Aktuellen Stunde und in der Fragestunde im Landtag am 25.06. sowie in einer Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales am 26.06. dementierte Arbeits- und Gesundheitsminister Laumann diese Darstellung. Zwar sei Tönnies als Zerlegebetrieb systemrelevant, aber gehe mit dieser Einstufung lediglich ein Anspruch auf Notbetreuung bei Kindern einher. Es gebe keinerlei Aufweichungen des Arbeitsschutzes, so wie es in der Antwort dargestellt worden sei, die Corona-Arbeitsschutzverordnungen durch das Bundesamt hätten weiterhin Bestand. Das Ministerium ergänzte, dass es über das Schreiben aus Rheda-Wiedenbrück sehr irritiert sei und sich auf Nachfrage von Seiten des MAGS herausgestellt habe, dass hier eine entscheidende Fehlinterpretation durch Tönnies vorliege. Weder wurde aber die Frage, ob diese eindeutig rechtwidrige „Fehlinterpretation“ von Seiten Tönnies‘ vorsätzlich erfolgte, noch wie solch grundlegende und relevante Unterschiede in der Auslegung zwischen der Landesregierung und dem Betrieb zustande kommen konnten, zu diesem Zeitpunkt abschließend beantwortet. Darüber hinaus verwundert die Vorgehensweise, dass der Bürgermeister von Rheda-Wiedenbrück diese Antwort und auch die vermeintlichen Konsequenzen offensichtlich vorbehaltslos übernommen hat. Den vielen Hinweisen und Bekundungen zum Trotz, dass der Fleischindustrie nicht zu trauen sei, überließ die Landesregierung die Versorgung der Mitarbeitenden, die sich nun in Quarantäne befinden, allein den Städten und Gemeinden zusammen mit Tönnies. Eine Verantwortung von Seiten der Landesregierung sah Laumann nicht. So sagte Gesundheitsminister Laumann im Rahmen der Fragestunde: „Wir müssen sehen, dass die Versorgung der Menschen eine Aufgabe der Gemeinden und der Städte ist. Die örtlichen Ordnungsämter müssen das organisieren und überwachen, dass das klappt. Wenn das über die Strukturen der Arbeitgeber, die meiner Meinung nach moralisch als Allererste in der Verpflichtung dazu stehen, nicht ausreichend funktioniert, kann man Hilfsorganisationen […], die sich dann strukturell vernünftig organisiert um diese Fragen kümmern. […] [Die Versorgungsfrage] kann ich nicht von Düsseldorf aus regeln. Im Übrigen ist klar geregelt, dass die Zuständigkeit dafür bei den örtlichen Ordnungsämtern und den Gemeinden liegt.“ Doch auch hier werden Zusagen von Seiten des Unternehmens nicht eingehalten. Beispielsweise sollte Tönnies seine knapp 500 Mitarbeitenden in Oelde, die in über 150 Unterkünften untergebracht sind, selbst versorgen. Dies habe aber laut Sprecherin der Stadt nicht geklappt, sodass das Deutsche Rote Kreuz zusammen mit dem Ordnungsamt 6 https://gruene-rhedawiedenbrueck .de/userspace/NW/ov_rheda_wiedenbrueck/Presseartikel/20200504_Antwort_Frakt._B9 0_Die_Gruenen_Toennies_Schutzmassnahmen.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10489 3 einspringen mussten, um die überwiegend rumänischen Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen7. Dasselbe Szenario zeigt sich in der Stadt Ennigerloh (ebd.). Auch im Kreis Gütersloh kritisiert Landrat Adenauer, dass die von Tönnies angeheuerten Subfirmen die Versorgung ihrer Mitarbeitenden vernachlässigen würden, die sie dem Landrat zugesagt hätten8: „Es kann nicht sein, dass nun 60 Einsatzkräfte vom Roten Kreuz, dem Malteser Hilfsdienst, den Johannitern und dem THW im Dauereinsatz sind“, so Adenauer. Zudem würden den Krisenstab „immer wieder teils groteske Details“ vom Umgang der Subunternehmer mit ihren Angestellten und deren Angehörigen erreichen. Erst kürzlich berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass ein Tönnies-Subunternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter widderrechtlich dazu drängt, Kurzarbeitsbescheide zu unterschreiben, um Gehaltsansprüche zu drücken9. Das Vertrauen in die Fleischbranche, explizit auf die Firma Tönnies mitsamt seinen Subunternehmen, wurde mehrfach erschüttert. Gerade jetzt ist die Landesregierung dazu angehalten die Versorgung, den Gesundheitsschutz und die Arbeitnehmerrechte der Mitarbeitenden zu überwachen. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4019 mit Schreiben vom 7. August 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und dem Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie wie folgt: 1. Wie ordnet die Landesregierung die oben zitierte Antwort auf eine Anfrage der Grünen Rheda-Wiedenbrück und deren Folgen in Bezug auf bisherige und ggf. weitere Kooperationsbeziehungen mit Tönnies ein? Nach Kenntnisstand der Landesregierung hat der Bürgermeister der Stadt Rheda- Wiedenbrück zur Beantwortung einer Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Stadtrats Rheda-Wiedenbrück die Firma Tönnies um Stellungnahme gebeten. Nach Eingang der Stellungnahme der Firma Tönnies hat der Bürgermeister der Stadt Rheda-Wiedenbrück der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Antwortschreiben übersandt, in dem die Fragen beantwortet werden, und die Maßnahmen der Stadtverwaltung zur Vorsorge für die Einhaltung von Hygieneschutzmaßnahmen in Unterkünften der Beschäftigten von Werkvertragsfirmen vorgestellt. Die Stadt Rheda-Wiedenbrück hat das Anschreiben an die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Stadtrates Rheda-Wiedenbrück zur Beantwortung der gestellten Fragen und zur Vorstellung der bis zum 23. April 2020 erarbeiteten Hygieneschutzmaßnahmen der Stadtverwaltung erstellt. Im Rahmen der Beantwortung der Anfrage war die Landesregierung nicht beteiligt. 7 https://www.radiowaf.de/nachrichten/kreis-warendorf/detailansicht/drk-hilft-in-oelde-bei-derversorgung -von-toennies-mitarbeitern.html 8 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/nach-corona-ausbruch-kreisguetersloh -toennies-subunternehmen-lassen-mitarbeiter-in-quarantaene-imstich /25965986.html?ticket=ST-7942400-jWbCPSO9SHxTEVWz4xEg-ap4 9 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kurzarbeit-toennies-subunternehmen-fleischindustrie- 1.4954553 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10489 4 Mit der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 im Bereich der Betreuungsinfrastruktur (Coronabetreuungsverordnung) sind kritische Infrastrukturen benannt worden. Mit der Verordnung ist für Kinder von Beschäftigten aus kritischen Infrastrukturen ein Rechtsanspruch auf eine Betreuungsinfrastruktur geregelt worden. Eine Regelung, dass in Bereichen von kritischen Infrastrukturen Hygiene- und Arbeitsschutzbestimmungen nicht vollständig oder nur teilweise angewendet werden müssen, bestand und besteht nicht. In den Bereichen, die zu kritischen Infrastrukturen zählen, sind alle Maßnahmen des Hygieneund Arbeitsschutzes, die zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 dienen, vollständig einzuhalten. 2. Am 26.6.2020 hat Gesundheitsminister Laumann mit Blick auf das genannte Antwortschreiben gesagt, dass er ja nicht alle kommunalen Schreiben überwachen könne. Dennoch hat die Antwort der Firma Tönnies erhebliche Auswirkungen auf die Wahrung des Arbeitsschutzes. Sieht das MAGS als oberste Kontrollbehörde auch weiterhin keinen Bedarf seiner Aufsichtsfunktion (in rechtlicher und/oder fachlicher Sicht) nachzukommen, d.h. jetzt auch formal gegenüber den kommunalen Behörden die Diskrepanz in der Auslegung des Arbeitsschutzes durch Tönnies und die kommunalen Behörden, der CDUgeführten Stadt Rheda-Wiedenbrück und des CDU-geführten Kreises Gütersloh klarzustellen mit der Folge, dass dies auch vor Ort künftig konsequent ausgeführt wird? Für die Prüfung des Vollzuges des Arbeitsschutzes in den Betrieben sind die Arbeitsschutzdezernate in den Bezirksregierungen zuständig, die diese Aufgabe durch entsprechende Kontrollen wahrnehmen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales führt die Fachaufsicht über die Arbeitsschutzdezernate. Insofern besteht im Arbeitsschutz eine eindeutige Fachaufsichtsstruktur, die vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales wahrgenommen wird. 3. Inwieweit vertritt die Landesregierung angesichts der Verlängerung der Quarantäne und im Hinblick auf lautwerdende Beschwerden über die Versorgungssituation weiterhin die Position, dass die Versorgung und Unterbringung der Betroffenen in Quarantäne allein in der Verantwortung der Kommunen in Zusammenarbeit mit Tönnies und der Subunternehmen liegen soll? Bei den besonderen Arbeits- und Lebensverhältnissen von Beschäftigten der Werkvertragsunternehmen sieht die Landesregierung die Hauptverantwortung zur Versorgung und Unterbringung der in Quarantäne befindlichen Werkvertragsbeschäftigten bei den Arbeitgebern, da diese durch das Anwerben der vorwiegend aus Osteuropa stammenden Menschen für ein Arbeitsverhältnis in Deutschland eine besondere Fürsorgepflicht wahrnehmen müssen. Darüber hinaus verfügen die Arbeitgeber durch die Bereitstellung von Werkswohnungen, Gemeinschaftsunterkünften oder anderen Unterkünften über die erforderlichen Zugangsmöglichkeiten zur Unterstützung ihrer Beschäftigten. Die Kommunen stellen im Rahmen ihrer Zuständigkeit für ordnungsrechtliche Aufgaben, die den örtlichen Ordnungsbehörden als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung übertragen sind, die Einhaltung von Quarantänemaßnahmen sicher und leisten durch die Sicherung der LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10489 5 Grundversorgung mit unverzichtbaren Gütern des alltäglichen Lebens Hilfe für betroffene Menschen. Insofern liegt die Zuständigkeit für die konkreten Hilfeleistungen, wenn diese nicht durch die vorgenannten Arbeitgeber organisiert oder geleistet werden, vor Ort in den Kommunen. 4. Wie bewertet die Landesregierung die derzeitige Situation der Beschäftigten von Tönnies und seinen Subunternehmern bezüglich einer angemessen Unterbringung und der allgemeinen Versorgung der Betroffenen (u.a. medizinische Untersuchung und Versorgung und Versorgung mit Lebensmitteln und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs)? Im Rahmen einer landesweiten Überprüfung hat die Arbeitsschutzverwaltung in Zusammenarbeit mit den unteren Gesundheits-, Ordnungs- und Bauordnungsbehörden Unterkünfte der Beschäftigten der Werkvertragsfirmen der Fleischindustrie im Hinblick auf die Einhaltung der Hygieneschutzmaßnahmen überprüft. Zu den Ergebnissen der Kontrollen wird auf den Bericht des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Vorlage 17/3622 - Auswertung der Ergebnisse der Überprüfung der Einhaltung der SARS-CoV-2- Arbeitsschutzstandards in ausgewählten Bereichen an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags vom 7. Juli 2020 verwiesen. Im Rahmen der vorgenannten Kontrollen wurden Verbesserungen der Wohn- und Lebensbedingungen angeordnet und umgesetzt. Die Kontrollen werden aktuell fortgeführt. 5. Inwieweit hat die Landesregierung ein landesweites Konzept zur sorgfältigen Durchsetzung der Quarantäne unter anderem bezüglich der Unterbringung und Versorgung mit medizinischen Ressourcen und Dingen des täglichen und ggf. individuellen besonderen Bedarfs erarbeitet? Wie in der Antwort zur Frage 3 ausgeführt, sind die Kommunen für ordnungsrechtliche Aufgaben zur Einhaltung von Quarantänemaßnahmen zuständig und leisten bei Bedarf die Sicherung der Grundversorgung mit unverzichtbaren Gütern des alltäglichen Lebens für Menschen in Notlagen. Diese Zuständigkeitsregelung ist auch vor dem Hintergrund sinnvoll, dass örtliche Gegebenheiten, Ressourcen und Kooperationspartner bekannt sind und sinnvoll berücksichtigt werden können. Dies gilt auch für die medizinische Versorgung, die vor Ort organisiert werden kann und muss. Auch hier müssen Disparitäten in der Versorgungsdichte vor Ort ausgeglichen werden. Das Land unterstützt, wo möglich, wenn die Kommunen Unterstützungsbedarf mitteilen.