LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/10670 18.08.2020 Datum des Originals: 18.08.2020/Ausgegeben: 24.08.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4096 vom 14. Juli 2020 der Abgeordneten Wibke Brems, Mehrdad Mostofizadeh und Norwich Rüße BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/10202 Vernachlässigung von Arbeits- und Infektionsschutz auf Kosten der Bevölkerung: Wie wird die Firma Tönnies zur Verantwortung gezogen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die hohen Infektionszahlen in der Tönnies-Belegschaft mit dem Corona-Virus haben im Juni dazu geführt, dass sich alle rund 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma Tönnies und ihrer Subunternehmen in Quarantäne begeben und dort teilweise von Hilfsorganisationen versorgen lassen mussten. In den Kreisen Gütersloh und Warendorf wurden Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie z.B. strengere Kontaktbeschränkungen, Kita- und Schulschließungen verhängt, um die weitere Verbreitung des Virus‘ zu verhindern. In der Plenarsitzung am 24. Juni erklärte Minister Laumann, dass der Arbeitsschutz bei Begehungen im Mai 2020 mehrfach Mängel wie die Unterschreitung des Mindestabstands während der Tätigkeit sowie das fehlende Tragen einer Mund-Nasenbedeckung festgestellt und in mehreren Werkswohnungen mittlere und gravierende Mängel wie Schimmelbefall und ähnliches beanstandet habe. Aus mehreren Medienberichten (z.B. in der WDR-Sendung Westpol vom 21.06.) wurde bekannt, dass auch in der Werkskantine keine Umsetzung der Abstandsregelungen stattfand. In einem Schreiben der Stadt Rheda-Wiedenbrück vom 23. April an die Grüne Ratsfraktion heißt es, „Der Kreis Gütersloh und das Land NRW haben in Abstimmung festgestellt, dass Tönnies einen Versorgungsauftrag als Unternehmen mit kritischer Infrastruktur hat, was dazu führt, dass nicht an allen Stellen der Mindestabstand gewährleistet werden kann, um die notwendige Produktion fortzusetzen. Der Schutz der Mitarbeitenden wird, so Tönnies, aber auch unter diesen Voraussetzungen bestmöglich gewährleistet.“ Während der Aussprache zur Aktuellen Stunde und in der Fragestunde im Landtag am 25.06. sowie in einer Sondersitzung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales am 26.06. kam heraus, dass die Stadt Rheda-Wiedenbrück mit oben genanntem Schreiben eine „Fehlinterpretation“ (so das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW) der Firma Tönnies zu der Einstufung als systemrelevantes Unternehmen und einer damit vermeintlich einhergehender Erlaubnis, den Mindestabstand nicht überall einhalten zu müssen, übernommen hat (siehe Kleine Anfrage Nr. 4019, Drucksache Nr. 17/10105). Die Frage danach, ob diese rechtswidrige „Fehlinterpretation“ von Seiten Tönnies‘ vorsätzlich erfolgte LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10670 2 und wie solche deutlichen Unterschiede in der Auslegung zwischen der Landesregierung und dem Unternehmen zustande kommen konnten, wurde noch nicht geklärt. Dass die Firma Tönnies und einige ihrer Subunternehmen in dieser Situation die Erstattung von Lohnkosten durch das Land Nordrhein-Westfalen für die Quarantäne-Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz beantragt hat, sorgte für allgemeines Unverständnis in der Politik. Auch der Landrat des Kreises Gütersloh, Sven-Georg Adenauer, sagte „Rechtlich hat er natürlich diese Möglichkeit. Moralisch sollte er sich gut überlegen, ob er das macht.“ (WDR, 12.07.) Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4096 mit Schreiben vom 18. August 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern, dem Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie und dem Minister der Justiz beantwortet. 1. Gegen die Firma Tönnies wurde mehrfach Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gestellt. Inwiefern wird aufgrund dieser Anzeigen ermittelt, ob eine Straftat begangen wurde? Hierzu hat die Leitende Oberstaatsanwältin in Bielefeld dem Ministerium der Justiz unter dem 24. Juli 2020 im Wesentlichen wie folgt berichtet: „Das bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld aufgrund zahlreicher Strafanzeigen im Zusammenhang mit den massenhaften SARS-CoV-2-Infektionen eingeleitete Ermittlungsverfahren wird gegen die Verantwortlichen der Firma Tönnies – namentlich gegen die Geschäftsführer der Tönnies Holding ApS & Co. KG – wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 229 Strafgesetzbuch sowie wegen möglicher strafbewehrter Verstöße gegen das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (§§ 74, 75 Infektionsschutzgesetz) und das Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (§ 26 Arbeitsschutzgesetz) geführt.“ Die Generalstaatsanwältin in Hamm hat gegen die Sachbehandlung der Staatsanwaltschaft Bielefeld keine Bedenken. 2. Unter welchen Maßnahmen kann Unternehmen, die gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen, die Lohnerstattung für Quarantäne- Maßnahmen verwehrt werden? 3. Welche Möglichkeit – oder sogar Pflicht – besteht für das Land Nordrhein- Westfalen, die Firma Tönnies für die Entschädigungszahlungen nach § 56 I IfSG in Regress zu nehmen, wenn sie fahrlässig oder sogar vorsätzlich gegen die CoronaSchVO verstoßen hat? 4. Sind die Verträge der Mitarbeitenden der bei Tönnies tätigen Subunternehmen so gestaltet, dass sie auch während der Quarantäne Lohn erhalten und das Unternehmen entsprechend Lohnerstattungen beantragen kann? Die Fragen 2 bis 4 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/10670 3 Den Fragen liegt ein unzutreffendes Verständnis des Regelungsinhalts von § 56 IfSG zugrunde. Aus dieser Vorschrift ergibt sich gerade kein Erstattungsanspruch für einen Arbeitgeber für Lohn, den er seinen Arbeitnehmern fortzahlen musste, obwohl diese wegen bestimmter Infektionsschutzmaßnahmen (wie insbesondere einer Absonderung nach § 30 IfSG) keine Arbeitsleistung erbringen konnten. Ganz im Gegenteil setzt § 56 IfSG voraus, dass die Arbeitnehmer infolge der Nichterbringung der Arbeitsleistung ihren Lohnanspruch gegen den Arbeitgeber verloren haben, und gewährt diesen Arbeitnehmern einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat. Diese staatliche Entschädigung für die Arbeitnehmer ist lediglich – unter bestimmten Bedingungen – vom Arbeitgeber vorzuschießen und wird ihm dann im Nachgang gemäß § 56 Absatz 5 Satz 2 IfSG erstattet. Ob überhaupt die Eingangsvoraussetzung, das Entfallen des Lohnanspruchs der Arbeitnehmer gegenüber ihrem Arbeitgeber, gegeben ist, hängt entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab, so dass eine pauschale Aussage nicht möglich ist. So kann dem Entfallen des Lohnanspruchs der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber bereits entgegenstehen, dass der Grund für die Verhinderung des Arbeitnehmers an seiner Arbeitsleistung in den Verantwortungs- oder Risikobereich des Arbeitgebers fällt (§ 326 BGB bzw § 615 BGB). Ferner bestimmt § 616 BGB, dass der Lohnanspruch nicht entfällt, wenn der Arbeitnehmer für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist. Diese Regelung kann allerdings arbeitsvertraglich ausgeschlossen oder abgeändert sein. 5. Die Einstufung als systemrelevantes Unternehmen hat die lokalen Behörden möglicherweise dazu verleitet, die Umsetzung der Infektionsschutzmaßnahmen nicht so genau zu überprüfen. Welche Folgen hat dies für den Anspruch auf Lohnerstattung nach dem Infektionsschutzgesetz? Die Einordnung als Unternehmen der „kritischen Infrastruktur“ oder „systemrelevantes Unternehmen“ in Nordrhein-Westfalen hat nichts an der uneingeschränkten Geltung von Arbeitsschutz- und Infektionsschutzstandards geändert. Es besteht kein Zusammenhang zwischen dieser Einordnung und dem Arbeits- oder Infektionsschutz. Die Einordnung hatte den alleinigen Zweck, den Beschäftigten solcher Unternehmen während der pandemiebedingten Schließung der Kinderbetreuungseinrichtungen einen Anspruch auf die sog. Notbetreuung nach der Coronabetreuungsverordnung zu verschaffen. Für die in der Frage unterstellte „Verleitung“ der lokalen Behörden durch die Einstufung fehlt daher jede Grundlage.