LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11080 21.09.2020 Datum des Originals: 21.09.2020/Ausgegeben: 25.09.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4245 vom 27. August 2020 des Abgeordneten Frank Neppe FRAKTIONSLOS Drucksache 17/10755 Wir bleiben zu Hause vs. Wohnungslosigkeit Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am Stichtag 30. Juni 2018 waren insgesamt 44.434 Bürger als wohnungslos gemeldet. Dies entsprach einem Anstieg von 37,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die höchste Wachstumsrate der vergangenen Jahre. Im Vergleich zum Stichtag 2015 hat sich die Zahl der wohnungslosen Bürger in NRW mehr als verdoppelt. Die vergangenen Monate trafen die Obdachlosen unter ihnen besonders hart. Ein „wir bleiben zu Hause“ ist ihnen nicht möglich, leere Innenstädte bedeuten für sie deutlich weniger Spenden, Hilfsangebote wurden zum Teil eingeschränkt und das Befolgen von Hygieneregeln ist auf der Straße kaum umsetzbar. Hinzu kommt der Konflikt zwischen der Einhaltung der Kontaktbeschränkung und der Sicherheit, die eine Gruppe bietet. Die Bußgelder bei Verstößen gegen die Kontaktbeschränkungen sind für Obdachlose kaum aufzubringen und Sorgen vor Ersatzhaftstrafen wirken sich nicht förderlich auf ihre Entwicklung aus. „Ein Zimmer mit Perspektive“1 – Neue Chancen für Obdachlose in NRW? Am 22.06.2020 berichtete welt.de unter dem Titel „Ein Zimmer mit Perspektive“ von einem Projekt für Obdachlose in Hamburg.2 Das Straßenmagazin „Hinz & Kunz“3 quartierte zu Beginn der Coronapandemie dank einer Spende der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH und in Zusammenarbeit mit der Diakonie, sowie der Obdachlosentagesstätte Alimaus zahlreiche Obdachlose in Hotels ein, um sie vor einer Infektion zu schützen. Ein positiver Nebeneffekt war offensichtlich, dass einige Obdachlose während dieser „Auszeit von der Straße“ neuen Lebensmut gefasst haben und sich nun um Wohnung, Arbeit oder staatliche Unterstützung bemühen. Eine Fortsetzung dieses Projektes in Hamburg hängt derzeit von der, eher fraglichen, fortgesetzten finanziellen Förderung ab. Auch wenn es sich hier eher um einen Erfahrungsbericht als eine belastbare wissenschaftliche Untersuchung handelt, scheint es sich um einen vielversprechenden Ansatz zu handeln, welcher auch in NRW genauer erörtert werden sollte. Obdachlose, die in den Genuss eines Hotelzimmers kamen, berichten davon, dass es ihnen sehr geholfen habe, seit langem mal wieder ein Zimmer für sich allein zu haben, mit Sanitäranlagen und der Möglichkeit, die eigenen Habseligkeiten unbeaufsichtigt zu lassen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11080 2 Vergleichbare Aktionen hat es laut Medienberichten auch in Düsseldorf4, Mainz5 und anderen Städten bundesweit gegeben, häufig ermöglicht durch privates und ehrenamtliches Engagement. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4245 mit Schreiben vom 21. September 2020 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Welche zusätzlichen Maßnahmen hat die Landesregierung unternommen, um Obdachlose in Zeiten der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Infektionen zu unterstützen? Um die Folgen der Corona-Krise für obdachlose Menschen abzufedern, hat das MAGS ein Notfallpaket zur Verbesserung der Situation obdachloser Menschen in NRW in der Corona- Krise bereitgestellt. Für die Akutversorgung von obdachlosen Menschen wurden 500.000 Euro aus der Landesinitiative gegen Wohnungslosigkeit „Endlich ein ZUHAUSE!“ zur Verfügung gestellt. Damit konnten Menschen, die auf der Straße leben, mit dem Lebensnotwendigsten wie beispielsweise Lebensmitteln, Essensgutscheinen, Hygieneartikeln oder Kleidung versorgt werden. Mit einem weiteren Notfallpaket in Höhe von insgesamt 900.000 Euro unterstützte das Sozialministerium Nordrhein-Westfalen die Arbeit der Tafeln für die zusätzlichen Kosten, die ihnen durch Corona entstanden sind. Mit den Landesmitteln werden beispielsweise Plexiglastrennwände (sog. „Spuckschutz“), Masken, Desinfektionsmittel, Verpackungsmaterial für Lebensmittel oder die Kosten für den zusätzlichen Organisationsaufwand (etwa für Bringedienste) finanziert. 2. Inwiefern wirkt die Landesregierung auf die Kommunen ein, dass sie mit Blick auf Obdachlose und die Einhaltung der Coronaschutzverordnung Gnade vor Recht ergehen lassen respektive von der Eintreibung von Bußgeldern und Ersatzhaftstrafen abgesehen wird? Die Unterbringung wohnungsloser Menschen ist eine originäre Aufgabe der Kommunen. Die Landesregierung trifft eine Vielzahl von Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Corona-Virus. Nach dem Infektionsschutzgesetz ist das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium zuständig, wenn es darum geht, Maßnahmen des Gesundheitsschutzes landesweit anzuordnen. Diese Maßnahmen betreffen alle Bevölkerungsgruppen in Nordrhein-Westfalen und alle Bereiche der Gesellschaft. Bei diesen vorrangigen Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung hat die Landesregierung auch die Situation der unterstützungsbedürftigen Personen im Blick. Der Vollzug der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) erfolgt durch die Ordnungsbehörden. Der Landesregierung ist nicht bekannt, wie Kommunen bei der Umsetzung der Coronaschutzverordnung bzw. bei der Eintreibung von Bußgeldern bei wohnungslosen Menschen verfahren. Zur Einschätzung der Problematik wurde eine stichprobenartige Abfrage bei den mobilen medizinischen Diensten der Kommunen durchgeführt, welche zur medizinischen Versorgung von wohnungslosen Menschen beitragen. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen die Vermutung zu, dass die Vorgaben der Coronaschutzverordnung in LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11080 3 den überwiegenden Fällen durch wohnungslose Menschen eingehalten werden. Davon abweichende Erkenntnisse konnten nicht gewonnen werden. 3. Wie bewertet die Landesregierung das genannte Hamburger Projekt? 4. Welche vergleichbaren Projekte sind der Landesregierung in NRW bekannt? Die Fragen 3 und 4 werden wegen des Sinnzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Die Landesregierung begrüßt grundsätzlich sämtliche Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lebenslagen von obdach- und wohnungslosen Menschen beitragen. Dazu zählt auch eine Unterbringung in Hotels und Pensionen. Die Anmietung dieser Unterkünfte ist seit vielen Jahren in zahlreichen Kommunen gängige Praxis. Eine explizite Abfrage in den 31 Kreisen und 396 Kommunen zur Ermittlung vergleichbarer Projekte, ist mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Mit der im Jahr 2019 initiierten Landesinitiative „Endlich ein ZUHAUSE!“ unterstützt die Landesregierung die Kommunen in Nordrhein-Westfalen bei der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit mit einem ineinandergreifenden Bündel an Maßnahmen in den Bereichen Wohnen, medizinische und psychiatrische Versorgung und Suchtberatung. Ein wichtiger Baustein dieser Landesinitiative ist die von Minister Laumann mit Vertreterinnen und Vertretern der Wohnungswirtschaft geschlossene Kooperationsvereinbarung. Durch die Kooperationen mit den beteiligten Unternehmen (LEG Immobilien AG, Vivawest GmbH und Vonovia SE sowie dem Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen) konnten bisher 254 Wohnungen an wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen vermittelt werden. Angesichts der Corona-Krise hat Minister Laumann die Wohnungswirtschaft explizit gebeten, alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um weiteren Wohnraum zur Verfügung zu stellen und in diesen schwierigen Zeiten keine Kündigungen auszusprechen oder Räumungen vorzunehmen. Darüber hinaus werden u.a. in den 20 am meisten von Wohnungslosigkeit betroffenen Kommunen und Kreisen sogenannte "Kümmerer-Projekte" gefördert. Diese arbeiten eng mit der Wohnungswirtschaft zusammen, so dass wohnungslose Menschen möglichst schnell eine „Normalwohnung“ erhalten. Auch das seit Dezember 2017 für die Dauer von 3 Jahren vom MAGS geförderte Projekt „Housing first Fonds - wohnraumbeschaffende und wohnbegleitende Hilfen für wohnungslose Haushalte“- des Paritätischen NRW in Kooperation mit fiftyfifty / asphalt e.V. zielt auf die dauerhafte und nachhaltige Versorgung mit Wohnraum in Städten und Kreisen Nordrhein- Westfalens ab. Den zuvor wohnungslosen Mieterinnen und Mietern werden im Rahmen des Housing-First-Konzeptes wohnbegleitende Hilfen mit aufsuchendem Ansatz und von relativ hoher Intensität angeboten. Bislang konnten 67 Wohnungen für Langzeitwohnungslose akquiriert werden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11080 4 5. Beabsichtigt die Landesregierung, sich mit den Akteuren zu vernetzen, um zu evaluieren, ob bzw. wie sich derartige Projekte langfristig in die Obdachlosenhilfe in NRW implementieren lassen? Seit vielen Jahren besteht eine enge Vernetzung mit den Akteuren der in Nordrhein-Westfalen etablierten Beratungsstrukturen der Wohnungsnotfallhilfe der freien Träger und der kommunalen Fachstellen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat für die Zeit von Juli 2020 bis November 2021 eine Befragung wohnungsloser/obdachloser Menschen in Nordrhein- Westfalen in Auftrag gegeben. Mit der Befragung sollen Lebenslagen, Wünsche und Bedarfe der Betroffenen - beispielsweise zu Präferenzen bezogen auf Wohnsituationen - herausgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann die Konzepte für die Zielgruppe weiter entwickeln.