LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11183 29.09.2020 Datum des Originals: 29.09.2020/Ausgegeben: 05.10.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4280 vom 3. September 2020 des Abgeordneten Dr. Christian Blex AfD Drucksache 17/10806 Freispruch für den Diesel – Warum wird die Luft mit weniger Autos nicht besser? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 16. Juni 2020 wurde unter der Drucksache 17/9804 ein Antrag eingereicht, der sich mit der Validität der Grenzwerte und mit der Verlässlichkeit der Messungen von Stickstoffdioxid beschäftigt. Der kausale Zusammenhang zwischen Verkehr und Emission von Stickstoffdioxid ist bekannt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob während der Corona-Pandemie die Immissionswerte im gleichen Umfang gesunken sind wie das Verkehrsaufkommen. Die Monatswerte der Immissionen bestätigten jedoch kein Absinken, das dem Umfang des Rückgangs des Verkehrsaufkommens entsprach.1 Das wäre eigentlich zu erwarten gewesen. (Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes „Experiment des Lebens“, das nicht wissenschaftlich geplant wurde, aber praktische Antworten auf bisher eher theoretische Überlegungen gibt und weitergehende Schlüsse zulässt.) Trotz dieser Ergebnisse behauptet die NRW-Umweltministerin Heinen-Esser, dass der Kfz- Verkehr „nachweislich der maßgebliche Verursacher der Belastung“ sei.2 Ein Blick auf die Monatswerte offenbart einen steigenden Immissionstrend. So sind die NO2- Mittelwerte von März bis April um insgesamt 73 µg/m³ gestiegen. Alleine die Ergebnisse der Messstation auf der Brackeler Straße in Dortmund (VDOM) stiegen von 31 µg/m³ im Februar 2020 und 37 µg/m³ im März 2020 auf 41 µg/m³ im April 2020. Dabei ist der Verkehr in diesem Zeitraum um bis zu 70 Prozent eingebrochen. Entscheidend bei der Beurteilung von Messergebnissen ist der gewählte Referenzzeitraum. Dabei wird gerne auf die Monatswerte des vorangegangenen Jahres verwiesen. Dieses Vorgehen mag zwar jahreszeitliche Effekte eliminieren aber eben auch alle getroffenen Maßnahmen, wie z.B. die Umweltprämie. 1 https://www.lanuv.nrw.de/umwelt/luft/immissionen/berichte-und-trends/monatswerte 2 https://www.umwelt.nrw.de/presse/detail/weniger-verkehr-fuehrt-zu-niedrigerenstickstoffdioxidwerten -1588257058 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11183 2 In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Abgeordneten Luksic, Sitta und Reuther in der Drucksache 19/20300 wurde deutlich, dass auch in anderen Bundesländern ein sog. Corona-Effekt zwar auf das Verkehrsaufkommen, nicht aber auf die Stickstoffdioxid-Belastung festgestellt werden konnte.3 Es stellt sich hier die Frage, wie die schwarz-gelbe Landesregierung die Maßnahmen zur Senkung der Stickstoffbelastung weiter „ambitioniert“ umsetzen will, wenn die FDP-Fraktion im Bundestag das eiserne Festhalten an der Luftreinhaltepolitik so vehement kritisiert.4 Die Ministerin für Umwelt, Landwirtschat, Natur- und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage 4280 mit Schreiben vom 29. September 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Verkehr beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Zur grundsätzlichen Frage ist zu bemerken, dass eine Verringerung der Schadstoffemissionen zu einer Verringerung der Belastungen führt. Dies gilt auch für die Emissionen aus dem Straßenverkehr. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch die von der meteorologischen Situation abhängige Durchmischung der Atmosphäre einen relevanten Einfluss auf die Verdünnung und somit auf die lokale Schadstoffbelastung hat. Die meteorologische Situation ist kurzfristigen Schwankungen unterworfen. Um diesem Fakt sachgerecht zu begegnen, werden Grenzwerte als Mittelwert über ein Kalenderjahr festgelegt und Messwerte dementsprechend beurteilt. Zur meteorologischen Situation im Winter 2019/2020 wurde vom Deutschen Wetterdienst eine Analyse im GAW Brief des DWD Nr. 755 veröffentlicht: „…Im vergangenen Winter herrschte eine ungewöhnliche Wettersituation vor mit ständigen Tiefdruckgebiet-Passagen über Europa, starkem Westwind und einem fehlenden kontinentalen Hoch im Nordosten (s.a. Ozon-Bulletin 1386). Folge war ein ständiger und schneller Austausch der Luftmassen über Europa, wenige Inversionslagen, so dass sich Emissionen des Kontinents nicht zu hohen Konzentrationen aufbauen konnten. Ein Wechsel hin zu einem kontinentalem Hoch und Luftströmung überwiegend aus Ost erfolgte ab 21. März mit in Folge deutlich höheren Konzentrationen…“. Diese Auswertung des DWD zeigt, dass eine Änderung der meteorologischen Bedingungen zufällig im ähnlichen Zeitraum auftrat wie der Beginn der Corona-bedingten Verringerungen des Verkehrsaufkommens. Um hier dennoch zu einer Aussage über die Auswirkungen der Verkehrsverringerungen zu kommen, hat der Deutsche Wetterdienst in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt die um die Änderungen der meteorologischen Situation bereinigte Entwicklung der NO2-Belastung modelliert und mit den real gemessenen Belastungen verglichen. Die Ergebnisse sind im GAW Brief des DWD Nr. 767 und dem zugehörigen 3 https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/203/1920300.pdf 4 https://www.welt.de/wirtschaft/plus210755093/Kaum-Autos-und-trotzdem-schlechte-Luft-doch-die- Fahrverbote-bleiben.html 5 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_075_de_pdf.html?nn=452004 6 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/ozon_bulletins/ozonbulletin_138_2003_de_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=3 7 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_076_de_pdf.html?nn=452004 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11183 3 Hintergrundpapier8 veröffentlicht. Dabei wurde im Mittel über Deutschland eine Minderung um „…23±6% für NO2 in den ersten 4 Wochen des Lockdowns [ermittelt]. In der zweiten 4- Wochen-Phase des Lockdowns sind die Minderungen bedingt durch die wieder zunehmende Verkehrsaktivität schwächer. Die bis hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf Werktage; an Wochenenden und Feiertagen sind die Minderungen in beiden Phasen um ca. 2 % stärker ausgeprägt, was durch den an Wochenenden fehlenden Liefer-, LKW- und Berufsverkehr und damit alleinige Prägung durch den PKW Verkehr plausibel ist...“ Die Analyse des DWD kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die vom LANUV durchgeführte Analyse9 auf Grundlage des Vergleichs der Vorjahreswerte: „…Der Vergleich der LANUV- Messwerte für einzelne Städte des Monats März mehrerer Jahre zeigt, dass die NO2- Belastung im Jahr 2020 im Vergleich zum Jahr 2019 um etwa 20 % gesunken ist […]. Dies beinhaltet neben den Auswirkungen der Coronakrise auch die Wirkungen von Maßnahmen der Luftreinhalteplanung sowie meteorologische Einflüsse.“ 1. Wie werden die Monatswerte für Stickstoffdioxid ermittelt? Die Ermittlung der Kenngrößen für die Luftqualität erfolgt in Deutschland in allen Bundesländern einheitlich. Die Berechnung erfolgt gemäß den Vorgaben der EU-Richtlinie 2008/50/EG. Enthält die Richtlinie keine Vorgaben, so finden die Regelungen des Guidance zur Kommissionsentscheidung 2011/850/EG Anwendung. Monatsmittelwerte gehören nicht zu den berichtspflichtigen aggregierten Größen und unterliegen daher keiner einheitlichen Vorschrift. Zur Vergleichbarkeit setzt das LANUV die gleiche Vorschrift wie für Tagesmittelwerte ein, d.h. es müssen mindestens 75% der Stundenwerte eines Monats vorliegen. Aus den Stundenwerten wird ein arithmetischer Mittelwert gebildet. Die Rundung auf ganze µg/m³ erfolgt erst im letzten Schritt der Berechnung. 2. Welche Messstationen in NRW haben von Februar auf April einen Anstieg der NO2- Monatswerte gezeigt? Von Januar nach April zeigen nur 3 Stationen einen Anstieg, 10 keine Veränderung und 44 eine Reduzierung der NO2-Monatsmittelwerte. Hier ist deutlich sichtbar, wie die Reduktion des Verkehrs auch eine Reduktion der Immissionsbelastung zur Folge hat. Im Februar wurde die Immissionsbelastung, wie vom DWD beschrieben, durch eine für die Luftreinhaltung sehr günstige Wetterlage beeinflusst, die sich im Laufe des März in eine für die Luftreinhaltung ungünstige Wetterlage änderte. In der Folge gab es an einzelnen Stationen im April höhere Werte als im Februar. Eine Übersicht der Messwerte von Januar 2020 bis Mai 2020 ist in Tabelle 1 dargestellt: 8 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_076_hintergrundpapier_de_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v= 4 9 https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/luft/immissionen/ber_trend/Auswirkungen_Covid19_Luftquali t%C3%A4t.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11183 4 Tabelle 1: Monatswerte der 57 kontinuierlich messenden Messstationen im LANUV Messnetz. Dargestellt sind vorläufige, nicht endvalidierte Messwerte. Alle Angaben in µg/m³. Werte unterhalb der Nachweisgrenze werden als „<10“ dargestellt, Messausfälle werden als „--" dargestellt. Eine Zuordnung der Stationskennungen sowie Beschreibungen der einzelnen Stationen findet sich unter: https://www.lanuv.nrw.de/umwelt/luft/immissionen/messorte-und-werte Stationskennung Jan 2020 Feb 2020 Mrz 2020 Apr 2020 Mai 2020 AABU 13 <10 11 11 <10 BIEL 21 11 16 17 15 BONN 25 17 20 25 18 BORG 24 17 12 12 <10 BOTT 31 23 20 20 15 CHOR 27 17 18 20 15 DATT 24 15 14 12 <10 DDCS 45 37 35 38 33 DMD2 26 18 20 21 16 DUB2 34 26 26 28 25 DURH 30 18 <10 24 15 EIFE <10 <10 -- <10 <10 ELAN 30 27 22 20 19 ELSB 15 <10 11 15 12 EVOG 28 19 19 22 16 GELS 25 21 20 21 17 HATT 19 15 15 14 11 HUE2 20 13 15 18 13 JACK 17 <10 12 15 11 JHNK 19 13 14 15 12 KRHA 27 21 23 28 22 LEV2 25 20 19 20 16 LOER 26 16 17 21 15 MGRH 23 16 17 20 15 MSGE 21 17 16 14 11 NETT 19 12 15 19 17 NIED 20 17 15 18 14 RAT2 28 19 18 19 15 RODE 25 20 22 25 21 ROTH <10 <10 <10 <10 <10 SHW2 21 17 17 16 12 SOES 12 <10 <10 <10 <10 SOLI 20 16 16 16 13 STYR 25 17 17 21 15 UNNA 21 15 15 16 13 VACW 32 25 29 32 27 VBID 25 18 24 25 23 VBIH 33 25 27 17 19 VDOM <10 31 37 41 38 VDOR* -- -- -- -- -- VDUI 34 26 27 29 25 VEAE 33 23 29 35 36 VESN 32 23 25 26 24 VGES 38 32 31 34 30 VGLG 36 25 26 27 23 VHAM 44 35 37 36 36 VKCL 40 33 33 36 31 VKTU 38 31 29 30 27 VLEG 35 34 33 35 31 VMGF 28 20 21 25 19 VMS2 36 27 25 23 23 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11183 5 Stationskennung Jan 2020 Feb 2020 Mrz 2020 Apr 2020 Mai 2020 VOBM 42 33 30 33 30 VSGK 36 29 27 27 24 VWEL 42 39 36 37 34 WALS 33 25 21 19 13 WAST <10 <10 <10 <10 <10 WESE* -- -- -- -- -- *Stationsabbau zum 06.01.2020. 3. Warum sind die NO2-Werte, beispielsweise die an der Messstation auf der Brackeler Straße, während der Corona-Zeit gestiegen? Die Luftschadstoffkonzentration ergibt sich aus der Höhe der Emissionen und deren Verteilung durch meteorologische Bedingungen. Der Anstieg der Monatsmittelwerte ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf die in den Vorbemerkungen erläuterten meteorologischen Effekte zurückzuführen. Die oben genannten Auswertungen des DWD zeigen, dass es bei einer Bereinigung um die meteorologischen Effekte bundesweit eine deutliche Reduktion der Belastungen während der Corona-bedingten Maßnahmen im Frühjahr 2020 gab. 4. Wie groß sind die Schwankungen bei Messungen von NO2, welche durch meteorologische Effekte verursacht werden können? Allein aus den Messwerten lässt sich nicht unterscheiden, inwieweit Schwankungen durch meteorologischen Effekte oder andere Effekte verursacht werden. Im Extremfall können zwischen zwei Monaten Schwankungen der NO2-Belastung in einer Größenordnung von bis zu 20 µg/m³ auftreten. 5. Die Corona-Pandemie brachte ein einmaliges „Verkehrsexperiment“ mit sich. Was hat die Landesregierung aus der Corona-Pandemie über NO2 gelernt? Der mit den Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie einhergehende Rückgang der Verkehrszahlen führte nach Auswertung des LANUV zu einer Abnahme der Luftschadstoffbelastung in einer Größenordnung, wie sie der Rückgang des Straßenverkehrs erwarten lässt10. Der Zusammenhang von weniger Verkehrsemissionen und verringerter Luftschadstoffbelastung wurde bestätigt. 10 https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/luft/immissionen/ber_trend/Auswirkungen_Covid19_Luftquali t%C3%A4t.pdf