LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11293 07.10.2020 Datum des Originals: 07.10.2020/Ausgegeben: 13.10.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4345 vom 16. September 2020 des Abgeordneten Frank Neppe FRAKTIONSLOS Drucksache 17/11004 Wahrheitsmatrix und Coronateststrategie Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Wahrheitsmatrix weist die vier möglichen Kombinationen zweier nominalskalierter Variablen mit zwei möglichen Merkmalausprägungen aus. In Verbindung mit medizinischen Labortests sind die beiden Variablen „wahre Klasse“ und „Urteil des Klassifikators“ mit den Ausprägungen „infiziert – nicht infiziert“ (wahre Klasse) und „positives Testergebnis – negatives Testergebnis“ (Urteil des Klassifikators) relevant. Im Optimalfall werden infizierte Personen vom Test als positiv identifiziert und gesunde Patienten als negativ eingestuft. Abseits hiervon gibt es jedoch die möglichen Ergebnisse, dass ein infizierter Patient ein negatives Testergebnis erhält und eine nicht-infizierte Person ein positives. Die Sensitivität eines Labortests gibt die bedingte Wahrscheinlichkeit an, dass eine Person positiv getestet wird unter der Bedingung, dass sie infiziert ist. Die Spezifität gibt den Anteil der korrekt als negativ klassifizierten Personen an der Gesamtzahl der gesunden Personen wieder. Je höher die Sensitivität und Spezifität, desto besser sind die Testergebnisse einzuordnen. Die von Herstellern angegebenen Werte bei Labortests gelten jedoch unter Laborbedingungen und können durch Faktoren wie einer fehlerhaften Probenentnahme oder falschem Probentransport verringert werden.1 Neben der Sensitivität und Spezifität ist auch die Vortestwahrscheinlichkeit, also das Risiko überhaupt infiziert zu sein, bei der Bewertung des Testergebnisses zu beachten. Ist das Infektionsrisiko hoch durch einen engen und längeren Kontakt mit einer infizierten Person, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit positivem Testergebnis tatsächlich infiziert ist. Zudem gilt, dass bei einem niedrigen Infektionsrisiko die Wahrscheinlichkeit steigt, dass eine Person mit negativem Testergebnis auch tatsächlich gesund ist. Bei einem geringen Ansteckungsrisiko steigt jedoch auch der Anteil falsch-positiver Tests.2 Es steigt also der Anteil der Personen, die vom Klassifikator als positiv eingestuft werden, obwohl sie gesund sind, an der Gesamtzahl der positiven Testergebnisse. Durch eine Vorselektion der getesteten Personen, z. B. Personen mit Symptomen, Personen mit relevanten Kontakten zu Infizierten etc., kann die Aussagekraft des Testergebnisses verbessert werden. Ein Blick in die bundesweiten Daten zeigt, dass trotz vorselektierter Testungen nur sehr wenige Tests positiv 1 Vgl. https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/corona-test-wie-funktioniert-der-test/ (abgerufen am 31.08.2020) 2 Vgl. https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/corona-test-wie-funktioniert-der-test/ (abgerufen am 31.08.2020) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11293 2 ausfallen. So wurden mit Stand 09. September 2020 seit Jahresbeginn 13.436.301 Tests durchgeführt, von denen 290.372 positiv waren.3 Dies Entspricht einer Positivquote von etwa 2,3 Prozent. Während im Zeitraum bis zur 19. KW die Positivquote durchschnittlich 6,2 Prozent betrug, lag sie in den vergangenen zehn Wochen (KW 27-36) bei durchschnittlich 0,8 Prozent.4 Im letzteren Zeitraum betrug die Anzahl der Tests etwa das 2,4-Fache des früheren Zeitraums und die absolute Häufigkeit positiver Ergebnisse sank um etwa 69 Prozent. Die Testanzahl wurde demnach ausgedehnt und das Infektionsgeschehen ging zurück. Dass eine solche Entwicklung (mehr Tests bei einem rückläufigen Infektionsgeschehen) zu einem Anstieg des relativen Anteils der falsch-positiven Testergebnisse an den gesamten positiven Testergebnissen führt, kommunizierte Bundesgesundheitsminister Spahn bereits am 14.06.2020: „Dadurch, dass wir […] die Zahlen so runtergebracht haben, haben wir im Moment eine Positiv-Testung von unter einem Prozent bei gleichbleibend konstanter Testzahl in den letzten Wochen. Und wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht nachher durch zu umfangreiches Testen […] zu viel Falsch-Positive haben. Weil die Tests ja nicht 100 Prozent genau sind, sondern auch eine kleine, aber eben auch eine Fehlerquote haben. Wenn sozusagen insgesamt das Infektionsgeschehen immer weiter runtergeht und Sie gleichzeitig das Testen auf Millionen ausweiten, dann haben Sie auf einmal viel mehr Falsch-Positive als tatsächlich Positive.“5 Dennoch wurden im Anschluss die wöchentlichen Tests massiv ausgeweitet und die Vorselektion abgeschwächt. So können sich beispielsweise in Nordrhein- Westfalen bis zum 09. Oktober 2020 363.000 Beschäftigte in der Kindertagesbetreuung und an Schulen freiwillig alle 14 Tage testen lassen. Wenn viele Tests durchgeführt werden und das Infektionsrisiko gering ist, kann nicht nur von einem hohen Anteil falsch-positiver Tests an den gesamten positiven Tests ausgegangen werden, sondern auch von einer hohen absoluten Häufigkeit falsch positiver Tests. Letzteres ist fatal, wenn ein positives Ergebnis für die betroffene Person bedeutet, dass sie in eine mehrwöchige Quarantäne muss. Eine Spezifität von 99,8 Prozent bedeutet, dass bei 500 Tests an gesunden Personen ein falsch-positives Ergebnis erwartet wird. Mit Blick auf die hohe wöchentliche Anzahl von mittlerweile über 1.000.000 durchgeführten Tests wären selbst dann, wenn alle getesteten Personen in Wahrheit gesund sind, mehr als 2.000 falsch-positive Testergebnisse pro Woche bei einer Spezifität von 99,8 Prozent zu erwarten. Bei einer Spezifität von 99,5 Prozent werden bei über 1.000.000 Tests an Gesunden bereits über 5.000 falsch-positive Testergebnisse erwartet. In den Kalenderwochen 27 bis 36 wurden bundesweit durchschnittlich 8.042 positive Testergebnisse je 1.000.000 Tests festgestellt – bis einschließlich KW 19 waren es noch 62.290 positive Testergebnisse je 1.000.000 Tests.6 Wird nun berücksichtigt, dass die Sensitivität zwischen 71 und 98 Prozent7 liegt, also die 3 Vgl. Robert Koch Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 09.09.2020 abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2020/2020- 09-09-de.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 10.09.2020) 4 Ebd. 5 Sie fragen - Bundesgesundheitsminister Spahn antwortet - Nachbericht aus Berlin, Live-Übertragung der Tagesschau vom 14.06.2020 abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=ZfWEYeokZiA (abgerufen am 09.09.2020) 6 Positive Testergebnisse KW 27-36: 60.670 durchgeführte Tests KW 27-36: 7.543.810 Vgl. Robert Koch Institut, Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 09.09.2020 abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2020/2020- 09-09-de.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 10.09.2020) 7 Vgl. „Interpreting a covid-19 test result“, BMJ Practice, 12.05.2020 abrufbar unter https://www.bmj.com/content/bmj/369/bmj.m1808.full.pdf (abgerufen am 04.09.2020) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11293 3 Wahrscheinlichkeit, dass eine tatsächlich infizierte Person positiv getestet wird, sehr hoch ist, muss davon ausgegangen werden, dass zuletzt über 99 Prozent der Getesteten nicht infiziert waren und ein dementsprechend hoher Anteil an den Positivgetesteten fälschlicherweise positiv getestet wurde. Die aktuelle Teststrategie muss dringend hinterfragt werden, nicht nur weil von einer hohen Anzahl von Personen mit einem falsch-positiven Testergebnis auszugehen ist, sondern auch, weil die Labore am Limit arbeiten. Dem Vorstand des Vereins akkreditierter Labore in der Medizin (ALM e. V.) folgend, fehle es zunehmend an Verbrauchsmaterialien und die Kollegen in den Laboren arbeiteten am Anschlag, dies halte man nicht mehr lange durch.8 Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 4345 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Wie hoch ist nach Kenntnis der Landesregierung die Wahrscheinlichkeit, dass eine mit dem SARS-CoV2 nicht-infizierte Person bei einem Test auf eine SARS-CoV2 Infektion positiv getestet wird (Falsch-positiv-Rate)? Die Fähigkeit eines Tests Personen ohne Krankheit korrekt zu identifizieren wird durch die Spezifität eines PCR-Tests angegeben (Herstellerangabe). Die Spezifität variiert je nach verwendetem PCR-Test. Allgemein werden für die PCR-Tests spezifische Genregionen (Targets) des SARS-CoV-2 Virusgenoms nachgewiesen, diese Targets können sich je nach verwendetem System unterscheiden. Bei den in Deutschland verwendeten PCR-Tests werden jedoch immer zwei verschiedene spezifische Regionen des SARS-CoV-2 Virusgenoms nachgewiesen (Dual Target). Dieser Nachweis erfolgt entweder zweistufig oder in einem Schritt, in einer sogenannten Multiplex-PCR. Nur wenn beide Regionen des Virusgenoms in der Probe nachgewiesen werden, ist der Test positiv. Dieses Vorgehen macht die SARS-CoV-2 PCR hoch spezifisch, andere bekannte Viren werden durch dieses Testsystem nicht erfasst. Laut Robert Koch-Institut (RKI) liegt aufgrund des Funktionsprinzips von PCR-Tests und den hohen Qualitätsanforderungen die analytische Spezifität bei korrekter Durchführung und Bewertung bei nahezu 100%. So muss der diagnostische Test nachweislich in einem qualitätsgesicherten (akkreditierten) Labor durchgeführt werden. Diese nehmen im Rahmen von qualitätssichernden Maßnahmen an Ringversuchen teil. Die bisher daraus erhobenen Ergebnisse spiegeln die sehr gute Testdurchführung in deutschen Laboren wider (siehe www.instand-ev.de). 2. Wie hoch ist nach Kenntnis der Landesregierung aktuell der Anteil falschpositiver Ergebnisse an der Gesamtzahl der positiven Ergebnisse? Der Landesregierung liegen hierzu keine Daten vor. Nach Einschätzung des RKI ist der Anteil falsch positiver Testergebnisse so gering, dass dieser die Lageeinschätzung nicht beeinträchtigt. 8 Vgl. https://www.alm-ev.de/pressemitteilung/rund-eine-million-sars-cov-2-pcr-tests-in-dervergangenen -woche-labore-mahnen-erneut-zielgerichtete-testung-an.html (abgerufen am 11.09.2020) LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11293 4 3. Wie hat sich die Anzahl der wöchentlich durchgeführten Tests in NRW seit der zehnten Kalenderwoche entwickelt? Bitte Werte je Kalenderwoche angeben. Mit dem Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite hat der Bundesgesetzgeber die Labore verpflichtet, sowohl positive, wie auch negative Ergebnisse von Testungen auf SARS-CoV-2 an das Robert Koch- Institut zu übermitteln (§ 7 Abs. 4 IfSG). Der dafür vorgesehene elektronische Meldeweg über das Deutsche Elektronische Meldeund Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) ist bislang nicht flächendeckend etabliert, sodass ein vollständiges Bild des Testgeschehens bislang nicht verfügbar ist. Einen Eindruck des Testgeschehens vermitteln jedoch die Daten, die die Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) e.V. dem MAGS wöchentlich zur Verfügung stellen. Nach Auskunft des ALM e.V. repräsentiert der Verein etwa 80% der Labore in Deutschland. Kalenderwoche Anzahl durchgeführter Tests KW 10 7.430 KW 11 24.273 KW 12 57.048 KW 13 81.883 KW 14 78.570 KW 15 82.875 KW 16 76.061 KW 17 81.858 KW 18 82.663 KW 19 92.628 KW 20 102.378 KW 21 71.708 KW 22 86.287 KW 23 72.732 KW 24 69.190 KW 25 92.430 KW 26 143.531 KW 27 154.671 KW 28 128.101 KW 29 121.902 KW 30 125.259 KW 31 144.876 KW 32 223.328 KW 33 280.744 KW 34 295.723 KW 35 345.851 KW 36 292.080 KW 37 327.639 KW 38 296.692 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11293 5 4. Welche Kenntnisse hat die Landesregierung hinsichtlich einer Überlastung der Labore und eines sich hierdurch ergebenden Rückstaus an zu bearbeitenden Proben? Sowohl aus einzelnen Eingaben beim MAGS als auch aus den in der Antwort auf Frage 3 genannten Daten der ALM e.V. ergaben sich in der Vergangenheit Hinweise auf eine Überauslastung einzelner Labore in Nordrhein-Westfalen. Diese Überauslastungen werden in der Regel durch die Weiterleitung von Aufträgen an Verbundlabore sowie unter Umständen durch Mehrarbeit aufgefangen. Ursächlich hierfür waren insbesondere die Spitzen des Testgeschehens, die sich aus der Testung von Reiserückkehrern/-innen sowie den kostenfreien Testungen von Beschäftigten in Kindertagesstätten, Schulen und in der Kindertagespflege ergaben. Mit dem 14. September 2020 ist die Möglichkeit zur kostenfreien Testung von Reiserückkehrern/-innen aus Nicht-Risikogebieten ausgelaufen. Und auch die kostenfreie Testung von Beschäftigten in Kindertagesstätten, Schulen und in der Kindertagespflege wird zeitnah – zum 9. Oktober 2020 – auslaufen. Damit werden sich die Laboraktivitäten weiter entspannen. Parallel dazu ist festzustellen, dass die vorhandenen Laborkapazitäten auch weiterhin kontinuierlich ausgebaut werden. So sind seit Anfang August (KW 32) bis heute alleine bei den der ALM e.V. zugehörigen Labore zusätzliche Kapazitäten von mehr als 100.000 Tests pro Woche geschaffen worden. Die rechnerische Gesamtkapazität der ALM e.V.- Labore in Nordrhein-Westfalen liegt damit gegenwärtig bei etwa 460.000 Tests pro Woche. Bislang ist es nach Kenntnis des MAGS lediglich äußerst vereinzelt zu relevanten Verzögerungen bei der Ergebnisübermittlung gekommen. Der überwiegende Teil der Ergebnisse liegt weiterhin nach 24 bis 48 Stunden vor. 5. Anhand welcher weiterer Untersuchungen wird sichergestellt, dass eine mittels Labortest positiv getestete Person auch tatsächlich infiziert ist, bevor eine Quarantäne angeordnet wird? Eine Testung ist indiziert, wenn aufgrund von Anamnese, Symptomen oder Befunden ein Verdacht besteht, der mit einer SARS-CoV-2 Infektion (COVID-19) vereinbar ist (s. hierzu auch das jeweils aktuelle Flussschema des RKI). Allgemein ist kein Test hundertprozentig sicher, deshalb müssen Testergebnisse immer im Kontext interpretiert werden. Für die operative Zuverlässigkeit des Tests selbst sind die Sensitivität und die Spezifität wesentliche Parameter. Bei niedriger Prävalenz und niederschwelliger Testindikation (einschließlich der Testung asymptomatischer Personen) werden an die Spezifität der Teste im Hinblick auf den positiven Vorhersagewert hohe Anforderungen gestellt. Dem tragen z.B. die bereits in Frage 1 beschriebenen "Dual Target" Tests Rechnung. Zusätzlich erfolgen insbesondere bei diskrepanten Ergebnissen innerhalb eines Tests bzw. unklaren/unplausiblen Ergebnissen der PCR-Testung (z.B. grenzwertige ct-Werte, untypischer Kurvenverlauf) eine sorgfältige Bewertung und Validierung durch einen in der PCR-Diagnostik erfahrenen und zur Durchführung der Diagnostik ermächtigten Arzt. Gegenebenfalls muss zur Klärung eine geeignete laborinterne Überprüfung (z.B. Wiederholung mit einem anderen Testsystem) erfolgen bzw. eine neue Probe angefordert werden.