LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11298 07.10.2020 Datum des Originals: 07.10.2020/Ausgegeben: 13.10.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4292 vom 7. September 2020 der Abgeordneten Berivan Aymaz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/10842 Welche Standards zur Prävention und zum Schutze der Bewohnerinnen und Bewohner mit besonderem Schutzbedarf setzt die Landesregierung in Landesunterkünften für Geflüchtete um? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage „Eine Abwägung des Schutzrechts der Geflüchteten gegenüber denen der Allgemeinbevölkerung ist im Infektionsschutzgesetz nicht vorgesehen, da jedes Leben gleich zu schützen ist.“, so steht es in der kürzlich veröffentlichten Studie „SARS‐CoV‐2 in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete“ des Kompetenznetzes Public Health COVID‐191. Das Forschungsvorhaben konzentrierte sich auf das Infektionsrisiko von Geflüchteten, die in Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Die Ergebnisse der Studie stellen dar, dass das Ausbreitungsrisiko in einer Gemeinschaftsunterkunft deutlich erhöht ist, etwa vergleichbar mit dem Ansteckungsrisiko auf einem Kreuzfahrtschiff. Ausschlaggebende Faktoren für ein erhöhtes Infektionsrisiko in Gemeinschaftsunterkünften sind demnach die Belegungsdichte der Einrichtung, die Möglichkeiten zur Selbstisolation und zur physischen Distanzierung der Bewohnerinnen und - bewohner untereinander, die Möglichkeiten zur effektiven Trennung Infizierter von Nichtinfizierten, der Zeitpunkt der Identifizierung eines Falls. Dabei seien gemeinschaftlich genutzte Küchen und sanitäre Anlagen „vermeidbare Risiken“, die mit einer dezentralen Unterbringung bzw. mit Einzelzimmern oder kleinen Wohneinheiten zu lösen seien (ebd.). Insgesamt müssen vor allem präventive Vorkehrungen getroffen werden, um die Gefahr einer Infektion auf ein Minimum zu reduzieren. Insbesondere mit Blick auf die Identifizierung von Personen, die einer Covid-19-Risikogruppe angehören, stellen die Autorinnen und Autoren einen hohen Verbesserungsbedarf fest. Denn für Geflüchtete, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind und zu einer Corona- Risikogruppe zählen, kann die Ansteckung mit Covid-19 besonders schwere Krankheitsverläufe hervorrufen. Darauf weisen auch die neuen Empfehlungen des Robert- 1 https://www.public-health-covid19.de/images/2020/Ergebnisse/FactSheet_PHNetwork- Covid19_Aufnahmeeinrichtungen_v1_inkl_ANNEX.pdf LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11298 2 Koch Instituts (RKI) hin, die unterstreichen, dass eine größtmögliche Minderung des Risikos für eine Infektion besonders wichtig ist2. Ebenfalls stehen besonders Schutzbedürftigen, etwa Frauen, Kindern, Schwangeren, usw. laut EU-Aufnahmerichtlinie besondere Schutzmaßnahmen zu, die auch in Pandemiezeiten nicht unterlaufen werden dürfen. Insbesondere eine sogenannte Kollektivquarantäne, in der alle Bewohnerinnen und Bewohner einer Unterbringungseinrichtung in Quarantäne genommen werden, unabhängig, ob bei ihnen eine Ansteckung mit Corona erfolgt ist oder nicht, birgt laut RKI und dem Kompetenznetz Public Health COVID‐19 ein sehr hohes Risiko sich zu infizieren, was für Risikopersonen gefährlich und für besonders Schutzbedürftige wie etwa Kinder, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen oder psychischen Störungen und Gewaltopfer, sehr belastend sein kann. Mit der daraus resultierenden erhöhten Risikolage für alle Bewohnerinnen und Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft geht letztlich eine unzulässige Abwägung auf ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zwischen der Gesamtbevölkerung und den Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften einher, die ebenfalls weder im Infektionsschutzgesetz noch in der Coronaschutzverordnung vorgesehen ist. Um alle Bewohnerinnen und Bewohner sicher vor einer Ansteckung zu schützen, empfiehlt das RKI unter anderem folgende präventive Maßnahmen3: • Risikopersonen möglichst separat unterzubringen, mit eigenem Sanitärbereichen und einer Möglichkeit zur Selbstisolation; Die benötigte medizinische Versorgung muss gewährleistet sein. • In einem Zimmer sollten möglichst nur Personen aus einer Familie bzw. enge Bezugspersonen zusammen untergebracht werden. • Etablierung eines Infektionsschutzteams zur Umsetzung der Präventionsmaßnahmen und zur Durchführung des Ausbruchsmanagements, bestehend aus Gesundheitsamt, Sozialarbeit, psychosozialer Versorgung, Sprachmittler/-innen und Bewohner/-innen als Multiplikator/-innen • medizinische Versorgung vor Ort mit Testkapazitäten • erhöhte psychosoziale Versorgung vor Ort • systematisches Eingangsscreening und Symptom-Monitoring bei Neuzugängen, systematische Identifikation von Risikogruppen und deren frühzeitige Separierung mitsamt ihrer engsten Angehörigen • Kohortenbildung im Ausbruchsfall, um lange Quarantänedauern zu verhindern • dringende Empfehlung eine Quarantäne der gesamten Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft sowie das Errichten von (zusätzlichen) physischen Barrieren (Zäunen) zu vermeiden • umfassende und strukturierte Dokumentation der Corona-Fälle mitsamt Kontaktpersonen 2 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE-GU/Aufnahmeeinrichtungen.html 3 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE- GU/Aufnahmeeinrichtungen.html#doc14256998bodyText3 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11298 3 Darüber hinaus rät das Kompetenznetz Public Health COVID‐19 dazu, die Datenlage zur gesundheitlichen Situation von Geflüchteten zu verbessern. Eine Möglichkeit stellt der Aufbau einer elektronischen Patientenakte dar, der ebenfalls durch das Bundesgesundheitsministerium im Rahmen eines Modellprojekts „Sentinel Surveillance der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland“ angestrebt worden war. Mit dieser Software ist unter Beachtung des Datenschutzes eine Datenweitergabe zum Zwecke der Mit- und Weiterbehandlung von Patientinnen und Patienten möglich. Ein aufbauendes „Covid-19-Modul“ wurde bereits im März zur Verfügung gestellt (ebd.). Baden-Württemberg, Hamburg und Bayern haben das System bereits in einigen ihrer Unterkünfte eingeführt4. Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 4292 mit Schreiben vom 7. Oktober 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales beantwortet. 1. Wie werden medizinische Daten von Asylsuchenden in NRW erfasst? 2. Wie werden medizinische Daten unter Berücksichtigung des Datenschutzes zwischen den einzelnen Unterkünften/Behörden ausgetauscht? Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Zum Zwecke der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen erforderliche medizinische Daten (wie z.B. Hinweise auf Behinderungen, die besondere Vorkehrungen bei der Unterbringung des Asylsuchenden erfordern oder das Datum der Erstuntersuchung nach § 62 Asylgesetz und das Angebot über Impfungen) werden auf der Rechtsgrundlage von Art. 6 Abs. 1 e), Abs. 2, 3, Art. 9 der Verordnung (EU) 2016/679 des europäischen Parlamentes und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) i.V.m. §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 3, 16 Abs. 1 Nr. 3 Datenschutzgesetz Nordrhein-Westfalen und §§ 7, 8 Asylgesetz Gesundheitsdaten in der Fachanwendung „Digitales Asylsystem Nordrhein-Westfalen (DiAs NRW)“ erfasst. DiAs NRW wird im Landesnetz (LVN) betrieben und durch IT.NRW in einer Hochsicherheitsinfrastruktur (HSI) gehostet. Ein Zugriff auf Daten der Fachanwendung ist nur aus dem LVN mit einer entsprechenden Berechtigung unter Einhaltung der geltenden Bestimmungen zum Datenschutz möglich. Um bei einem Transfer die medizinische Versorgung von Flüchtlingen weiter sicherzustellen, erhält jede Person für ihre Unterlagen den „Befundbogen der ärztlichen Untersuchung“ (medical record), der sie auf ihrem Weg bis in die zugewiesene Kommune begleitet. Zwischen den Sanitätsstationen der Landesaufnahmeeinrichtungen werden Gesundheitsdaten von Flüchtlingen ausgetauscht, wenn und soweit dies für die Gesundheitsversorgung erforderlich ist. Dabei ist mit den Betreuungsdienstleistern vertraglich geregelt, dass die geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen einzuhalten sind. 4 https://www.pri.care/?page_id=36&lang=de LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11298 4 3. Aus welchen Gründen hat sich NRW nicht am 2019 ausgelaufenen Bundesmodellprojekt des Bundesgesundheitsministeriums „Sentinel Surveillance der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland“ zum Aufbau einer elektronischen Patientenakte (Dokumentationssoftware RefCare) beteiligt? In Nordrhein-Westfalen arbeiten die mit der Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen befassten Landesbehörden mit der Softwareanwendung DiAs NRW. Diese webbasierte Anwendung war beim Start des Bundesmodellprojekts „Sentinel Surveillance der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland“ bereits als Basissystem implementiert und befindet sich seither im kontinuierlichen Aufbau. Vor diesem Hintergrund wurde im Frühjahr 2018 mit Blick auf das vorhandene Basissystem DiAs ein möglicher zusätzlicher Einsatz der Software „RefCare©“ in den Landesaufnahmeeinrichtungen geprüft. Aufgrund fehlender Infrastruktur zum sicheren zentralen Betrieb der Software (HSI) und der nicht vorhandenen Kompatibilität zu DiAs NRW wurde schließlich vom Einsatz der Software RefCare abgesehen. Auch ein dezentraler Einsatz von „RefCare©“ war wegen des erheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwandes jeder einzelnen beteiligten Stelle zur Schaffung der Kompatibilität zu anderen Softwareverfahren sowie eines datensicheren Betriebs der Anwendung nicht verhältnismäßig und wurde daher nicht weiterverfolgt. 4. Inwieweit plant die Landesregierung den Aufbau einer elektronischen Patientenakte, etwa in Form der Dokumentationssoftware RefCare? Eine elektronische Patientenakte, analog zu „RefCare©“, eingebunden in DiAs NRW, ist derzeit nicht vorgesehen. In der Fachanwendung DiAs NRW werden ausschließlich die Gesundheitsdaten erfasst und vorgehalten, die für Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen erforderlich sind. Der Aufbau einer landeseigenen Dokumentationssoftware analog zu RefCare mit Schnittstellen zu DiAs NRW wird geprüft. 5. Vor dem Hintergrund der angeführten gesundheitlichen Risiken und normativrechtlichen Aspekte, die eine Kollektivquarantäne hervorruft: Inwieweit plant die Landesregierung, zukünftig von einer Kollektivquarantäne als unverhältnismäßige Maßnahme abzusehen? Die Entscheidung über die zu verhängenden Maßnahmen im Fall von auftretenden Covid-19 Infektionen in den Landesaufnahmeeinrichtungen erfolgt im Einzelfall durch die zuständige untere Gesundheitsbehörde auf der Basis der Situationsanalyse unter Einbeziehung der individuellen gesundheitlichen Verfassung und Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an Maßnahmen der Betroffenen sowie der räumlichen Gegebenheiten vor Ort. Sie orientiert sich dabei an den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI). Im Einzelfall kann dies die Quarantäne für einzelne Personen, Personengruppen aber auch für die gesamte Einrichtung bedeuten. Entscheidend dafür ist die Einstufung der Personen als Kontaktpersonen mit einem höheren oder einem geringen Infektionsrisiko. Das RKI stuft z.B. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11298 5 Personen in relativ beengter Raumsituation als einen Kontakt mit einem höheren Infektionsrisiko unabhängig von der individuellen Risikoermittlung ein. Die Landesregierung hat zudem ein empfehlendes Rahmenkonzept zur Vermeidung des Ausbruchs und der Ausbreitung von COVID-19 in den Landeseinrichtungen erarbeitet, dass sich an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts zu Prävention und Management von COVID-19-Erkrankungen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Schutzsuchende (im Sinne von §§ 44, 53 AsylG) orientiert. Ein Ziel ist es, durch insbesondere entsprechende präventive Maßnahmen eine Vollquarantäne in den Einrichtungen so weit wie möglich zu vermeiden.