LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11590 22.10.2020 Datum des Originals: 22.10.2020/Ausgegeben: 28.10.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4411 vom 18. September 2020 der Abgeordneten Alexander Langguth und Marcus Pretzell FRAKTIONSLOS Drucksache 17/11074 Präventive Konzepte und Clankriminalität Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am 17. August 2020 stellte Minister Herbert Reul das neue Lagebild zur Clankriminalität für das Jahr 2019 vor. Bei den Straftaten konnte ein Zuwachs von 12,7 Prozent und bei den Tatverdächtigen von 13,4 Prozent festgestellt werden. In mehr als 40 Prozent der Straftaten wird die Sachbearbeitung von den Polizeipräsidien Essen, Recklinghausen, Gelsenkirchen, Dortmund und Duisburg durchgeführt. Vergangenes Jahr am 08. Mai 2019 sprach sich Minister Herbert Reul im Rahmen des „Blaulichtgesprächs“ in Duisburg Marxloh zur Clankriminalität für ein Aussteigerprogramm für Clanmitglieder aus. Am 18. Juni 2019 gab das Innenministerium in seiner Antwort auf die Kleine Anfrage 2512 an, dass die Landesregierung anstrebe, präventive Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. In diesem Zusammenhang werde unter anderem geprüft, ob auf das Phänomen der Kriminalität türkisch-arabischstämmiger Großfamilien die Konzeption von Aussteigerprogrammen ohne Weiteres übertragen werden kann.1 Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4411 mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 namens der Landeregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration beantwortet. 1. Zu welchem Ergebnis kam die Prüfung, ob die Konzeption von Aussteigerprogrammen ohne Weiteres auf das Phänomen der Kriminalität türkisch-arabischstämmiger Großfamilien übertragen werden kann? Die Konzeptionen klassischer Aussteigerprogramme können nicht ohne Weiteres auf das Phänomen der Kriminalität türkisch-arabischstämmiger Großfamilien übertragen werden. So gibt es, anders als zum Beispiel in extremistischen Bereichen, keine Einstiegsprozesse in Familienclans , an denen man präventiv ansetzen könnte. Ein Ausstieg aus der Familie als Zielformulierung wird nach Einschätzung vieler Experten selten bis gar nicht gelingen. Daher wurde im Rahmen der Ruhrkonferenz ein Projekt zur Prävention von Clankriminalität unter dem Titel „Integration, Orientierung, Perspektiven! 360° - Maßnahmen zur Vorbeugung 1 Drucksache 17/6646 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11590 2 von Clankriminalität“ durch das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (IM NRW) eingereicht. Hierbei handelt es sich nicht um ein Aussteigerprogramm im klassischen Sinne. Ziel ist die Veränderung des Familiensystems durch Einsicht und in der Folge Verhaltensänderungen, insbesondere bei den Zielgruppen Kinder und Jugendliche sowie ihren Eltern und weiteren Verwandten. Das Projekt wird eng durch die „Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle (KKF) des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen sowie eine externe wissenschaftliche Beratergruppe (u. a. Prof. Dr. Rohe, Prof. Dr. Bliesener) begleitet. In dem Projekt geht es darum, den Familien die Folgen und Perspektiven eines kriminellen Lebenswandels für sich und insbesondere die Kinder unmissverständlich zu verdeutlichen und eine Alternative zur Kriminalität zu entwickeln - letztlich also eine gemeinschaftsfähige Integration dieser Menschen und die Schaffung von Lebensperspektiven. Dazu gehört auch die enge Verzahnung mit der Repression, da - so die Hypothese - Kontroll- und Ermittlungsdruck die Bereitschaft zur Annahme von Hilfen positiv beeinflussen kann. Aus diesem Grund wurde das Präventionsprojekt in die „Sicherheitskooperation Ruhr“ eingebettet. 2. Welche präventiven Konzepte wurden in den vergangenen zwei Jahren entwickelt ? 3. Welche präventiven Konzepte aus Frage 2 werden bereits umgesetzt? Die Fragen 2 und 3 werden wegen des Sachzusammenhanges gemeinsam beantwortet. Das im Rahmen der Ruhrkonferenz eingereichte Projekt „Integration, Orientierung, Perspektiven ! 360° - Maßnahmen zur Vorbeugung von Clankriminalität“ ist am 01.04.2020 erfolgreich angelaufen. In einem ersten Schritt erfolgte im Rahmen dieses Präventionsprojekts der Rückgriff auf die seit vielen Jahren wirkungsvoll und erfolgreich arbeitende sowie mehrfach wissenschaftlich evaluierte NRW-Initiative „Kurve kriegen“. Dazu wurden in einer ersten Implementierungsphase zunächst fünf clanspezifisch relevante „Kurve kriegen“ - Standorte speziell für diesen Phänomenbereich ertüchtigt (Aufstockung mit spezifisch ausgebildeten/erfahrenen pädagogischen Fachkräften, die zum Teil eigene - mit der Zielgruppe korrelierende Migrationshintergründe - haben, Bereitstellung von Mitteln für spezifische kriminalpräventive Maßnahmen , Nutzung von speziell qualifizierten Sprach- und Integrationsmittlern). In den Standorten der Anfangsphase Essen, Dortmund, Gelsenkirchen, Recklinghausen und Duisburg zeigten sich schnell Erfolge, die die prognostizierten Zielausmaße übertrafen. Aktuell sind bereits 24 Kinder und Jugendliche nebst ihren Eltern Teilnehmende des Programms. Aktuell stehen zwei weitere Standorte (Bochum, Oberhausen) kurz vor der Aufnahme des Wirkbetriebes , womit dann alle Ruhrgebietsstädte, die ausweislich des „Lagebildes Clankriminalität “ des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen unter den „Top Ten“ der von Clankriminalität belasteten Kommunen sind, Teil dieses Programms sind. Zur synergetischen Verzahnung der Prävention mit der Repression wurde ein „Koordinator Prävention“ in der „Sicherheitskooperation Ruhr“ eingesetzt. Aufgabe des erfahrenen Kriminalbeamten ist es, geeignete Präventionsmaßnahmen zu sondieren bzw. bestehende Projekte weiter zu entwickeln und zu implementieren und erforderliche Abstimmungen mit den repressiven Ansätzen vorzunehmen. Insbesondere kann er dabei die Struktur der „Sicherheitskooperation Ruhr“ und damit auch die dortigen Projektpartner aus Landespolizei, Zoll, Bundespolizei und Kommunen nutzen, um ggf. Informationen nach dort weiterzugeben oder aber von dort zu erhalten bzw. Maßnahmen abzusprechen. Dabei arbeitet er eng mit der Kriminalistisch- LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11590 3 Kriminologischen-Forschungsstelle des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen sowie der wissenschaftlichen Beratergruppe zusammen, um dauerhaft Aktualität und wissenschaftliche Expertise zu gewährleisten. Zur Weiterentwicklung der bestehenden präventiven Maßnahmen sowie ggf. zur Entwicklung neuer Präventionsansätze im Themenfeld Clankriminalität strebt das IM NRW auch die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts an. Mit diesem Präventionsprojekt ist das Land Nordrhein-Westfalen Vorreiter im gesamten Bundesgebiet . 4. Welche Erfahrungen konnten bereits durch die umgesetzten präventiven Konzepte gewonnen werden? Bei den präventiven Bemühungen geht es nicht darum, Familien auseinanderzudividieren. Es geht darum, den Familienzusammenhalt zu stärken in der Erkenntnis, dass Kriminalität am Ende zu nichts führt. Ziel der präventiven Maßnahmen ist es auch, „Glaubhafte Botschafter“ hervorzubringen, die deutlich machen: „Ich habe es geschafft aus der Kriminalität auszusteigen und du kannst es auch.“ Kriminalität ist nicht die natürliche Folge der Sozialisation in diesen Familien. Es fehlt oft nur an Rüstzeug und wahrnehmbaren Alternativen. Diese müssen sowohl den Kindern und Jugendlichen als auch den Eltern vermittelt werden. Daher verfolgt „Kurve kriegen“ auch den Ansatz, der ganzen Familie zu helfen (Systemischer Ansatz). Dass die Eltern dieser Kinder und Jugendlichen einer Teilnahme an „Kurve kriegen“ zugestimmt haben, ist ein beachtenswerter erster Erfolg. Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Angebote annehmen und sich auf präventive Maßnahmen - wie soziales Kompetenztraining - einlassen, ist ein zweiter. Diese Tatsache und die Rückmeldungen aus den fünf benannten Pilotbehörden bestätigen, dass es möglich ist, einen „pädagogischen“ Zugang zu den Familien zu finden. Ein weiterer Ansatzpunkt in der präventiven Arbeit in diesem Kontext sind die Mütter dieser Familien. Sie sind ein neuer Ansatzpunkt mit nicht zu unterschätzender Hebelwirkung in die Familienstrukturen in diesem Projekt. Letztlich möchte keine Mutter ihr Kind im Gefängnis sehen. Diese neue präventive Stoßrichtung wird nach derzeitigem Stand der Planungen explorativ vom Nationalen Zentrum für Kriminalprävention (NZK) begleitet.