LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/11689 03.11.2020 Datum des Originals: 03.11.2020/Ausgegeben: 09.11.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4496 vom 2. Oktober 2020 des Abgeordneten Serdar Yüksel SPD Drucksache 17/11264 Wie ist es um die Sicherheit türkeistämmiger regierungskritischer Exilanten in Deutschland bestellt? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Immer wieder taucht in den Medien der Vorwurf gegen die türkische Regierung auf, türkeistämmige regierungskritische Exilanten in Deutschland zu beobachten und unter Druck zu setzen. Insbesondere Wissenschaftler und Kulturschaffende, die kritisch zur türkischen Regierung und Präsident Erdogan stehen, beklagen sich über Drohungen seitens der türkischen Regierung, die von Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen reichen. Zu den Kommunalwahlen in NRW erregt ein Fall besondere Aufmerksamkeit in diversen Medien.1 Darin wirft Professor Dr. Burak Çopur (Universität Duisburg Essen) dem türkischen Geheimdienst vor, Druck auf seine Familie in der Türkei auszuüben, um regierungskritische Äußerungen zu unterdrücken. Es sei eine Akte mit zahlreichen vertraulichen Informationen zu Professor Dr. Burak Çopur angelegt worden. Das bloße Wissen um die Möglichkeiten des türkischen Geheimdienstes schüchterte die betroffenen Personen ein. Damit wird ein Klima der Angst geschaffen, das potentielle regierungskritische Meinungen türkeistämmiger Personen im Ausland hemmen soll. 1 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/burak-copur-drohung-geheimdienst-tuerkei-100.html https://www.welt.de/regionales/nrw/article216219562/Ein-Klima-der-Angst-herrscht-unter- Deutschlands- Tuerkischstaemmigen.html?fbclid=IwAR1iXG04Icwt7AU5fPcnOUzma9RlYqruqTsM4l3KSbyvpU1rsK7 -U0OTjVU https://www.derwesten.de/politik/erdogan-tuerkei-professor-aus-nrw-erhebt-schwere-vorwuerfeschuechtert -der-tuerkische-geheimdienst-seine-familie-einid 230447766.html?fbclid=IwAR1_sGI1mTXS8I3VFdaBGKbuY8zuGfnz1lLuo4wwep6oJqhKeuWVvWu OxYc https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/erdogan-regime-bedroht-eltern-des-deutschen-tuerkeiexperten -burak-copur/amp/?__twitter_impression=true LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11689 2 Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4496 mit Schreiben vom 3. November 2020 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Wie bewertet die Landesregierung die Sicherheitslage türkeistämmiger regierungskritischer Exilanten in NRW? Den Sicherheitsbehörden sind Beleidigungen und Bedrohungen gegen in Deutschland lebende türkische Oppositionelle insbesondere über die sozialen Netzwerke bekannt. Grundsätzlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich emotionalisierte Anhänger der türkischen Regierung bzw. türkische Nationalisten berufen fühlen, gegen Oppositionelle vorzugehen und dabei auch Gewalt anzuwenden. Der Landesregierung liegen aktuell allerdings keine belastbaren Erkenntnisse vor, nach denen der türkische Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MIT) oder von ihm beauftragte Kräfte in Nordrhein-Westfalen unter Einsatz von Gewalt gegen türkeistämmige Oppositionelle vorgehen. Grundsätzlich ist neben Spionage und Sabotage die Ausspähung von Oppositionellen ein wichtiges Ziel einiger ausländischer Nachrichtendienste. Oppositionelle werden von den Regierungen ihrer Heimatländer regelmäßig als Extremisten oder Terroristen definiert, was als Begründung für entsprechende nachrichtendienstliche Maßnahmen herangezogen wird. Die gegen Oppositionelle gerichteten Aktivitäten reichen von der Ausspähung und nachrichtendienstlichen Unterwanderung von Personen und Organisationen über gezielte Diffamierungen und Gegenpropaganda bis hin zu staatsterroristischem Agieren. Dabei ist festzustellen, dass eine wachsende Anzahl von Staaten deutlich robuster agiert als in der Vergangenheit. Einschüchterungen, Bedrohungen und der Einsatz von Gewalt gegen Oppositionelle werden außerhalb der eigenen Landesgrenzen zunehmend als legitimes Mittel betrachtet. Die Entwicklung ist dynamisch, die Grenze dessen, was hinsichtlich des nachrichtendienstlichen Vorgehens als opportun angesehen wird, verschiebt sich. Der türkische Nachrichtendienst MIT widmet sich in hohem Maße der Ausspähung von Oppositionellen. Dabei gehören Deutschland und insbesondere Nordrhein-Westfalen zu seinen vorrangigen Aufklärungszielen außerhalb der Türkei. Im Fokus stehen Gruppierungen, die von der türkischen Regierung als extremistisch oder terroristisch definiert werden. Dazu zählen die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C), die „Marxistische Leninistische Kommunistische Partei“ (MLKP) sowie die sogenannte Gülen-Bewegung. Darüber hinaus besteht ein großes Aufklärungsinteresse an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Bei in Nordrhein-Westfalen lebenden Angehörigen der oben genannten Organisationen sowie regierungskritischen Einzelpersonen ist daher grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, dass diese in den operativen Fokus des MIT geraten. Entsprechende Ausforschungsbemühungen gegen Organisationen und Personen dienen stets dem Ziel, Strukturen und/oder Aktivitäten dieser Organisationen/Personen aufzuklären. Dabei muss damit gerechnet werden, dass in Deutschland gesammelte Informationen gegen die betroffenen Personen eingesetzt werden, zum Beispiel zur Begründung staatlicher Maßnahmen bei Einreisen in die Türkei. Besonders heikel ist die Situation für Türkeireisende, die neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, wie zahlreiche Haftfälle und Einreisesperren in der jüngeren Vergangenheit belegen. Ein Druckmittel können auch in der Türkei lebende Verwandte von in Nordrhein-Westfalen lebenden Zielpersonen sein, da türkische Stellen auf diese leichteren Zugriff haben. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11689 3 2. Gibt es eine Gefährdungsbewertung der Polizei NRW bezüglich der Sicherheit von Herrn Professor Dr. Burak Copur? 5. Was unternimmt die Landesregierung aktiv, um türkischstämmige Personen in Deutschland vor Übergriffen seitens des türkischen Geheimdienstes zu schützen? Aufgrund des thematischen Zusammenhangs werden die Fragen 2 und 5 gemeinsam beantwortet: Die Sicherheitsbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen erheben fortwährend sicherheitsrelevante Erkenntnisse. Diese sind Grundlage der Beurteilung der Gefährdungslage und darauf basierender Schutzmaßnahmen. Die Beurteilung der Gefährdungslage obliegt den Kreispolizeibehörden. Hierin fließt neben den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes auch die regionale Sicherheitslage ein. Sind als Ergebnis der Beurteilung der Gefährdungslage Maßnahmen des Personen- und Objektschutzes erforderlich, werden diese auf der Grundlage der bundeseinheitlichen Regelungen der Polizeidienstvorschrift „Personen- und Objektschutz“ PDV 129 VS-NfD durchgeführt. Danach umfasst der Personen- und Objektschutz alle Maßnahmen, die zur Verhinderung oder Abwehr von Angriffen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Willens -und Handlungsfreiheit von gefährdeten Personen bzw. gegen gefährdete Objekte getroffen werden. Diese Regularien gelten unabhängig von der Nationalität, dem Wohn- und Ereignisort landesweit. Zur Anfertigung von Beurteilungen der Gefährdungslage einzelner Personen wird grundsätzlich keine Auskunft erteilt. 3. Welche Informationen liegen der Landesregierung über die Anwesenheit und Tätigkeit von Agenten und Spionen des türkischen Geheimdienstes MIT vor? 4. Wie bewertet die Landesregierung die Aussage, der türkische Geheimdienst habe ein umfangreiches Netzwerk aus Spionen in NRW etabliert? Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Der türkische Nachrichtendienst MIT nimmt in der türkischen Sicherheitsarchitektur eine herausgehobene Stellung ein. Er ist mit Exekutivbefugnissen ausgestattet, die 2014 und 2017 noch erheblich ausgeweitet wurden. Seit 2017 ist der MIT direkt dem türkischen Staatspräsidenten unterstellt. Insofern dient der MIT unmittelbar der Durchsetzung der türkischen Regierungspolitik. Anders als mitunter medial dargestellt, verfügt der MIT nicht über bis zu 8.000 Mitarbeiter in Deutschland. Vielmehr handelt es sich bei dieser Zahl nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes um die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des MIT im In- und Ausland insgesamt. Der MIT unterhält Residenturen in unterschiedlichen offiziellen Repräsentanzen der Türkei in Deutschland. Sie fertigen Stimmungs- und Lagebilder und versuchen, auch über die türkische Gemeinde hinaus, Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Kernaufgabe des MIT im Ausland ist jedoch die Aufklärung Oppositioneller. Unabhängig vom MIT verfügt der türkische Staat aufgrund der hier vertretenen Diaspora- Organisationen wie der Union of International Democrats (UID), der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) oder der nationalistischen Ülkücü-Bewegung über LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/11689 4 vielfältige Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. UID und DITIB versuchen dabei, einen eigenständigen und unabhängigen Charakter ihrer Organisationen hervorzuheben und die Verbindungen und Abhängigkeitsverhältnisse zur Türkei herunterzuspielen. Dieses weitläufige Netzwerk aus Personen und Organisationen dient nicht nur zur aktiven Meinungsbildung im Sinne der türkischen Regierung, es bietet dem türkischen Nachrichtendienst auch eine große Zahl potentieller Zuträger und Hinweisgeber. Eine aktive Steuerung und Führung durch in Deutschland agierende Mitarbeiter des MIT ist hierfür oftmals gar nicht erforderlich, da Hinweise auch über Dritte oder im Rahmen von Heimatbesuchen abgesetzt werden können. So ist belegt, dass Imame, die in Moscheen der „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V.“ (DITIB) tätig waren beziehungsweise sind, von der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet über die türkischen Generalkonsulate beauftragt wurden, Informationen zu Gülen-Angehörigen in ihrer Gemeinde zu übermitteln. Dieser Aufforderung sind zumindest einige Imame gefolgt. Entsprechende Verfahren des Generalbundesanwalts wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit nach § 99 StGB sind allerdings aus unterschiedlichen Gründen (z. T. hatten die Beschuldigten Deutschland bereits verlassen) eingestellt worden.