LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/12044 07.12.2020 Datum des Originals: 07.12.2020/Ausgegeben: 11.12.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4656 vom 4. November 2020 der Abgeordneten Britta Altenkamp SPD Drucksache 17/11709 Welche Kenntnis hat die Landesregierung um die Verschleppung dringender therapeutischer Leistungen bei Missbrauchsopfern? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Am Sonntag, den 25. Oktober sendete WDR Westpol einen Beitrag zum Umgang mit Opfern in Missbrauchsfällen. Vermeintlich Große Missbrauchsfälle wie in Bergisch Gladbach, Lügde und Münster kommen schnell vor Gericht und werden schnell behandelt. Jedoch stellt WDR Westpol fest, dass in weniger populären Missbrauchsfällen lange Wartezeiten herrschen und somit wichtige therapeutische Begleitung für die Opfer wegfällt. Es geht sogar so weit, dass Landgerichte von einer psychologischen Betreuung abraten, um eine etwaige Veränderung der Erinnerungen der Kinder zu verhindern. Eine Psychotherapie würde es dem Richter erschweren, den Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen zu beurteilen, erklärt ein Sprecher des Landgerichts in Münster dem WDR. Bei Kinderschutzbünden sind viele Fälle bekannt, bei denen Kinder wegen langer Verfahrensdauer jahrelang auf Psychotherapie warten müssen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen geht zu Lasten der Strafverfolgung. Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 4656 mit Schreiben vom 7. Dezember 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Familie, Kinder, Flüchtlinge und Integration, dem Minister des Innern und der Ministerin für Kultur und Wissenschaft beantwortet. 1. Wie viele Gerichtsverfahren zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sind zur Zeit in Verhandlung bzw. konnten noch nicht eröffnet werden, weil wichtige große Verfahren wie Bergisch Gladbach, Lügde und Münster, vorgezogen wurden? Die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte Düsseldorf, Hamm und Köln haben dem Ministerium der Justiz insoweit im Ergebnis wie folgt berichtet: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12044 2 Oberlandesgericht Anzahl der zurückgestellten Gerichtsverfahren Düsseldorf 0 Hamm 1 Köln 15 Den Berichten zufolge hat der Präsident eines Landgerichts auf Folgendes hingewiesen: „Der Hintergrund für die Nichtverhandlung bzw. Nichteröffnung ist i. d. R. multi-kausal, das heißt, ein Verfahren wird deshalb nicht behandelt, weil es generell andere vorrangige Verfahren gibt, von denen es auch mal mehrere gleichzeitig geben kann oder sie sich ´ablösen´ können. Das können zum einen Haftsachen sein, die vorrangig bearbeitet werden müssen, oder Umfangsverfahren, die besonders viel Arbeitskapazität binden oder sonstige Vorrangsgründe, wie Alter oder Hintergründe eines Verfahrens oder ähnliches sein. Und insoweit ist zu beachten, dass die Beurteilung eines etwaigen Vorrangs der richterlichen Unabhängigkeit unterliegt.“ Hinsichtlich des im Sinne der Fragestellung vornehmlich betroffenen Landgerichts Köln hat dessen Präsident - dem Bericht der Präsidentin des Oberlandesgerichts Köln zufolge - u. a. wie folgt ausgeführt: „Das Präsidium des Landgerichts Köln hat die im Zusammenhang mit dem Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach deutlich gestiegenen Eingangszahlen der Jugendschutzkammer des Landgerichts Köln, auch vor dem Hintergrund der Ankündigung weiterer Verfahren aus diesem Bereich, zum Anlass genommen, zum 01.01.2021 eine weitere große Strafkammer des Landgerichts Köln mit der Bearbeitung von Jugendschutzsachen zu betrauen. Diese Kammer soll die bisherige Jugendschutzkammer entlasten, damit neben den Haftsachen auch die oben genannten Nichthaftsachen zeitnah gefördert werden können.“ 2. Welche Kenntnisse hat die Landesregierung darüber, dass betroffenen Kindern und Jugendlichen therapeutische Hilfen verwehrt werden? Derartige Erkenntnisse liegen der Landesregierung nicht vor. Personen jedweden Alters, die Opfer von sexualisierter Gewalt oder anderer Straftaten geworden sind, sind rechtlich weder gehindert noch eingeschränkt, therapeutische Hilfe auch vor Durchführung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung in Anspruch zu nehmen. 3. Wie viele Staatsanwaltschaften und Gerichte sind mit kindgerechten Verhörzimmern ausgestattet? Zur Ausstattung mit Vernehmungszimmern für Zeuginnen und Zeugen im Kindesalter haben die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte sowie die Generalstaatsanwältin und Generalstaatsanwälte in Düsseldorf, Hamm und Köln dem Ministerium der Justiz im Ergebnis wie folgt berichtet: Geschäftsbereich Anzahl kindgerechter Vernehmungszimmer Gerichte 27 Staatsanwaltschaften 1 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12044 3 Soweit es die bei den Gerichten vorhandenen kindgerechten Vernehmungszimmer betrifft, handelt es sich teilweise um solche, die speziell und dauerhaft zum Zwecke kindgerechter Vernehmungen eingerichtet worden sind. Miterfasst sind indes auch solche Räumlichkeiten, die lediglich anlassbezogen zur Durchführung von Vernehmungen genutzt werden, im Übrigen aber auch für andere Zwecke (z. B. als Zeugenbetreuungszimmer) zur Verfügung stehen. Bei der Planung von Neubauvorhaben im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind im Übrigen nunmehr gesonderte Aufenthaltsräume für Kinder vorzusehen, die auch zur Durchführung von Vernehmungen genutzt werden können. Seitens des staatsanwaltschaftlichen Geschäftsbereichs ist zum Teil darauf hingewiesen worden, dass im Bedarfsfall kindgerechte Vernehmungszimmer bei den Polizeibehörden in Anspruch genommen werden könnten. 4. Wie viele qualifizierte Beamte bei Polizei und Justiz sind geschult, um Opfer von sexualisierter Gewalt im Kindesalter zu vernehmen? a) Bedienstete der Polizei Die nachfolgend aufgeführten Daten beziehen sich auf den Erhebungszeitraum der Jahre 2010 bis 2020. Die Grundlagen für die polizeiliche Vernehmung von Zeugen / Opfern von Straftaten werden in der Zentralen Einführungsfortbildung für die kriminalpolizeiliche Sachbearbeitung vermittelt, die verpflichtend für alle Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte ist, denen erstmals dauerhaft die Aufgabe der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung übertragen wird. Die weitere Spezialisierung erfolgt durch die Teilnahme an der Fortbildungsveranstaltung „Sexuelle Gewaltdelikte I - Einführung“. Inklusive der entsprechenden Vorläuferveranstaltungen (2010-2011 „Sexuelle Gewaltdelikte gegen Frauen und Kinderpornographie - Anpassung“; Sexueller Missbrauch / Kindesmisshandlung) haben seit 2010 insgesamt 686 kriminalpolizeiliche Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter die entsprechenden Fortbildungsveranstaltungen absolviert. Die Anpassungsfortbildung „Anhörung von Kindern und Vernehmung von Jugendlichen als Opfer / Zeugenschaft bei Sexualdelikten / Kindesmisshandlung“ intensiviert die zuvor erworbenen Grundkenntnisse durch die Vermittlung wissenschaftlicher Aspekte und die Durchführung realistischer Rollenspiele. 267 kriminalpolizeiliche Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter haben diese Fortbildung in den Jahren 2010 bis 2020 absolviert. b) Bedienstete der Justiz Statistisches Material zur im Sinne der Fragestellung einschlägigen Qualifikation der Justizangehörigen liegt der Landesregierung nicht vor. Abrufbar ist hingegen die Anzahl der Teilnehmenden an Fortbildungsveranstaltungen. Der nachstehenden Übersicht für die Jahre 2015 bis 2019 kann entnommen werden, dass in dieser Zeit insgesamt 220 Justizangehörige zur einfühlsamen Vernehmung insbesondere von kindlichen und jugendlichen Opferzeugen geschult worden sind: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12044 4 Jahr Teilnehmerzahl 2015 43 2016 39 2017 48 2018 49 2019 41 5. An welchen Standorten plant die Landesregierung die Förderung sogenannter Childhood-Häuser in Nordrhein-Westfalen? Am 16.11.2020 hat das Childhood-Haus am Universitätsklinikum Düsseldorf (UKD) als erste Einrichtung seiner Art in Nordrhein-Westfalen und nach Heidelberg, Leipzig und Berlin als bundesweit vierte seinen Betrieb aufgenommen. Die Landesregierung wird die Entwicklung des Betriebes verfolgen und auf Basis der gewonnenen Erfahrungen darüber entscheiden, ob und ggf. wie weitere Childhood-Häuser in Nordrhein-Westfalen geschaffen werden sollen.