LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/12069 09.12.2020 Datum des Originals: 09.12.2020/Ausgegeben: 15.12.2020 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4673 vom 12. November 2020 der Abgeordneten Carina Gödecke, Karsten Rudolph und Serdar Yüksel SPD Drucksache 17/11829 Was tut die Landesregierung, damit Bochum als relevanter Stahlstandort Europas zukunftsfähig bleibt? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Stahl ist systemrelevant. Das hat die Landesregierung nochmals bestätigt (LT-Drs. 17/9493). Die Stahlindustrie in NRW befindet sich in einer existenziell bedrohlichen Lage. Die Coronabedingte Absatzschwäche hat die Strukturkrise der Stahlindustrie noch einmal verschärft und trifft die Branche zu einem Zeitpunkt, an dem sie aus unterschiedlichen Richtungen unter massivem Wettbewerbsdruck steht. Hohe Energiekosten und strenge Klimaschutzauflagen kommen erschwerend hinzu. Als ein bedeutender Standort zur Weiterverarbeitung von Stahl, insbesondere für die Automobilindustrie, ist Bochum davon unmittelbar betroffen. Neben den in Bochum tätigen Stahlunternehmen wie etwa thyssenkrupp Steel Europe, Bochumer Verein, Stahlwerke Bochum uvm. mit insgesamt etwa 4000 Beschäftigten kommen noch die Beschäftigten bei Zulieferbetrieben, im Logistiksektor und bei Abnehmern hinzu. Die Standorte in Duisburg, Dortmund und Bochum bilden im Bereich der Stahlverarbeitung die Pulsadern des Ruhrgebiets und sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Dieses Wechselverhältnis ist in hohem Maße vom Erfolg des Ausbaus von klimaneutralem Wasserstoff abhängig. Der in Duisburg geplante zweite Nationale Stahlgipfel wurde zwar coronabedingt verschoben, kann aber wegweisend für die gesamte Stahlindustrie sein, insbesondere wenn es um das Thema Klimaneutralität geht. Ohne Unterstützung stehen die Chancen auf eine zukunftsfähige Stahlindustrie in NRW schlecht, insbesondere auch mit Blick auf ArbeitnehmerInnen, die derzeit in eine ungewisse Zukunft steuern. Der Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie hat die Kleine Anfrage 4673 mit Schreiben vom 8. Dezember 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen, dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales und der Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz beantwortet. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12069 2 1. Welche konkreten Maßnahmen will die Landesregierung zum Erhalt der Stahlindustrie am Standort Bochum ergreifen? Die Landesregierung hat ein hohes Interesse am Erhalt und der Stärkung der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen. In Abstimmung mit der Bundesregierung und den in der Nationalen Stahlallianz vertretenen Bundesländern arbeitet sie kontinuierlich an der Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen für diese wichtige Grundstoffindustrie. Dieses Engagement ist nicht auf einzelne Standorte beschränkt, sondern dient der nachhaltigen Entwicklung der Branche in ganz Nordrhein-Westfalen. Über ihre Aktivitäten hat die Landesregierung dem Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung und dem Plenum des nordrheinwestfälischen Landtags in den letzten Monaten zu verschiedenen Anlässen berichtet. Zuletzt im Rahmen der Aktuellen Stunde am 27. November 2020. Konkrete Anknüpfungspunkte zur Unterstützung der Stahlindustrie bietet das Handlungskonzept Stahl, das im Juli 2020 von der Bundesregierung verabschiedet wurde und das von der Allianz der Stahlbundesländer ausdrücklich begrüßt wurde. Ziele des Handlungskonzepts sind: • Chancengleichheit auf dem globalen Stahlmarkt zu schaffen; • den Carbon Leakage-Schutz für die Stahlindustrie zu stärken; • eine Umstellung auf eine CO2-arme und langfristig CO2-freie Stahlproduktion zu ermöglichen und die Chance zu nutzen, Vorreiter innovativer Klimaschutztechnologien zu werden. In der Wirtschaftsministerkonferenz am 30. November 2020 hat die Bundesregierung über die Umsetzung ihres „Handlungskonzeptes Stahl“ berichtet. Die Länder fordern die Bundesregierung in ihrem Beschluss auf, angesichts der klimaschutz-, energie- und außenhandelspolitischen Herausforderungen der Stahlindustrie sich auch weiterhin für Maßnahmen zur Vermeidung von Carbon Leakage und zur Herstellung eines internationalen „Level Playing Field“ einzusetzen. Außerdem sind für eine erfolgreiche Transformation des Sektors hin zu wesentlich CO2-ärmeren bzw. CO2-neutralen Produktionsweisen eine angemessene Förderung der investiven und operativen Kosten durch die Europäische Union und den Bund sowie eine verlässliche, beihilferechtliche Flankierung zwingend erforderlich. Ferner sind bei den außenhandelspolitischen Rahmenbedingungen mit Blick auf das Auslaufen der gegenwärtigen Safeguard Measures der Europäischen Union darauf hinzuwirken, das WTO-Recht so anzuwenden, dass die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit der Stahlindustrie in Deutschland gegen Dumping und nicht marktkonform staatlich finanzierte Wettbewerber aus Drittmärkten langfristig abgesichert werden kann. Um die ersten Umsetzungsschritte dieses Handlungskonzepts zu erörtern und den für 2021 geplanten Stahlgipfel in Duisburg vorzubereiten, wird am 11. Dezember 2020 ein von mir organisiertes „High-Level Forum“ mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, hochrangigen Vertretern deutscher Stahlunternehmen, der IG Metall, der Wirtschaftsvereinigung Stahl und den Ländern der Nationalen Stahlallianz stattfinden. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12069 3 2. Wie steht die Landesregierung zu einer möglichen Fusion zwischen thyssenkrupp Steel Europe und ausländischen Unternehmen? Der Konzern thyssenkrupp AG und insbesondere auch dessen Stahlsparte thyssenkrupp Steel Europe AG befinden sich schon länger in einer wirtschaftlich herausfordernden Situation, die durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärft worden ist. Um die Zukunft des Konzerns und möglichst viele Arbeitsplätze an Standorten in Nordrhein-Westfalen zu sichern, müssen zeitnah grundlegende Entscheidungen getroffen werden. Neben und zusätzlich zu einer Restrukturierung kann dies auch eine Fusion oder ein Joint Venture der Stahlsparte mit einem inländischen oder ausländischen Stahlunternehmen beinhalten. Kürzlich hat der britische Stahlkonzern Liberty Steel Interesse an einer Übernahme von thyssenkrupp Steel Europe gezeigt. Ob das zugrundeliegende industrielle Konzept geeignet ist können letztlich allein die beiden Unternehmen beurteilen. 3. Wie steht die Landesregierung zu einer möglichen staatlichen Beteiligung bei thyssenkrupp Steel Europe? 4. Wie könnte eine solche staatliche Beteiligung konkret aussehen? Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des sachlichen Zusammenhangs gemeinsam beantwortet. Als prüfenswerter Weg für eine denkbare, kurzfristig bereitzustellende finanzielle staatliche Unterstützung des Konzerns wird die Nutzung des Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) des Bundes gesehen. Das Unternehmen muss für sich entscheiden, ob es einen entsprechenden Antrag stellen will. Unabhängig davon wäre eine Staatshilfe für sich betrachtet keine zukunftsfähige Lösung. Unverzichtbar in dieser Situation ist ein tragfähiges Zukunftskonzept, wobei ein starker industrieller Partner sehr hilfreich sein könnte. Für den Erwerb von Anteilen an privatrechtlichen Unternehmen bestehen auch erhebliche rechtlichen Hürden. Eine direkte Beteiligung des Staates hätte zudem erhebliche Folgen für den Wettbewerb, was vom Bund im Rahmen seiner Entscheidung über eine Beteiligung des WSF zu berücksichtigen wäre. Außerdem könnte sich eine staatliche Beteiligung negativ auf staatliche Förderungen bei der Transformation zur Klimaneutralität auswirken. Gerade aber diese staatliche Begleitung des Umbauprozesses hin zu grünem Stahl über die bereits vorgenommenen Hilfen für Pilotvorhaben und Reallabore hinaus, u.a. im Rahmen eines sogenannten IPCEI (Important Project of Common European Interest) zum Thema Wasserstoff, wird auch vom Unternehmen ausdrücklich für notwendig und sinnvoll erachtet. Bei einem IPCEI handelt es sich um ein transnationales, wichtiges Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse, das mittels staatlicher Förderung einen wichtigen Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und Wirtschaft leistet. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/12069 4 5. Für die klimaneutrale Stahlproduktion benötigt die Stahlindustrie enorme Mengen an grünem Wasserstoff. Mit welchen konkreten Maßnahmen will die Landesregierung die Stahlindustrie unterstützen, um die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine CO2- neutrale Stahlproduktion auf den Weg zu bringen? Um den für die klimaneutrale Stahlproduktion benötigten grünen Wasserstoff bereitzustellen, unterstützt die Landesregierung den Markthochlauf zielgerichtet. Dafür wurde am 09. November 2020 ein umfangreiches strategisches Handlungskonzept – die Wasserstoff Roadmap Nordrhein-Westfalen – vorgelegt. Darin werden zentrale Rahmenbedingungen ebenso adressiert wie notwendige Infrastrukturmaßnahmen und (internationale) Partnerschaften / Importstrategien. Branchenspezifische Zielmarken, insbesondere auch für die Stahlindustrie, dienen der konsequenten Umsetzung der Strategie. Die Landesregierung setzt sich überdies gegenüber der Bundesregierung für die Schaffung der notwendigen regulatorischen Rahmenbedingungen hinsichtlich Nutzung und Transport von Wasserstoff sowie für den Aufbau und die Bereitstellung der Infrastruktur ein. Ein entsprechender Bundesratsbeschluss wurde kürzlich auf Initiative Nordrhein-Westfalens gefasst. Auch bemüht sich die Landesregierung, bei der Ausgestaltung des von der Bundesregierung im Rahmen der Nationalen Wasserstoffstrategie angekündigten Pilotprogramms für CCfD in der Stahlindustrie mitzuwirken und dieses zeitnah für Stahlunternehmen in Nordrhein-Westfalen zugänglich zu machen. Zudem unterstützt die Landesregierung im Rahmen der Landesinitiative IN4climate.NRW Unternehmen aus der nordrhein-westfälischen Industrie, die Transformation in eine treibhausgasneutrale Wirtschaftsweise bei gleichzeitigem Erhalt bzw. Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich zu gestalten. Das Vorhaben thyssenkrupps zur Inbetriebnahme der ersten großtechnischen Direktreduktionsanlage zur Erzeugung von Stahl auf Basis von Wasserstoff am Standort Duisburg bis 2025 wird die Landesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen. Vorbereitend fördert die Landesregierung bereits die Erprobung der Wasserstoffeinspeisung in die Hochofenroute. Der Förderbescheid für die erste Projektphase i. H. v. 1,6 Millionen Euro wurde im April 2019 an thyssenkrupp Steel, Air Liquide und das Stahlforschungsinstitut BFI überreicht. Die Landesregierung bereitet ferner eine Beteiligung an der Förderung des sich daran anschließenden, im Zuge des 7. Energieforschungsprogramms seitens des BMWi ausgewählten Reallabors H2 Stahl vor, im Rahmen welcher aufbauend auf der ersten Projektphase alle 28 Blasformen an einem Hochofen umgerüstet werden sollen, sodass Wasserstoff Kohlenstoff anteilig ersetzen kann. Diese Umrüstung bedeutet einen ersten, wichtigen Schritt auf dem Weg zur Klimaneutralität, da hierdurch kurzfristig Emissionen gemindert werden. Die Landesregierung stellt ungeachtet dessen explizit die Sicherung der gesamten Wertschöpfungskette in den Vordergrund, was insbesondere auch die Kunden der Stahlhersteller in den Fokus rückt. Das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie ist daher aktiv im Austausch mit stahlverarbeitenden Unternehmen, um mittels Förderung und Beratung die Möglichkeit zu schaffen, innovative Projekte am Standort umzusetzen und somit die gesamte Stahlwertschöpfungskette zu stärken.