LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/1873 02.02.2018 Datum des Originals: 31.01.2018/Ausgegeben: 07.02.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 683 vom 5. Januar 2018 der Abgeordneten Verena Schäffer und Josefine Paul BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/1644 Frauen und Mädchen im Neosalafismus in Nordrhein-Westfalen Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die neosalafistische Szene ist in den letzten Jahren kontinuierlich angewachsen. Insbesondere vor dem Hintergrund des Aufkommens des sogenannten IS hat sich die Szene auch in Deutschland und Nordrhein-Westfalen weiter radikalisiert und zeigt heute eine hohe Gewaltbereitschaft auf. Gleichzeitig ist die Szene – nach Angaben der Sicherheitsbehörden – jünger und weiblicher geworden. Die Antwort auf die Kleine Anfrage 136 (Drs. 17/419) hat ergeben, dass bis August 2017 12 Frauen als Gefährderinnen und 23 Frauen als relevante Personen eingestuft waren. Unter den 252 aus NRW ausgereisten Personen waren 70 Frauen, darunter auch 24 Frauen unter 21 Jahren. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden gehe die Zahl der Ausreisen aber aufgrund der militärischen Niederlage des IS stark zurück. Dafür nehme aber die Zahl derer, die nach Deutschland zurückkehren zu. Unter ihnen seien auch immer mehr Frauen. Am 22. November 2017 berichtete die WAZ1 mit Bezugnahme auf den Verfassungsschutz NRW, dass Frauen aus der neosalafistischen Szene eigene Netzwerke und Foren im Internet, sogenannte Schwesternschaften, gebildet haben. In diesen Foren soll es um die Vermittlung neosalafistischer Ideologien und eines entsprechenden Geschlechter- und Familienbildes gehen. Aus dem Rechtsextremismus ist bekannt, dass ein hoher Frauenanteil stabilisierend auf die Szene wirkt. Ein ähnlicher Effekt ist in der neosalafistischen Szene zu erwarten. Wenn ganze Familien neosalafistisch geprägt sind, kann sich die entsprechende Ideologie weiter verfestigen. Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes NRW, wird in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember 20172 dazu wie folgt zitiert: „Die Männer 1 https://www.waz.de/politik/frauen-werben-fuer-den-dschihad-id212622827.html 2 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/der-salafismus-wird-immer-weiblicher-15359062.html LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1873 2 haben gemerkt, dass Frauen viel besser netzwerken können und deshalb viel stärker in der Lage sind, die Szene zu binden und am Leben zu halten.“ Damit wird es vermutlich auch schwieriger, Personen aus dieser Szene herauszulösen. Der erste Zwischenbericht der von der rot-grünen Landesregierung eingerichteten Interministeriellen Arbeitsgruppe (IMAG) zum „Ganzheitlichen Handlungskonzept zur Bekämpfung des gewaltbereiten verfassungsfeindlichen Salafismus“ (Vorlage 16/4969) vom 29.03.2017, weist auch auf die besondere Rolle von Frauen und Mädchen in der Szene hin und schlägt unter anderem ein Projekt zum Empowerment von Frauen und Mädchen vor. Die schwarz-gelbe Landesregierung ist nun aufgefordert, dieses Handlungskonzept so umzusetzen, dass alle Maßnahmen und Projekte in diesem Themenfeld geschlechterreflektiert angelegt sind. Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 683 mit Schreiben vom 31. Januar 2018 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung beantwortet. 1. Wie hoch ist der Frauenanteil in der neosalafistischen Szene in Nordrhein- Westfalen? (Bitte nach Alter, Staatsangehörigkeit, Einstufung als „Gefährderinnen“, „relevante Person“ sowie Ausreisende und Rückkehrerinnen aufschlüsseln.) Nach den vorliegenden Erkenntnissen beträgt der Frauenanteil unter den 3 000 Anhängern der extremistischen salafistischen Szene in Nordrhein-Westfalen annähernd zwölf Prozent. Mit Stand 10.01.2018 waren insgesamt 253 Personen als islamistische Gefährder eingestuft, darunter elf weibliche Personen (4%). Als relevante Personen wurden 134 Personen eingestuft. Davon waren 34 weiblich (25%). Frauen und Mädchen haben in beiden Fällen mehrheitlich die deutsche Staatsangehörigkeit. Weitere Angaben, insbesondere zu Alter und Staatsangehörigkeit, sind der Tabelle 1 und 2 zu entnehmen. 3 Bei Doppelstaatsangehörigkeit wurde nur die deutsche Staatsangehörigkeit erfasst. 4 Die Kategorie „Unter 21 Jahre“ enthält ebenfalls die minderjährigen weiblichen Personen. Alter Relative Häufigkeit Staatsangehörigkeit3 Rel. Häufigkeit Minderjährige - deutsch 73% Unter 21 Jahre4 - türkisch 18% 21 bis 30 Jahre 73% sonstige 9% 31 bis 40 Jahre 18% Über 40 Jahre 9% Tabelle 1 Alter und Staatsangehörigkeit der weiblichen „Gefährder“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1873 3 Insgesamt 255 Personen sind nach aktuellen Erkenntnissen aus Nordrhein-Westfalen in die jihadistischen Kampfgebiete Syriens und des Irak ausgereist. Darunter befinden sich 72 Frauen und Mädchen, was einem Anteil von 28 Prozent entspricht. Zurückgekehrt sind bisher 75 Personen, darunter 15 weibliche Personen (20%). Die deutsche Staatsangehörigkeit ist auch hier mehrheitlich vertreten. Weitere Angaben zur Gruppe der weiblichen „Ausgereisten“ sind der Tabelle 3 zu entnehmen. Da aufgrund der kleinen absoluten Anzahl bei den Rückkehrerinnen eine personenscharfe Identifizierung möglich wäre, ist eine Aufschlüsselung nach Alter und Staatsangehörigkeit hier nicht möglich. 2. Wie sind Frauen und Mädchen in der neosalafistischen Szene untereinander vernetzt? Weibliche Anhängerinnen der extremistisch-salafistischen und jihadistischen Szene tauschen sich sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt aus. In der realen Welt betätigen sie sich im Rahmen organisierter Treffen in Privaträumen und Moscheen. Hier werden besonders religiöse Lerninhalte vermittelt, die zur Rekrutierung einer weiblichen Anhängerschaft dienen. Die Aktivitäten von Frauen in der extremistischsalafistischen Szene sind jedoch vor allem in sozialen Netzwerken und Messengerdiensten zu beobachten. Sie spielen bei der Verbreitung von Propaganda eine entscheidende Rolle. In den sozialen Netzwerken existieren Zusammenschlüsse weniger Personen bis hin zu großen Gruppen. Hier tauschen sich die weiblichen Szeneangehörigen beispielsweise in Angelegenheiten einer ihrer Ideologie angepassten Lebensführung aus, bieten Anleitungen zur Kindererziehung und Unterrichte an, sind in der „Gefangenenhilfe“ aktiv und verbreiten extremistisch-salafistische Propaganda. Alter Rel. Häufigkeit Staatsangehörigkeit1 Rel. Häufigkeit Minderjährige - deutsch 65% Unter 21 Jahre2 6% türkisch 24% 21 bis 30 Jahre 50% sonstige 11% 31 bis 40 Jahre 38% Über 40 Jahre 6% Tabelle 2 Alter und Staatsangehörigkeit der weiblichen „relevanten Personen“ Alter Rel. Häufigkeit Staatsangehörigkeit1 Rel. Häufigkeit Minderjährige 7% deutsch 62% Unter 21 Jahre2 34% türkisch 24% 21 bis 30 Jahre 52% marokkanisch 6% 31 bis 40 Jahre 10% sonstige 8% Über 40 Jahre 4% Tabelle 3 Alter und Staatsangehörigkeit der weiblichen „Ausgereisten“ LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1873 4 Darüber hinaus werden explizite Online-Unterrichte zum Koranstudium, zum Erlernen der arabischen Sprache sowie religiöse Schulungen von Frauen für Frauen angeboten. Hier werden szenetypische ideologische und religiöse Texte ins Deutsche übersetzt und verbreitet. Frauen aus der salafistischen Szene treten hierbei als „Ideologieproduzentinnen“ auf und leisten dem eigenen Selbstverständnis zufolge „ihren Beitrag“ an der da‘wa (Missionierung/Propaganda) für die islamische Gemeinschaft. Der Landesregierung sind gegenwärtig zwischen 40 und 50 aktiv netzwerkende Frauen in Nordrhein-Westfalen bekannt. 3. Welche spezifischen Strategien nutzt die neosalafistische Szene zur Anwerbung von Frauen und Mädchen? Die Anwerbung und Radikalisierung von Frauen und Mädchen ist vergleichbar zu männlichen Szeneangehörigen. Das salafistisch-extre-mistische Narrativ bietet jungen Muslimen und Konvertiten in der muslimischen Diaspora Anknüpfungspunkte für kollektive Identitätszuschreibungen: Mitgefühl mit notleidenden Glaubensbrüdern wie beispielsweise in Syrien oder Palästina wird mit eigenen Demütigungs- und Opfererfahrungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit oder sozialer Stellung verwoben und „dem Westen“ als Gesamtkonstrukt angelastet. Im Umkehrschluss wird ein vermeintlicher wahrhafter Islam als Gegenmodell zum Westen stilisiert. Vor diesem Hintergrund entsteht unter jungen Muslimen und Konvertiten aus dem jihadistischen Spektrum der Nährboden für den Wunsch nach Rache für empfundene Kränkungen und nach Verteidigung der vermeintlich vom Westen bedrohten Glaubensbrüder und -schwestern. Die Rekrutierung verlagert sich dabei zunehmend in das Internet und die sozialen Medien. Diese treten gleichberechtigt neben die Kommunikation in der realen Welt. Maßgeschneiderte Propagandaprodukte – wie beispielsweise die gewaltverherrlichenden bildreichen „Werbebotschaften“ des sogenannten Islamischen Staates – verbreiteten sich unkontrollierbar im Netz und sprechen ein potenziell großes Publikum an. Über soziale Medien werden Kontakte angebahnt und Radikalisierungsprozesse initiiert und begleitet. Sie spielen eine ausschlaggebende Rolle für die islamistische Szene in Deutschland. 4. Was unternimmt die Landesregierung, um Frauen und Mädchen gegen neosalafistische Ideologien und Anwerbeversuche zu stärken? Die Sensibilisierung von Frauen und Mädchen sowie der Personen, die in ihrer Lebenswelt agieren, ist eine Möglichkeit, um diese über den Islamismus und seine Erscheinungsformen aufzuklären und gegen islamistische Ideologien und Anwerbeversuche zu stärken. Hierzu beteiligt sich der Verfassungsschutz beispielsweise in Form von Vorträgen und Workshops an Veranstaltungen zum Themengebiet. Auch das Präventionsprogramm Wegweiser führt regelmäßig Informations- und Sensibilisierungsangebote für Multiplikatoren sowie spezielle Bildungsformate für junge Menschen durch. Dabei wird auch auf die Besonderheiten im Geschlechterverständnis muslimischer Frauen und Mädchen eingegangen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/1873 5 Unter der Federführung des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration wird seit 2017 das Video-Projekt „Lebensentwürfe muslimischer Frauen und Mädchen“ der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen gefördert. Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung ist beratend beteiligt. Die Videos sollen dazu dienen, die Narrative des gewaltbereiten, verfassungsfeindlichen Salafismus zu entkräften und die Selbstbestimmung von Frauen zu stärken, indem der Fokus auf ein zeitgemäßes Rollenverständnis gelegt wird. Die ersten Videos sind bereits auf dem YouTube-Kanal „proVo“ unter dem Hashtag „#bestimmdichselbst“ abrufbar. Daneben planen das Ministerium des Innern und das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung die Organisation und Durchführung einer Fachtagung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Im Wege der Veranstaltung werden unterschiedliche Zielgruppen angesprochen. Neben einem breiten fachlichen Input von Referentinnen und Referenten sowie dem Austausch mit den Teilnehmenden, soll vor allem ein Anstoß für die Entwicklung zahlreicher weiterer Projekte und Veranstaltungen von und für Mädchen und Frauen vor Ort gegeben werden. 5. Wie nimmt das Aussteigerprogramm Islamismus des Verfassungsschutzes NRW insbesondere die Zielgruppe der Frauen und Mädchen gezielt in den Blick, um diese aus der neosalafistischen Szene zu lösen? In der Vergangenheit wurden schwerpunktmäßig männliche Extremisten durch das Aussteigerprogramm Islamismus (API) betreut, obwohl sich das Angebot nicht ausschließlich an Männer richtete. Auf die besondere Herausforderung, Frauen zu erreichen und zu einer Distanzierung von der islamistischen Szene zu bewegen, hat der Verfassungsschutz NRW mit der gezielten Einstellung weiblicher Ausstiegsbegleiterinnen sowie einer auf Frauen und Mädchen gerichteten Akzentuierung der Ansprache reagiert. Das Konzept zur zielgerichteten „Ansprache und Begleitung“ islamistischer Frauen und Mädchen ist in Abstimmung mit internen und externen Experten sowie Fachstellen entwickelt und in entsprechende Tagungen eingebracht worden. Neben einer verstärkten aktiven Ansprache islamistischer Frauen durch das API wird beispielsweise auch Rückkehrerinnen das Angebot der Aufnahme ins API unterbreitet, um frühzeitig eine intensive Begleitung im ideologischen Distanzierungsprozess zu ermöglichen. Inzwischen beträgt der Frauenanteil im Programm bereits knapp 20 Prozent.