LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/2579 09.05.2018 Datum des Originals: 09.05.2018/Ausgegeben: 15.05.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 959 vom 12. April 2018 des Abgeordneten Markus Wagner AfD Drucksache 17/2359 Käfighaltung für Strafgefangene: Sind die NRW-Justizvollzugsanstalten verfassungswidrig? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 2015 (AZ: 1 BvR 1127/14) haben Strafhäftlinge im Gefängnis ein Recht auf menschenwürdige Unterbringung – eine Zelle von nur fünf Quadratmetern Bodenfläche verletzte dieses Recht. In der Folge haben Häftlinge, die in einer solchen Zelle eingesperrt sind, grundsätzlich Anspruch auf finanzielle Entschädigung. Die Betroffenen können den Richtern zufolge sogar dann auf Geld hoffen, wenn sie nur wenige Tage in den zu engen Räumen eingesperrt waren. In seiner Ausgabe vom 07.03.2018 berichtet u.a. RP-ONLINE, dass wegen des Sanierungsstaus in den NRW-Gefängnissen die Haftanstalten des Landes 292 Notgemeinschaften gebildet haben. Das sind Zellen, in denen die Häftlinge jeweils weniger als die gesetzlich vorgeschriebenen fünf Quadratmeter Platz haben. Und das habe im vergangenen Jahr zu einem Schadenersatz von rund 31.000,00 Euro geführt. Gemäß dem Bericht von NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) für den Justizausschuss des Landtags sind demnach in NRW derzeit 16.493 Menschen inhaftiert, aber nur 11.538 in den eigentlich vorgesehenen Einzelzellen. Nicht alle der übrigen 4955 Häftlinge müssten ihre Haft in Notgemeinschaften verbringen - die meisten lebten auf eigenen Wunsch oder etwa wegen einer Suizid-Gefahr mit anderen in dafür ausgelegten Zellen zusammen. Dennoch bedeutet die hohe Zahl der Notgemeinschaften für das Land ein finanzielles Risiko: Im Jahr 2014 wurden fast 115.000 Euro an 84 Häftlinge ausgezahlt, die wegen ihrer angeblich menschenunwürdigen Unterbringung Schadenersatz eingefordert hatten. Im abgelaufenen Jahr 2017 betrug die Höhe der Schadenersatzleistungen 31.018,52 Euro, wie das Justizministerium nach Angaben von RP-ONLINE mitteilte. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2579 2 Demnach gibt es die meisten Notgemeinschaften in der JVA Essen (56), gefolgt von Gelsenkirchen (49), Remscheid (31), Duisburg-Hamborn (25) und Dortmund (23). Die meisten Häftlinge lebten derzeit in der JVA Bielefeld-Senne (1395), gefolgt von Köln (1063) und Werl (1012). In diesem Zusammenhang versprach Minister Biesenbach, dass sich mittelfristig eine entspanntere Belegungssituation ergeben werde, wenn die für 2018 und 2019 geplanten Grundsanierungen und Neubauten von Gefängnissen abgeschlossen sind. Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 959 mit Schreiben vom 9. Mai 2018 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Der Justizvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen gewährleistet eine sichere und den Anforderungen an die Menschenwürde entsprechende Unterbringung der Gefangenen. Auf vollzugliche Aspekte der Unterbringung, insbesondere die Suizidprophylaxe und medizinische Anforderungen, wird dabei ein besonderes Augenmerk gelegt. Die Einzelunterbringung ist Standard. Daneben werden Gefangene in Gemeinschaftshafträumen aus vollzuglichen Gründen auch gemeinsam untergebracht. Stehen für die notwendige gemeinschaftliche Unterbringung nicht ausreichend Gemeinschaftshafträume zur Verfügung, können auf Grundlage der RV d. JM v. 19. November 1976 (4404 - IV B. 23) in Hafträumen, die über eine ausreichende Grundfläche (mindestens 5 qm pro Gefangenen) und einen abgetrennten Sanitärbereich verfügen, sogenannte Notgemeinschaften gebildet werden. Eine Notgemeinschaft darf mithin nur in einem Haftraum gebildet werden, der den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung entspricht. Die Anstalten sind angewiesen, menschenunwürdige Unterbringungen in jedem Fall zu vermeiden. Das Ministerium der Justiz überwacht die Einhaltung dieser Vorgabe. Soweit am Stichtag 31. März 2018 dennoch 160 Gefangene - damit weniger als ein Prozent der Gesamtbelegung - in Notgemeinschaften, in denen den Gefangenen pro Person weniger als fünf Quadratmeter Grundfläche zur Verfügung standen, untergebracht waren, sind die Anstalten in jedem Einzelfall verpflichtet, diese meist aus Gründen der kurzzeitigen Überbelegung bestehenden Unterbringungen, unverzüglich durch Belegungsausgleiche aufzulösen. Verbesserungen der Bausubstanz und der Haftplatzversorgung sind nur mittel- und langfristig zu erzielen. Insbesondere kann die Landesregierung Planungsdefizite der vergangenen Legislaturperioden nur schrittweise ausgleichen. Ein Belegungsmanagement begleitet die laufenden und auch die geplanten Bau- bzw. Sanierungsmaßnahmen, um dadurch zu verhindern, dass (temporär) zu viele Haftplätze durch solche Maßnahmen gleichzeitig tangiert werden. Nach dem Abschluss der Grundsanierungen und Neubaumaßnahmen von Justizvollzugsanstalten wird sich der hohe Unterbringungsstandard stetig weiter verbessern und der Justizvollzug auch für die Zukunft wieder gut aufgestellt sein. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2579 3 1. Wie viele Strafgefangene (unabhängig von anhängigen Klagen) sind in Zellen untergebracht, in denen der Häftling weniger als die gesetzlich vorgeschriebenen, fünf Quadratmeter Platz hat? Bitte aufschlüsseln nach Anzahl und JVA. Die Zahl der betroffenen Gefangenen und deren Aufschlüsselung auf die einzelnen Justizvollzugsanstalten am 31. März 2018 (jüngste Stichtagserhebung) ergeben sich aus der folgenden Tabelle: Justizvollzugsanstalten Anzahl der betroffenen Gefangenen Essen 42 Hagen 7 Hamm 40 Kleve 17 Köln 20 Remscheid 34 Summe: 160 Von den betroffenen Gefangenen waren 93 wegen bestehender Suizidgefahr, 33 aufgrund ärztlicher Anordnung und lediglich 34 aufgrund temporärer Überbelegung gemeinschaftlich untergebracht. 2. Wie bewertet die Landesregierung das Versprechen von Minister Biesenbach, dass sich „mittelfristig eine entspanntere Belegungssituation ergeben werde“, wenn die für 2018 und 2019 geplanten Grundsanierungen und Neubauten von Gefängnissen abgeschlossen sind? Bitte aufschlüsseln nach Grundsanierung bestehender JVA und Neubau zu errichtender JVA mit jeweils geplantem Fertigstellungsdatum. Eine mittelfristig entspanntere Belegungssituation ergibt sich bei Annahme einer sich im Wesentlichen nicht signifikant verändernden Zahl von Gefangenen dadurch, dass nach Abschluss von Baumaßnahmen in den Jahren 2018 und 2019 eine größere Haftplatzkapazität als derzeit zur Verfügung stehen wird. Für die in Rede stehenden Baumaßnahmen in den Justizvollzugsanstalten Siegburg und Rheinbach kann nach Mitteilung des Bau- und Liegenschaftsbetriebs Nordrhein-Westfalen derzeit von folgenden Rahmendaten ausgegangen werden: Justizvollzugsanstalt Art der Maßnahme Übergabe Siegburg Grundsanierung 3. Quartal 2018 Rheinbach Neubau eines Hafthauses 2. Quartal 2019 3. Wie definiert die Landesregierung die aufgeworfene Formulierung des Justizministers einer „entspannten Belegungssituation“? Von einer entspannten Belegungssituation kann ausgegangen werden, wenn ausreichend Haftplätze für alle Gefangenen zur Verfügung stehen. Dabei müssen ausreichende Haftplatzreserven zur Verfügung stehen, um auch auf künftige Belegungsanstiege ausreichend vorbereitet zu sein. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2579 4 4. Toleriert die Landesregierung, bis zum Fertigstellungszeitpunkt nach Grundsanierung und Neubau, Menschenrechtsverletzungen, welche der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG entgegenstehen und leistet lieber jährlichen „Schadensersatz“, anstatt sich um weiter erforderlichen Aus- und Neubau von Justizvollzugsanstalten zu kümmern? Nein. 5. In welcher Höhe prognostiziert die Landesregierung den zu leistenden „Schadenersatz“ für die Folgejahre 2018 bis 2025 auf Grund eingehender Klagen, wegen fehlender Möglichkeiten zu einer menschenwürdigen Unterbringung von Strafgefangenen in NRW Justizvollzugsanstalten? Es wird erwartet, dass sich die Tendenz deutlich rückläufiger Entschädigungszahlungen im Zusammenhang mit menschenunwürdiger Unterbringung im Justizvollzug des Landes auch künftig fortsetzt.