LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/259 31.07.2017 Datum des Originals: 28.07.2017/Ausgegeben: 03.08.2017 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 29 vom 3. Juli 2017 der Abgeordneten Verena Schäffer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/62 Die „Reichsbürgerbewegung“ in Nordrhein-Westfalen Vorbemerkung der Kleinen Anfrage In nur wenigen Monaten wurde die Zahl der Personen, die zur „Reichsbürgerbewegung“ zugerechnet werden, bundesweit und auch in NRW mehrfach nach oben korrigiert. Im November 2016 ging die Landesregierung noch von 200 bis 300 Personen in NRW aus. Medienberichten zufolge liegt die Zahl heute bei 2000 Personen in NRW. Diese schnelle Entwicklung der Zahlen ist einerseits auf eine gestiegene Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden, andererseits aber auch auf ein großes Dunkelfeld sowie einen Zulauf zur Reichsbürgerbewegung zurückzuführen. Es ist auch davon auszugehen, dass das Dunkelfeld bisher nicht vollständig aufgehellt wurde. Die Größe des Dunkelfeldes ist besorgniserregend, angesichts der hohen Affinität für Waffen in der Szene und der Nicht- Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Staat. Der Ideologie der „Reichsbürgerbewegung“ zufolge bestehe das Deutsche Reich in seinen Grenzen der 1930er Jahr fort. Die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern wird häufig als GmbH bezeichnet. Somit erkennen die Reichsbürger*innen weder das geltende Recht noch das staatliche Gewaltmonopol an. Das führt dazu, dass sie fiktive Regierungen bilden und immer wieder Widerstandshandlungen gegen Beamtinnen und Beamte begehen. Auch wenn Menschen aus unterschiedlicher Motivation (bspw. das Nicht- Zahlen von Steuern und Bußgeldern) von der „Reichsbürgerbewegung“ angezogen werden, ist der Kern der Reichsbürgerideologie mit dem Bezug auf das Deutsche Reich in den Grenzen der 1930er Jahre eindeutig rechtsextremistisch. Im Oktober 2016 wurde ein Polizeibeamter von einem Reichsbürger tödlich verletzt. Nach diesem schrecklichen Zwischenfall entstand eine höhere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den Sicherheitsbehörden zum Phänomen „Reichsbürger“. In NRW wurde ein Abgleich des Waffenregisters mit Personen aus der rechtsextremen Szene und der „Reichsbürgerbewegung“ eingeleitet. Infolgedessen wurde im Falle von 30 Rechtsextremen und 77 Reichsbürgern der Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse geprüft bzw. durchgeführt (Vorlage 16/4941). LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/259 2 Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 29 mit Schreiben vom 28. Juli 2017 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und dem Minister der Justiz beantwortet. 1. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung hinsichtlich unterschiedlicher Gruppierungen, Organisationen, Mitgliederstärke sowie ideologischem Bezugsrahmen der „Reichsbürgerbewegung“ in NRW vor? Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist bundesweit gut vernetzt. Derzeit sind 2.000 Reichsbürger in NRW identifiziert, bundesweit sind es 12.600. Aufgrund der heterogenen Strukturen, einer mitunter divergierenden Ausrichtung sowie einer grundsätzlich hohen Fluktuationsrate des personellen Umfeldes kommt es nur in wenigen Fällen zu einer relevanten stabilen Organisationsstruktur. Gleichwohl findet durch die offensive Nutzung der Neuen Medien eine fortwährende Wechselwirkung mit Radikalisierungstendenzen statt. Neben den bekannten bundesweit oder zumindest mit einem solchen Anspruch agierenden Reichsbürgergruppierungen wie den Kommissarischen Reichsregierungen und ihren Derivaten haben sich in NRW folgende Gruppen etabliert: Verein AGAPE e. V. (Gelsenkirchen) Es handelt sich um einen beim Amtsgericht Gelsenkirchen eingetragenen Verein mit ca. 20 Mitgliedern, der scheinbar über einen "freiheitlich-religiösen" Charakter verfügt. Nach ersten Erkenntnissen ist ein großer Teil des Vorstands und der Mitglieder jedoch der Reichsbürgerszene zuzurechnen. Inzwischen sind polizeilicherseits Ermittlungen wegen diverser Betrugsdelikte aufgenommen worden. Erste Hinweise legen die Vermutung nahe, dass der Verein primär in krimineller Absicht gegründet wurde. Verein Bio-energetisches Leben e. V. (Duisburg) Der beim Amtsgericht Duisburg eingetragene Verein mit ca. 25 Mitgliedern widmet sich vordergründig der Unterstützung seiner Mitglieder im Rahmen einer allgemeinen Lebenshilfe. Tatsächlich wurde nach bisherigen polizeilichen Erkenntnissen auch dieses Organisationskonstrukt genutzt, um durch Überweisungsbetrug Gelder zu erschleichen; auch hier ist ein entsprechendes Ermittlungsverfahren anhängig. Bezüge zur Reichsbürgerszene ergeben sich im Wesentlichen durch die Forderung gegenüber der Gemeinde Hünxe auf Zahlung einer "Leibrente" in sechsstelliger Höhe für diverse Vereinsmitglieder. Hierbei lassen sich Parallelen zur sogenannten „Malta-Masche“ erkennen. Weiterhin wurden so genannte Landgemeinden gegründet, die szeneintern als Form der Vernetzung gelten. Justiz-Opfer-Hilfe – WAG-Justiz-Opfer-Hilfe NRW; "JOH" – (Löhne) Die Justiz-Opfer-Hilfe – auch bekannt als "Weltanschauungsgemeinschaft" (WAG) sowie "Menschenrechtsorganisation" – hat ihren Sitz nach eigener Darstellung in Rinteln / Niedersachsen, ist jedoch tatsächlich in Löhne ansässig. Dort finden sich auch die „Freikirche WAG-Aktive Christen in Deutschland" und ein „Menschenrechtsgerichtshof“. Es handelt sich jeweils um Substrukturen der JOH. Die JOH und ihre Derivate sind bundesweit bekannte und agierende Reichsbürgerorganisationen; die Bundesrepublik Deutschland und ihre Institutionen werden als staatliche Autoritäten nicht anerkannt. Mitglieder der JOH, die Adressat staatlicher Maßnahmen werden, erhalten gegen Gebühr rechtliche und organisatorische Hilfe. Das Ziel besteht in einer Einstellung oder zumindest der Lähmung von verwaltungsrechtlichen Verfahrensabläufen. Es besteht eine hohe Mitgliederfluktuation von bis zu 60 Personen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/259 3 Indigenes Volk Germaniten / Ringvorsorge Volksgruppe Germaniten (Bochum) Die Gruppierung ging aus einem kurzzeitigen Zusammenschluss der "Ringvorsorge" mit der JOH im Jahr 2010 hervor. Sie beansprucht – wie die JOH – für sich die Vertretung eines genannten Volkes der Germaniten; die Zentrale ist in Bochum ("Stadtmission"). Die Gruppe ist insbesondere durch den Versand umfangreichen Materials an Behörden per Fax im typischen Reichsbürgerduktus in Erscheinung getreten; es handelt sich hierbei um eine eher virtuelle Erscheinungsform mit nur wenigen Aktivisten. Verfassungsgebende Versammlung - Bundesstaat Deutschland (VV) Die Gruppierung ist durch mehrere Schreiben und E-Mails des "Bundesstaats Deutschland" bekannt geworden. In diesen werden reichsbürgertypische Inhalte verbreitet. Die VV betrachtet sich als einzig legitimer Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches nach Ausrufung eines Bundestaates Deutschland und Verabschiedung einer eigenen Verfassung. Die VV ist bundesweit vernetzt. Die Substrukturen untergliedern sich in "Stammtische", unter anderem in Nordrhein-Westfalen. Der Unterstützerkreis in NRW liegt bei ca. 70 Personen. Deutsche Reichsdruckerei / Präsidium des deutschen Reiches (Kaarst) Die Kleinstgruppe in Kaarst firmiert unter anderem auch unter den Bezeichnungen Bundesund Reichspräsidium, Beweissicherungsamt des Deutschen Reiches, Reichsjustizamt, und Volks-Reichstag. Auf den diversen Webseiten finden sich zahlreiche Texte mit einschlägigen Inhalten wie beispielsweise ein "Amtsblatt". Im Fokus der Aktivitäten stehen die Herstellung sowie der Vertrieb von "Ausweisdokumenten". Es handelt sich um diverse Fantasiedokumente – unter anderem einen Reichs- Personenausweis, einen Reichs-Dienstausweis oder eine Reichs-Fahrerlaubnis –, die im Internet zum Kauf angeboten werden. Schwerpunkt ist hierbei ein wirtschaftliches Interesse. Freistaat Preußen Der so genannte Freistaat Preußen betrachtet sich ebenfalls als legitimer Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Die Gruppierung bestreitet die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und deren völkerrechtliche Existenz. Korrespondierend dazu wurde ein Fantasiestaat zur „Reorganisation des Freistaates Preußen“ gegründet. Dieser vergibt Ämter und verwendet eigene Ausweise und Dokumente. Der "Freistaat Preußen" gliedert sich in die „administrative Regierung" mit Sitz in Bonn und die bundesweit nachgeordneten Provinzen mit ihren jeweiligen Vertretern. Zu diesen Provinzen zählen die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz. Auf der Homepage des „Freistaates Preußen“ werden regelmäßig Veranstaltungen unter dem Titel „Preußenrunde“ und der jeweiligen Provinz angekündigt. Diese besitzen Stammtischcharakter. Die Gruppierung ist von diversen Abspaltungen geprägt, die ebenfalls unter der Bezeichnung "Freistaat Preußen" auftreten. Funktionäre einer dieser Abspaltungen erregten mit dem Versuch eines Waffenankaufs zwecks Aufbaus einer eigenen Polizeitruppe bundesweites Aufsehen. Insgesamt ist der "Freistaat Preußen" beispielhaft für die Unbeständigkeit und die hohe Fluktuation innerhalb der Szene. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/259 4 2. In welchen Regionen in NRW treten welche Gruppierungen/Organisationen der „Reichsbürgerbewegung“ mit welchen Aktivitäten schwerpunktmäßig auf? Bei der Reichsbürgerbewegung handelt es um ein flächendeckendes Phänomen. Strukturell zeigt sich, dass dieses jedoch grundsätzlich stärker in den ländlichen Regionen verbreitet ist. Schwerpunkte bilden der Raum Ostwestfalen, Lippe, Soest, der Hochsauerlandkreis sowie der Großraum Köln. Hinsichtlich der Aktivitäten wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 3. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung zu Ordnungswidrigkeiten und Straftaten vor, die einzelne Gruppierungen, Mitglieder, Anhängerinnen und Anhänger der „Reichsbürgerbewegung“ betreffen (bitte nach Ort, Datum und Art der festgestellten Ordnungswidrigkeit bzw. Straftat auflisten)? Für die Thematik „Reichsbürger“ wurde mit Stichtag 01.01.2017 im bundeseinheitlichen Themenkatalog des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes „Politisch motivierte Kriminalität“ (KPMD-PMK) das Oberthema „Reichsbürger/Selbstverwalter“ eingeführt. Im Zeitraum 01.01.2017 bis 30.06.2017 wurden daher alle bisher gemeldeten Straftaten der PMK, die mit dem Oberthema „Reichsbürger/Selbstverwalter“ statistisch erfasst wurden, erhoben und einzeln überprüft. In diesem Zeitraum konnten polizeilicherseits bislang 20 Fälle identifiziert werden, bei denen die Beschuldigten zumindest im Verdacht stehen, den sogenannten "Reichsbürgern" anzugehören oder zumindest die dort verbreitete Ideologie zu vertreten. Einzelheiten können der Anlage entnommen werden. Ordnungswidrigkeiten sind nur in sehr eingeschränktem Maße in den polizeilichen Datenbanken recherchierbar und lassen darüber hinaus aufgrund gesetzlicher Vorgaben wie Löschungsfristen und automatisierten Anonymisierungen keine validen Aussagen zu, weshalb eine Beantwortung der Frage in dieser Hinsicht nicht erfolgen kann. Eine Auswertung der kommunalen Ordnungswidrigkeiten ist für das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen grundsätzlich nicht möglich. 4. Welche Verbindungen zwischen der „Reichsbürgerbewegung“ und rechtsextremen Gruppierungen und Organisationen sind der Landesregierung bekannt? Es liegen keine Hinweise auf strukturelle Verbindungen zwischen Reichsbürgergruppierungen und rechtsextremistischen Organisationen in Nordrhein-Westfalen vor. Die Überschneidungen beruhen neben inhaltlichen und thematischen Schnittmengen im Wesentlichen auf persönlichen Kennverhältnissen und personenbezogenen Aktivitäten. Hierbei spielt das Internet eine herausragende Rolle zur Verbreitung der Reichsbürger-Behauptungen sowie zur Motivation der Sympathisanten. Eine signifikante wechselseitige Beeinflussung auf institutioneller Ebene ist derzeit nicht gegeben. 5. Welche Erkenntnisse liegen der Landesregierung hinsichtlich der Anzahl und Art der Waffen im Besitz von Reichsbürgern sowie ihrer waffenrechtlichen Erlaubnisse vor? Eine Abfrage im Mai 2017 in den 47 Waffenbehörden in Nordrhein-Westfalen ergab, dass insgesamt 143 Personen mit waffenrechtlichen Erlaubnissen bekannt sind, bei denen Hinweise auf eine Nähe zur Reichsbürger- bzw. Selbstverwalterideologie bestehen. Angaben zu Art LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/259 5 und Anzahl der Waffen, die sich im Besitz der v. g. Personen befinden, wurden nicht erhoben. Eine erneute Auswertung, die eine Abfrage in allen Waffenbehörden impliziert, wurde nicht durchgeführt, da deren Bearbeitung den für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeitraum überschreiten würde. Anlage zur Antwort des Ministeriums des Innern Nordrhein-Westfalen auf die Kleine Anfrage 29 Tatort Tatdatum Delikt Strafnorm Dortmund 02.01.2017 Urkundenfälschung § 267 StGB Recklinghausen 03.01.2017 Nötigung § 240 StGB Leverkusen 09.01.2017 Nötigung § 240 StGB Neuss 16.01.2017 Beleidigung § 185 StGB Nümbrecht 28.01.2017 Volksverhetzung § 130 StGB Gummersbach 30.01.2017 Nötigung § 240 StGB Düsseldorf 30.01.2017 Beleidigung § 185 StGB Siegen 30.01.2017 Beleidigung § 185 StGB Siegen 30.01.2017 Straftat gegen das Bundesdatenschutzgesetz § 44 BDSG Kleve 02.02.2017 Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen § 86a StGB Siegen 22.02.2017 Nötigung § 240 StGB Dortmund 23.02.2017 Vorsätzliche einfache Körperverletzung § 223 StGB Telgte 10.03.2017 Urkundenfälschung § 267 StGB Bottrop 20.03.2017 Nötigung § 240 StGB Wuppertal 30.03.2017 Bedrohung § 241 StGB Gelsenkirchen 22.04.2017 Volksverhetzung § 130 StGB Gelsenkirchen 09.05.2017 Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes § 201 StGB Bergisch Gladbach 11.05.2017 Beleidigung § 185 StGB Mülheim 13.05.2017 Versammlungsgesetz § 21 VersG Bergneustadt 25.05.2017 Nötigung § 240 StGB