LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/2644 17.05.2018 Datum des Originals: 17.05.2018/Ausgegeben: 23.05.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 985 vom 19. April 2018 des Abgeordneten Alexander Langguth FRAKTIONSLOS Drucksache 17/2430 Immer längere und frühere Fremdbetreuung unserer Kinder: Weiß die Landesregierung, was gut für unsere Kinder ist? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Landesregierung hat mit Schreiben vom 09. Januar 2018 auf meine Kleine Anfrage 601 (Entwicklung und Folgen der Ganztags- und U3-Betreuung in Nordrhein-Westfalen) vom 07. Dezember des vergangenen Jahres geantwortet. In den Vorbemerkungen meiner Fragen habe ich u.a. darauf hingewiesen, daß die Lebensrealitäten vieler Familien sich beruflich dahingehend geändert haben, daß die Flexibilisierung der Kinderbetreuung durch die Politik eine notwendige Konsequenz dieser sich stetig ändernden Arbeitswelt ist. Durch vielschichtige und oft nicht beeinflussbare arbeitsmarkt- und sozialpolitische Umstände sind Eltern leider häufig auch im U3-Alter der Kinder – unabhängig davon, ob alleinerziehend oder in einer intakten Familie lebend – auf diese Betreuungsangebote angewiesen. Das soll an dieser Stelle jedoch unbewertet bleiben. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für die ein- und zweijährigen Kinder im Jahr 2013 hat die Bundesregierung diese Entwicklung noch einmal nachhaltig gefördert und so erleben die Träger der Einrichtungen seitdem einen stetigen Anstieg der zu beaufsichtigenden Kinder auch bereits im kleinsten Alter. Die Landesregierung bestätigt in ihrer Antwort sodann erwartungsgemäß den seitdem stetigen und somit erheblichen Ausbau des Betreuungssystems und führt weiter aus, daß diese Entwicklung an den Bedarfen junger Familien zur Nutzung der Betreuungsangebote ausgerichtet sei. Weiter heißt es in der Antwort, daß der Besuch einer Kindertageseinrichtung (!) damit heute selbstverständlich (!) zum Lebensalltag von Familien und ihren Kindern gehöre. Hier wird allgemein ausgeblendet, daß die Ideologie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu dieser Ansicht geführt hat. Dieser Mythos geht im Alltag jedoch nur zu Lasten der Kinder. Fasst man die Antwort(en) der Landesregierung auf meine dezidiert auf das Wohl unserer Kinder ausgerichteten Fragen zusammen, so muß man den Eindruck gewinnen, daß auch die NRW-Landesregierung nur einer Entwicklung hinterherläuft, die augenscheinlich als LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2644 2 unumkehrbar anerkannt bzw. hingenommen wird. Mit dem Verweis auf die frühkindliche Bildung (also Bildung im U3-Alter!), die – wenn man dem Unterton der Antwort konsequenterweise folgt – möglichst keinem Kind vorenthalten werden dürfe, um dessen eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit zu fördern, zieht sich die Landesregierung auf Allgemeinplätze und nicht verwertbare Antworten zurück. Frühkindliche Bildung kann jedoch nur im Schutz einer funktionierenden Familie stattfinden; nur hier werden in den ersten drei Jahren die Grundlagen für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung gelegt. Also ist die Unterstützung der Erziehungsleistung von Eltern vornehmliche Aufgabe der Politik und nicht das 100%ige Bereitstellen der risikobehafteten institutionellen Erziehung. Die Fragen 3. und 4. werden überhaupt gar nicht beantwortet und so muß man den Eindruck gewinnen, daß sich das Familienministerium dieser Zusammenhänge entweder nicht bewusst ist oder gar bewusst ausblendet. Anders sieht es jedoch aus, wenn man mit den Erzieherinnen und anderen Angestellten der Einrichtungsträger spricht, die sich mit Kritik an dieser Entwicklung aus Angst vor einem regelrechten bildungspolitischen Pranger teilweise schon nicht mehr offen zu Wort melden. Denkt man diese Entwicklung konsequent weiter und hält Ausblick auf die kommenden Jahre, steht sie letztendlich dem Artikel 6 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Wege, der ganz eindeutig die Pflege und Erziehung der Kinder als das natürliche Recht und auch die Pflicht (!) der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht definiert. Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 985 mit Schreiben vom 17. Mai 2018 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Welche Handlungsnotwendigkeiten leitet die Landesregierung aus der Feststellung ab, dass die entscheidende Bindungsphase in den ersten drei Jahren des Kindes in der Regel zur Mutter von besonderer Relevanz ist? Eine besondere Form der Sozialbeziehungen stellen Bindungsbeziehungen dar. Diese werden in der Regel im unmittelbaren Familienkreis erworben. Sie zeichnen sich durch emotionale Sicherheit und Vertrautheit aus und entstehen darüber hinaus nur mit wenigen Personen. Hierbei wird der Eltern-Kind-Bindung eine besondere Bedeutung als primäre Bindungsbeziehung beigemessen. Durch wissenschaftliche Untersuchungen konnte allerdings nachgewiesen werden, dass Menschen von Geburt an als soziale Wesen agieren und nicht auf nur eine Einzelperson ausgerichtet sind. Daher können sich schon Babys ohne Probleme bei mehreren Bezugspersonen sicher fühlen. Aus diesem Grund sind auch Kleinkinder schon dazu in der Lage, eine signifikante Beziehung zu ihren Erzieherinnen bzw. Erziehern in der Kindertagesbetreuung aufzubauen. Belegt werden kann auch, dass es nicht auf die ununterbrochene Betreuung durch die Eltern, sondern vielmehr auf die Qualität der Bindung des Kindes zu den Eltern ankommt. Die Bildungs- und Erziehungsarbeit in der Kindertagesbetreuung ergänzt die Förderung des Kindes in der Familie und die Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung unterstützen im Rahmen einer guten Erziehungs- und Bildungspartnerschaft die Familien in ihrer Erziehungsverantwortung. Hier bedarf es guter Rahmenbedingungen. Diese gemeinsam mit den handelnden Akteuren zu verbessern ist wichtiges Anliegen der Landesregierung. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2644 3 2. Warum ignoriert die Landesregierung die Vielzahl der Krippenstudien, die alle die Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten bei zu früher und zu langer Fremdbetreuung festgestellt haben? Die wenigen Studien, die das Gegenteil behaupten, sind nachweislich wissenschaftlich nicht korrekt (Bertelsmann-Studie von 2008, Dresdner Studie von 2015). Der Lebensalltag von Familien und Kindern gestaltet sich äußerst vielfältig und ist grundsätzlich individuell verschieden. Grundsätzlich kann aber festgestellt werden, dass heute der Besuch einer Kindertageseinrichtung wie selbstverständlich dazu gehört, wozu neben der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf hierzu ganz entscheidend die wachsende Bedeutung der frühkindlichen Bildung beigetragen hat. Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege haben einen umfassenden und ganzheitlichen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag. Im Mittelpunkt steht damit immer das Wohlergehen des Kindes, seine gesamte Entwicklung und seine qualitätsvolle alters- und entwicklungsentsprechende Bildung, Erziehung und Betreuung. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte ein positiver Effekt der frühkindlichen Bildung auf das Sozialverhalten von Kindern, ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihren Bildungsweg nachgewiesen werden. Zudem haben eine Reihe von Forschungsarbeiten aufzeigen können, dass ein Entwicklungsrisiko in Folge einer außerfamiliären Betreuung mit guter Qualität nicht gegeben ist. Sofern auf die Notwendigkeit qualitätsvoller Betreuung hingewiesen wird, wird dies seitens der Landesregierung nicht ignoriert. Dies gilt im Übrigen für alle Länder und auch den Bund, die sich im Qualitätsentwicklungsprozess „Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern“ intensiv mit den Dimensionen guter Qualität auseinandergesetzt und sich gemeinsam zum Ziel gesetzt haben, die Qualität in der frühkindlichen Bildung weiter zu verbessern. Die Landesregierung teilt nicht die tendenziöse Auffassung, dass Studien, die die vielfältigen positiven Effekte guter Kindertagesbetreuung verdeutlichen, nachweislich wissenschaftlich nicht korrekt sind. Letztendlich gilt, die Bedürfnisse von jungen Familien in der heutigen Zeit ernst zu nehmen und diese bei der Realisierung ihrer Lebensplanung bestmöglich zu unterstützen. Frauen und Männer möchten berufstätig sein und Kinder haben. Dieser Wunsch lässt sich nur mit entsprechenden Betreuungsangeboten realisieren. Daher setzt sich die Landesregierung für den weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau von Betreuungsplätzen sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein. 3. Sämtliche Studien zeigen eindeutig, dass die frühe Krippen- und Ganztagsbetreuung ausschließlich den Kindern nutzt, die aus schwierigen Familienverhältnissen stammen. Beabsichtigt die Landesregierung diese Erkenntnisse in erforderlichem Maße vor allem in der Frage des Kita-Ausbaus in NRW zu berücksichtigen? In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte ein positiver Einfluss der frühkindlichen Bildung auf den Bildungsweg belegt werden. Betrachtet man diese Untersuchungsergebnisse noch einmal differenzierter, so verbessern sich die Bildungschancen benachteiligter Kinder durch den frühen Besuch einer Kindertageseinrichtung. Solche Erkenntnisse fließen in die Arbeit der Landesregierung selbstverständlich mit ein. Beispielsweise erhalten Kindertageseinrichtungen, die in hohem Maße Kinder mit besonderem LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2644 4 Unterstützungs- und Förderbedarf betreuen, Mittel für zusätzliche Sprachförderung und für plusKITAS. Diese Mittel leisten damit einen ganz wesentlichen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit in der öffentlich geförderten Kindertagesbetreuung. Letztlich gilt die auch bereits im Koalitionsvertrag verankerte Zielsetzung, dass die Verbesserung der frühkindlichen Bildung im Fokus der neuen Landesregierung steht. Zentrales Ziel der Landesregierung ist es daher, die Bildungschancen von Kindern – unabhängig von ihrer Herkunft – zu verbessern. Allen Kindern in Nordrhein-Westfalen sollen gute Startchancen ermöglicht und Perspektiven für einen erfolgreichen Lebensweg eröffnet werden. Dabei ist eine starke frühkindliche Bildung und Betreuung unverzichtbar. 4. Warum klärt die Politik Eltern nicht (z.B. in Form von Aufklärungskampagnen) darüber auf, dass frühkindliche und zu lange tägliche Fremdbetreuung mit Risiken verbunden ist und übergibt damit wieder die Verantwortung den Eltern? Der nordrhein-westfälischen Landesregierung ist es ein großes Anliegen, sich insbesondere für das Wohl von Kindern und ihrer Familien einzusetzen. Hierzu gehören neben der Bereitstellung von Betreuungsplätzen daher auch Maßnahmen, die die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern. Aus Sicht der Landesregierung ist es ein Zusammenspiel vieler Faktoren, das ein erfolgreiches und glückliches Aufwachsen von Kindern und ein harmonisches Familienleben in unserer Gesellschaft ermöglicht. Hierbei steht das Wohlergehen der Kinder immer im Vordergrund. Daher ist es der Landesregierung neben dem quantitativen Ausbau von Betreuungsplätzen sehr wichtig, auch die Qualität in der Betreuung zu verbessern. Allerdings sind und bleiben Eltern Experten in Bezug auf ihre Kinder. Die Auffassung, dass Eltern nicht in eigener Verantwortung und in einer guten Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Fachkräften der Kindertagesbetreuung darüber entscheiden, in welchem Umfang und ab welchem Alter Angebote der Kindertagesbetreuung genutzt werden, teilt die Landesregierung nicht. 5. Angesichts bundesweit über 100.000 unbesetzter Erzieherstellen ergibt sich bereits jetzt in der frühkindlichen Fremdbetreuung ein unbefriedigender Betreuungsschlüssel. Wie wird die Landesregierung mindestens den aktuellen Betreuungsschlüssel und die vorliegende Qualität halten, wenn die politischen Beschlüsse auf einen weiteren Ausbau der Betreuungszeiten (z.B. durch die sog. Randzeitenbetreuung) hinauslaufen? Nach der aktuellsten Veröffentlichung des Bundesamtes für Statistik (02/2018) liegt Nordrhein- Westfalen beim Personalschlüssel in allen betrachteten Gruppenarten im oberen Mittelfeld. In der Gruppe der Kinder im Alter von null bis unter drei Jahren liegt NRW mit einem Personalschlüssel von 1:3,7 deutlich besser als der bundesweite Durchschnitt mit 1:4,3 und damit im Vergleich mit den anderen Ländern gemeinsam mit Bayern und Schleswig-Holstein auf Platz 4. In der Gruppe der Kinder im Alter von 2 bis unter 8 Jahren liegt NRW mit einem Personalschlüssel von 1:8,1 im Bundesvergleich gemeinsam mit Schleswig Holstein auf Platz 5. Trotz der vergleichbar guten Situation hat die Landesregierung das Ziel, die Rahmenbedingungen in der Kindertagesbetreuung gemeinsam mit den beteiligten Akteuren weiter zu verbessern. Hierzu gehören insbesondere die Beseitigung der strukturellen LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2644 5 Unterfinanzierung und damit die Sicherstellung einer auskömmlichen Finanzierungsgrundlage. Allerdings steigt mit dem quantitativen und qualitativen Ausbau der Bedarf an gut qualifiziertem Personal erheblich an. Insbesondere die demographische Entwicklung und steigende Betreuungsbedarfe werden hier eine weitere große Herausforderung darstellen. Eine verlässliche Finanzierung kann dazu beitragen, dass sich noch mehr junge Menschen für den Erzieherinnen- und Erzieher-Beruf entscheiden. Derzeit arbeiten rund 111.200 Beschäftigte in den nordrhein-westfälischen Kindertageseinrichtungen (Quelle: KJH-Statistik 1.03.2017). In den vergangenen zehn Jahren sind in NRW insgesamt rund 34.000 Beschäftigte in Kitas hinzugekommen − dies entspricht einer Steigerung in Höhe von rund 44 Prozent. Zugleich zeigen die wachsenden Zahlen der Auszubildenden für den Erzieherberuf, dass der Beruf bei jungen Menschen kontinuierlich hohen Zuspruch erfährt. Innerhalb von zehn Schuljahren (2007/2008 - 2016/2017) ist in NRW die Zahl der jungen Menschen in Erzieherausbildung um rund 9.000 Personen angestiegen, was einer Steigerung von rund 56 Prozent entspricht. Mit den derzeitigen Ausbildungskapazitäten können derzeit nicht nur die Berufsaustritte ersetzt, sondern auch Personalressourcen aufgebaut werden – auch in den nächsten Jahren. An den nordrhein-westfälischen Fachschulen für Sozialpädagogik wird auf hohem Niveau für den Beruf der Erzieher ausgebildet. Zum Teil erfolgt die Ausbildung dabei auch in praxisintegrierter Form. Die Landesregierung analysiert kontinuierlich, welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Fachkräftemehrbedarf decken zu können. Dabei muss sowohl bei der Ausbildung für mehr Attraktivität gesorgt werden, als auch die Rahmenbedingungen verbessert werden.