LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/2719 29.05.2018 Datum des Originals: 29.05.2018/Ausgegeben: 04.06.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1023 vom 26. April 2018 des Abgeordneten Markus Wagner AfD Drucksache 17/2515 Alcatraz lässt grüßen? Marode Gefängnisse, Parallelgesellschaften und organisierte Kriminalität in NRW. Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Die Westfalenpost (WP) vom 25.04.18, berichtet in ihrer Onlineausgabe1, dass dem Justizvollzug in Deutschland der Kollaps drohe. Der Vorsitzende des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD) wird mit den Worten zitiert: „..der Justizvollzug ist zurzeit komplett überlastet..“. Es fehle an Personal und an Haftplätzen. Viele Anstalten seien baufällig. Wie das 1861 eingerichtete, berühmteste US-Gefängnis Alcatraz, welches bereits 1963 stillgelegt wurde, unterhält das Land NRW immer noch Justizvollzugsanstalten (JVA), aus der Epoche des Jugendstils. So die JVA in Werl, welche im Jahr 1906 errichtet und am 1. Juli 1908 als Königlich-Preußisches Zentralgefängnis in Betrieb genommen wurde. Bis auf wenige Modernisierungen befindet sich die JVA Werl (ohne Sicherungsverwahrung), in einem musealen, aus der Jahrhundertwende stammenden Originalzustand. Der Drogenkonsum und der illegale Handel florieren. Gefangene greifen Beamte an – und würden, so die Westfalenpost, umgekehrt von Stationsleitern gemobbt. Zudem saßen Anfang 2018 in NRW- Gefängnissen 34 Islamisten – gegenüber sechs im Jahr 2012. Ende 2017 saßen bundesweit 64.351 Menschen in Haft, zehn Prozent mehr als 2012 (58.073). Allein Nordrhein-Westfalen (15.698) und Bayern (11.612) „beherbergen“ 42 Prozent aller Gefangenen. Schon bei einer Auslastung zwischen 85 und 90 Prozent sprechen Fachleute von einer Vollbelegung, da es immer vorkommen kann, dass Teile einer Anstalt gesperrt oder renoviert werden. In vielen Gefängnissen stünden zwei Betten in Zellen, wo vorher ein Inhaftierter gelebt habe. Damit sei die Haftkapazität „durch die kalte Küche“ erhöht worden. Die Doppelbelegung sei an der 1 https://www.wp.de/politik/ueberlastung-justizvollzug-in-deutschland-droht-derinfarkt -id214112573.html LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2719 2 Tagesordnung“. In Nordrhein-Westfalen kommen auf einen JVA-Bediensteten 1,9 Gefangene. Doch spiegelten diese Zahlen nicht den allgemeinen Vollzugsdienst wider so der BSBD- Vorsitzende. Ein Gefängnis sei wie eine Kleinstadt. Es gebe eine Sicherungsgruppe, Revisions- und Besuchsabteilung, Bedienstete in Betrieben, Kammern und Küchen, an Pforten und Schleusen. Die Folge sei, dass ein JVA-Bediensteter gelegentlich bis zu 70, 80 Gefangene betreuen müsse. 2017 registrierte Nordrhein-Westfalen 72 Tätlichkeiten gegen Bedienstete gegenüber 34 im Jahr 2016. Unter diesen Begriff fallen vollendete vorsätzliche Körperverletzungen, Geiselnahmen und Freiheitsberaubungen. Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber JVA- Bediensteten sind hierbei nicht erfasst. Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 1023 mit Schreiben vom 29. Mai 2018 namens der Landesregierung beantwortet. 1. Zu wieviel Prozent waren / sind die NRW-Justizvollzugs-anstalten von 2015 bis Stand heute ausgelastet? Bitte aufschlüsseln nach JVA und Auslastung, so wie monatlicher Auslastung in Prozent (nicht Jahresdurchschnitt samt Weihnachtsamnestie berechnen). Die prozentualen Auslastungen ergeben sich aus dem anliegenden Tabellenwerk. 2. Wird die Landesregierung den Verurteilungsprognosen folgen und neue Justizvollzugsanstalten errichten? (Bitte aufschlüsseln nach Zeitplan, Standort und Kapazität.) Das Justizvollzugsmodernisierungsprogramm sieht den Neubau von 4 Justizvollzugsanstalten in Willich, Münster, Iserlohn und Köln mit 2.748 Haftplätzen vor. Den Stand der Bauzeitenplanungen der JVMoP-Einzelprojekte enthält die Vorlage 17/357 vom 04.12.2017; neue Bauzeitenpläne wurden vom BLB NRW noch nicht vorgelegt. Dessen ungeachtet unterliegt die Entwicklung des Haftplatzbedarfs einer laufenden Beobachtung; weitere notwendige bauliche Maßnahmen werden erforderlichenfalls eingeleitet werden. 3. Aus wie vielen Einzelunterbringungen wurde eine Doppelbelegung aus Haftplatzkapazitätsgründen? (Bitte aufschlüsseln nach Anzahl je JVA von 2015 bis heute.) Die Justizvollzugsanstalten erheben lediglich die Anzahl der Fälle, in denen ein Haftraum mit mehr Personen als zugelassen belegt wird. Hierbei handelt es sich insbesondere um vollzuglich zwingende Fälle einer gemeinschaftlichen Unterbringung gerade aus Gründen der Suizidprophylaxe oder aus Gründen einer ärztlichen Anordnung, sowie auch aus Gründen der Überbelegung. Hierbei wird jedoch nicht erhoben, ob aus Gründen der Haftplatzkapazität aus einer Einzelunterbringung eine Doppelbelegung wurde. Diese Daten sind in einer für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeitrahmen mit einem vertretbaren Aufwand nachträglich nicht zu ermitteln. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkungen zur Beantwortung der Kleinen Anfrage 959 (LT-Drucksache 17/2579 vom 09.05.2018) verwiesen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2719 3 4. Wie werden die Anfang 2018 in NRW-Gefängnissen einsitzenden, bislang 34 Islamisten (gegenüber sechs im Jahr 2012) voneinander getrennt und kontrolliert, um Netzwerktätigkeiten und Anwerbeversuche muslimischer Mitgefangener zu unterbinden? Bei Gefangenen, die dem islamistischen bzw. salafistischen Umfeld zugerechnet werden müssen, wird sichergestellt, dass von ihnen keine Gefahren für andere Häftlinge ausgehen. Radikalisierte Gefangene werden grundsätzlich von Mitgefangenen getrennt, indem sie in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten des Landes auf baulich voneinander getrennten Abteilungen untergebracht werden. Ihr Brief- und Besuchsverkehr unterliegt der sorgfältigen Überwachung, ggf. mit Amtshilfe der zuständigen Polizeibehörden. 5. Welche Maßnahmen wird die Landesregierung zum Schutz der JVA-Bediensteten ergreifen? Bitte aufschlüsseln nach persönlicher Schutzausstattung, Fortbildung, dienstliche Anerkennung von Selbstverteidigungskursen u. a Körperschutzausstattung Eine Körperschutzausstattung schützt Oberkörper, Arme und Beine sowie den Unterleib vor mechanischer Gewalteinwirkung wie Schlägen. Sie besteht aus einer Schutzweste und zusätzlichen Protektoren sowie einem Kopfschutz und wird im Justizvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen vorgehalten. Zusätzlich stehen Schutzschilde zur Verfügung. Aus- und Fortbildung der Bediensteten In Justizvollzugseinrichtungen werden Menschen in aller Regel gegen ihren Willen untergebracht. Bereits daraus resultieren viele problembelastete und oftmals schwierige Konflikt- und Alltagssituationen, mit denen sich die Bediensteten in den Justizvollzugseinrichtungen konfrontiert sehen. Insbesondere sind die Angehörigen des allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) rund um die Uhr mit der Betreuung, Versorgung und Beaufsichtigung der Inhaftierten befassten schwierigen Konfliktsituationen besonders häufig ausgesetzt. Das gilt im Übrigen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Werkdienstes (WD). Bereits jetzt befähigen spezielle Unterrichtsinhalte in der Ausbildung dieser beiden Laufbahnen und geeignete Fortbildungsmaßnahmen zu einem professionellen Umgang mit Konfliktsituationen und Gewalt im Strafvollzug. Die Bediensteten werden im Rahmen ihrer Ausbildung über Erscheinungsformen, Ausprägungen und Mechanismen feindlicher Gesinnung geschult und darauf vorbereitet, dieser im späteren Berufsalltag angemessen zu begegnen. Darüber hinaus werden die Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes und des Werkdienstes in Deeskalation und Sicherungstechniken sowie Waffenkunde ausgebildet. Damit sind sie in der Lage, in einer konkreten Situation angemessen auf Interventionen zu reagieren. Sie sind damit dafür ausgebildet und im Stande, sich deeskalierender Maßnahmen zu bedienen, unmittelbaren Zwang anzuwenden und Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu ergreifen, ohne dabei die Eigensicherung außer Acht zu lassen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2719 4 Um auch Angehörige der übrigen Berufsgruppen des Justizvollzugs in die Grundlagen der Deeskalation und des Gewaltschutzes einzuweisen, wurde ein Konzept für Deeskalationsschulungen entwickelt. Das Konzept folgte der Grundidee, dass frühzeitige Deeskalation vorbildlich schwierige Kommunikationssituationen lösen und gewaltsame Übergriffe verhindern kann und damit positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden der Bediensteten und der Gefangenen einwirkt. Auf Grundlage dieses Konzeptes werden seit dem Jahr 2015 regelmäßige Fortbildungen für die Dienstanfängerinnen und Dienstanfänger aller Laufbahnen (außer AVD und WD, die - wie oben beschrieben - in dieser Sache besonders ausgebildet werden) angeboten, die aus dem Geschäftsbereich auch stark nachgefragt werden. Die Nachwuchskräfte des Vollzugs- und Verwaltungsdienstes der Laufbahngruppe 2.1 werden im Rahmen ihres fachwissenschaftlichen Studiums sowie während des Studiums an der Fachhochschule für Rechtspflege im Fach Kommunikation auf eine situationsgerechte und deeskalierende Gesprächsführung und Handlungsweisen vorbereitet. Darüber hinaus sollen sie künftig in der Zeit der fachpraktischen Ausbildung ebenfalls an den vorgenannten Schulungsnahmen zur Deeskalation und zum Gewaltschutz teilnehmen. Verbesserung interkultureller Kompetenzen Um das Personal auf Problemlagen vorzubereiten, die sich aus der zunehmenden Anzahl ausländischer Gefangenen in den Justizvollzugseinrichtungen ergeben können, wurde in der Vergangenheit und wird auch weiterhin der Förderung der interkulturellen Kompetenz der Justizvollzugsbediensteten wie auch der Gefangenen besonderes Augenmerk gewidmet. Dafür sind folgende Maßnahmen ergriffen worden: In allen Justizvollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen gehen inzwischen auch Integrationsbeauftragte, die als Kulturmittler fungieren, ihrer Arbeit nach. Hierfür wurden insgesamt 45 Stellen für den Sozialdienst und den allgemeinen Vollzugsdienst bereitgestellt. Diese Bediensteten stehen einerseits als Ansprechpartner bei Fragen des Vollzugsalltags beratend zur Seite, tragen andererseits aber auch zur Lösung von Konflikten bei, die ihren Ursprung in Differenzen aufgrund kultureller Unterschiede haben. Zu den Aufgaben der Integrationsbeauftragten zählen u.a. die Erstellung einer Informationssammlung zur Nutzung durch alle in der Institution beschäftigten Bediensteten, die interkulturelle Beratung der Bediensteten sowie die Mitwirkung bei der Durchführung und Organisation von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen in Kooperation mit den Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für interkulturelle Kompetenz. Um die interkulturelle Kompetenz der Gefangenen zu fördern, werden unterschiedliche Formen von Integrationskursen, die sich an den Bedürfnissen und den zeitlichen Rahmenbedingungen der Gefangenen orientieren, in den Justizvollzugsanstalten angeboten. Hierzu wurde der pädagogische Dienst in den Justizvollzugsanstalten um insgesamt 26 Stellen für hauptamtliche Lehrerinnen und Lehrer verstärkt. In den Integrationsmaßnahmen erfolgt neben einer sprachlichen Qualifizierung auch die Vermittlung von Kenntnissen grundlegender Werte der Gesellschaft sowie Kenntnisse der Rechts- und Werteordnung, Geschichte und Kultur wie auch der politischen Institutionen in Deutschland. Dies erleichtert den Gefangenen das Zurechtfinden in der neuen Gesellschaft, schafft Identifikationsmöglichkeiten und bildet eine Basis für eine gelungene Integration in die hiesige Gesellschaft. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2719 5 Zur Verbesserung der Handlungssicherheit der Bediensteten wurden bereits ab Ende des Jahres 2016 zahlreiche Fortbildungen (Grund- und Aufbaukurse) für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zum Themenbereich „Interkulturelle Kompetenz“ sowie zu ergänzenden Themenkomplexen (z.B. „Rassismus“, „Kulturelle Vielfalt“, „Proxemik“) durchgeführt, in denen die Integrationsbeauftragten wie auch die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus den Justizvollzugseinrichtungen geschult wurden. Sie werden in Inhouse-Veranstaltungen in den Vollzugseinrichtungen das Wissen an weitere Kolleginnen und Kollegen vermitteln.