LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/2779 07.06.2018 Datum des Originals: 06.06.2018/Ausgegeben: 12.06.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 955 vom 4. April 2018 der Abgeordneten Dr. Dennis Maelzer, Ellen Stock, Jürgen Berghahn, Christian Dahm, Angela Lück, Christina Weng, Regina Kopp-Herr, Georg Fortmeier und Christina Kampmann SPD Drucksache 17/2352 Arbeitsplatzsicherheit für Beschäftigte in Landeseinrichtungen für Geflüchtete. Wie steht die Landesregierung zu den Gewerkschaftsvorschlägen? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Bei einem Betreiberwechsel in Landeseinrichtungen für Flüchtlinge kommt es regelmäßig zu arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen unter anderem um die Frage, ob ein Betriebsübergang vorliegt und damit eine Weiterbeschäftigungspflicht des bisherigen Personals besteht. Die Gewerkschaft Ver.di in Ostwestfalen-Lippe hat vor diesem Hintergrund bereits am 18. Dezember 2017 dem Flüchtlingsministerium als auch im weiteren Verlauf dem Arbeitsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen eine „Regelung zur Sicherung der Kontinuität der Leistungserbringung und Verhinderung von Arbeitslosigkeit bei Betreiberwechseln in Landeseinrichtungen für geflüchtete Menschen in Nordrhein-Westfalen“ vorgeschlagen. Auf eine Antwort wartet die Gewerkschaft nach eigenen Angaben bis heute vergeblich. Die Regelung soll aus Sicht der Gewerkschaft folgende Punkte umfassen: (1) Bei einem Betreiberwechsel durch Neuvergabe bzw. Ausschreibung hat der neue Auftragnehmer den Beschäftigten im Rahmen des ausgeschriebenen Auftragsvolumens ein Angebot, mindestens auf Basis der bisherigen Arbeitsbedingungen (z. B. Beschäftigungszeiten, Urlaubsregelung, Entgelt, Eingruppierung) zu unterbreiten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2779 2 (2) Ist das neue ausgeschriebene Auftragsvolumen nachweislich geringer, so dass die Übernahme aller Beschäftigten nicht möglich ist oder nicht genügend Stellen mit entsprechender Qualifikation vorhanden sind, so sind die Kriterien für die Sozialauswahl, für ein Angebot nach Abs. 1, im Sinne des § 1 Abs. 3 KSchG anzuwenden. (3) Die Regelung des § 613 a BGB bleiben unberührt. Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 955 mit Schreiben vom 6. Juni 2018 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Das Land Nordrhein-Westfalen hat ein großes Interesse an einer zuverlässigen und fachlich optimalen Betreuung der geflüchteten Menschen, die in den zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes untergebracht sind. Für diese herausfordernde Aufgabe bedarf es gut ausgebildeter, zuverlässiger und motivierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dem Land als Auftraggeber ist es auch daher wichtig, dass die Beschäftigten in den zentralen Unterbringungseinrichtungen von ihren Arbeitgebern leistungsgerecht entlohnt und arbeitsrechtliche Vorschriften beachtet werden. Die Landesregierung hat daher Beschwerden von Gewerkschaften und Beschäftigten stets ernst genommen, die Prozesse durch Gespräche begleitet und intensiv geprüft, welche Einflussmöglichkeiten für die Landesregierung als Auftraggeber der Betreuungsdienstleistungen im Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse bestehen. Auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage 797 (LT-Drucksache 17/1943) sowie den Bericht der Landesregierung vom 19. Januar 2018 in der Sitzung des Integrationsausschusses am 24. Januar 2018 (Vorlage 17/463) wird insoweit verwiesen. Den Möglichkeiten der Einflussnahme sind jedoch durch europarechtliche und vergaberechtliche Vorgaben sowie den verfassungsrechtlich geschützten Grundsatz der Tarifautonomie Grenzen gesetzt. Diese waren bei den in den Jahren 2016 und 2017 durchgeführten Vergabeverfahren für Betreuungsdienstleistungen in Landeseinrichtungen und sind bei der Gestaltung der Umsetzung neuer Verträge zu beachten. Die Landesregierung nutzte und nutzt ihr zur Verfügung stehende rechtliche Spielräume im Sinne der Menschen, die in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht sind und dort arbeiten. So erfolgt die Auswahl des Betreuungsdienstleisters vor allem unter Berücksichtigung der Qualität der vorzulegenden Konzepte für die ausgeschriebene Dienstleistung (u.a. Organisations- und Betriebskonzept, Betreuungskonzept, Beschäftigungskonzept, Schulungsund Fortbildungskonzept für die Beschäftigten, Einbindungskonzept Ehrenamt). Die Qualitätsanforderungen auch im Hinblick auf die Qualifikation der einzusetzenden Beschäftigten und ihrer Fortbildung werden fortlaufend weiterentwickelt. Gleichzeitig wird in den Ausschreibungen betont, dass sich der Auftragnehmer verpflichtet, Personal möglichst langfristig bei dem Auftraggeber einzusetzen. Dies ist auch ein Signal an potentielle Auftragnehmer, dass dem Land gute Arbeitsbedingungen wichtig sind. Konkret werden bei der Entscheidung über die Vergabe zu 60 Prozent die Qualität und nur zu 40 Prozent der Preis berücksichtigt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2779 3 Um die Qualität der Betreuung zu sichern und im Sinne der (künftig) bei den Auftragnehmern Beschäftigten wurden - auch nach den Hinweisen der Gewerkschaften - in der Leistungsbeschreibung der sogenannten zweiten Vergabestaffel ausdrücklich Tätigkeitsmerkmale für die entsprechenden (sozial-) pädagogischen Fachkräfte aufgenommen und die geforderte Qualität des Personals konkretisiert. Gegenüber den Bietern wurde zum Ausdruck gebracht, dass der Auftraggeber eine leistungsgerechte Vergütung in der Angebotskalkulation begrüßt. Selbstverständlich erwartet die Landesregierung von Auftragnehmern des Landes, dass arbeitsrechtliche Vorgaben beachtet werden. Dazu gehört auch die Regelung des § 613a BGB zum Betriebsübergang Die Landesregierung ist daran interessiert, dass der zu den Fragestellungen im Zusammenhang mit Vergabeverfahren für Landeseinrichtungen geführte konstruktive Dialog mit allen Beteiligten lösungsorientiert fortgesetzt wird. 1. Wie bewertet die Landesregierung den Vorschlag für eine „Regelung zur Sicherung der Kontinuität der Leistungserbringung und Verhinderung von Arbeitslosigkeit bei Betreiberwechseln in Landeseinrichtungen für geflüchtete Menschen in Nordrhein-Westfalen“? 2. Im Zuge der Diskussion um den Betreiberwechsel an der ZUE Oerlinghausen hat es mehrere inzwischen rechtskräftige Urteile gegeben, die einen Betriebsübergang bei Betreiberwechsel bestätigt haben und damit ein Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses zur Folge hatten. Inwieweit hat die Landesregierung mit einer Änderung der Ausschreibungsverfahren auf diesen Umstand reagiert? 3. Bei dem Betreiberwechsel der ZUE in Oerlinghausen kam es zu Auseinandersetzungen zwischen dem Betreiber und der zuständigen Gewerkschaft unter anderem über die tarifliche Eingruppierung der Beschäftigten. Das Land hat sich hier moderierend zugunsten der Beschäftigten eingebracht. Bei dem Betreiberwechsel der ZUE in Herford kommt es ebenfalls zu arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen. Wie bewertet die Landesregierung nun diesen Betriebsübergang? Wegen des Sachzusammenhangs werden die Fragen 1 bis 3 zusammen beantwortet. Der in der Kleinen Anfrage thematisierte Vorschlag des Sekretärs der Gewerkschaft ver.di in Ostwestfalen-Lippe wurde der Arbeitsebene des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration im ebenfalls in der Kleinen Anfrage erwähnten Termin im Dezember 2017 als handschriftliche Ideenskizze überreicht (und im Nachgang zu dem Gespräch zusätzlich dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales per Email übermittelt). Dies war verbunden mit der Bitte, den Vorschlag zu prüfen und ggf. in die nächste Vergabestaffel einzubeziehen. Hinsichtlich dieses Besprechungstermins wird auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage 797 (LT-Drucksache 17/1943) sowie den Bericht der Landesregierung vom 19. Januar 2018 in der Sitzung des Integrationsausschusses am 24. Januar 2018 verwiesen (Vorlage 17/463). Die zugesagte Prüfung der Ideenskizze ist entsprechend der Intention des Verfassers durch das für das Vergabeverfahren im Rahmen der Fachaufsicht zuständige Ministerium für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration erfolgt und ergab folgendes Ergebnis: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2779 4 Der Vorschlag lässt sich insbesondere aus vergaberechtlichen Gründen nicht umsetzen. Der Vorschlag der Gewerkschaft zielt im Kern auf die Herbeiführung der vergleichbaren Rechtsfolgen eines gewillkürten (vertraglichen) Betriebsübergangs ab – auch wenn über die salvatorische Klausel ausdrücklich die Anwendung des § 613 a BGB unberührt bleiben soll. Bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen sind dem Auftraggeber enge Grenzen gesetzt. Bei der Anordnung eines fiktiven Betriebsübergangs in einem Vergabeverfahren handelt es sich um einen derart starken Eingriff, dass dieser einer besonderen Rechtsgrundlage bedarf. Der europäische Gesetzgeber hat dies ausdrücklich und bisher ausschließlich für die Vergabe von Personenverkehrsdienstleistungen zugelassen. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Ermächtigung im Rahmen der Novellierung 2016 in § 131 Abs. 3 GWB nur für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen über Personenverkehrsdienstleistungen im Eisenbahnverkehr umgesetzt. Aus dieser bewusst gewählten Begrenzung des Gesetzgebers folgt im Umkehrschluss, dass die Anordnung eines fiktiven Betriebsübergang in anderen Vergabeverfahren – wie hier bezüglich der Betreuungsdienstleistungen in Flüchtlingseinrichtungen – unzulässig ist. Ob die Zuschlagerteilung im Rahmen eines Vergabeverfahrens im Ergebnis einen Betriebsübergang nach § 613a BGB mit sich bringt, kann damit im Vorhinein nicht mit der Vergabe angeordnet werden. Das Land kommt jedoch der vergaberechtlichen Rechtsprechung nach und weist potenzielle Auftragnehmer explizit darauf hin, dass die Auftragsannahme zu einem Betriebsübergang führen kann, damit die Bieter dieses im Rahmen der Angebotsabgabe angemessen einkalkulieren können. Dies wird auch bei den zukünftigen Ausschreibungen erfolgen. Ob die Zuschlagerteilung im Rahmen eines Vergabeverfahrens im Ergebnis einen Betriebsübergang nach § 613a BGB mit sich bringt, ist im konkreten Einzelfall auf Basis der realen Gegebenheiten durch den künftigen Auftragnehmer zu prüfen und kann nicht vom Auftraggeber bestimmt werden. Die Schwelle für etwaige Sanktionen im Vergaberecht liegt hoch. Die Landesregierung wird aber im Hinblick auf die bisher bekannt gewordenen Auseinandersetzungen über die Anwendung des § 613 a BGB das Verhalten neuer Auftraggeber bei einem Betreiberwechsel im Hinblick auf künftige Vergabeverfahren beobachten und die Ergebnisse bei der künftigen Vergabe entsprechender Leistungen berücksichtigen. Denn einer umfassenden Beachtung geltenden Rechts gerade durch Auftragnehmer im sensiblen Bereich der Flüchtlingsbetreuung kommt eine hohe Bedeutung zu. 4. Welche Informationen liegen der Landesregierung vor, dass bei Betreiberwechseln von Landeseinrichtungen für Geflüchtete im Jahr 2017 und 2018 Übernahmen von Beschäftigten nicht oder nicht zu den bestehenden arbeitsvertraglichen Bedingungen erfolgt sind? (Bitte die betroffenen Landeseinrichtungen aufführen und die Anzahl der jeweiligen Beschäftigten benennen.) Infolge der zweiten Vergabestaffel kam es bei den insgesamt zehn ausgeschriebenen Landeseinrichtungen zu vier Betreiberwechseln und der Übernahme einer Einrichtung durch eine Bietergemeinschaft unter Einschluss des bisherigen Betreibers. Letzteres betrifft die EAE Bad Berleburg. Hier kam es nach Information des Betreuungsdienstleisters zur Anwendung des § 613a BGB. Zum Zeitpunkt des Betreiberwechsels waren 63 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Einrichtung beschäftigt. Diejenigen von ihnen, die über ein unbefristetes Arbeitsverhältnis verfügten, wurden durch ihren Arbeitgeber über den Betriebsübergang LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/2779 5 gemäß § 613a aufgeklärt. Lediglich drei Beschäftigte schieden aus, alle übrigen wurden vom neuen Arbeitgeber übernommen. Es ist zu keinen arbeitsgerichtlichen Verfahren gekommen. Nach den der Bezirksregierung Detmold vorliegenden Informationen sind in der ZUE Herford rund 25 Beschäftigte vom neuen Betreuungsdienstleister übernommen worden. Bei 17 nicht übernommenen Beschäftigten soll ein arbeitsgerichtliches Verfahren anhängig sein. In der EAE Bielefeld (erste Vergabestaffel) wurden durch den neuen Dienstleister im Rahmen des Betreiberwechsels keine Beschäftigten des vorherigen Dienstleisters der ZUE übernommen. Es kam nach Information des Betreuungsdienstleisters zu keinen arbeitsgerichtlichen Verfahren. Ebenso wurden in der ZUE Oerlinghausen im Rahmen des Betreiberwechsels nach erfolgter erster Vergabestaffel keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des vorherigen Betreibers übernommen. Infolgedessen kam es zu 28 arbeitsgerichtlichen Verfahren. In 24 Fällen wurde nach Angabe des Betreuungsdienstleisters ein Vergleich geschlossen, ein Mitarbeiter im Laufe des Verfahrens und drei weitere Mitarbeiterinnen nach erfolgtem Urteilsspruch eingestellt. Es gibt keine weiteren anhängigen Verfahren. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung verwiesen. 5. Ausschreibungen für den Betrieb von Landeseinrichtungen für Geflüchtete erfolgten bislang zumeist über einen Zeitraum von 2 Jahren. Aus welchem Grund erfolgen die Ausschreibungen nicht für einen deutlich längeren Zeitraum oder gar ohne zeitliche Begrenzung? Das Land Nordrhein-Westfalen ist als öffentlicher Auftraggeber nach dem Vergaberecht verpflichtet, Leistungen in regelmäßigen Intervallen auszuschreiben. Vorrangiges Ziel des Vergaberechts ist es, durch die wirtschaftliche Verwendung von Haushaltsmitteln den Beschaffungsbedarf der öffentlichen Hand zu decken. Unabhängig davon, dass das Land vergaberechtlich zu regelmäßigen Ausschreibungen verpflichtet ist, ergibt sich das Erfordernis einer Befristung der Vertragszeiträume auch aus der Notwendigkeit, auf die bestehenden und sich ändernden Anforderungen des staatlichen Asylsystems - soweit möglich - flexibel reagieren zu können. Die hohen Flüchtlingszugänge in den letzten Jahren haben es erforderlich gemacht, ein leistungsfähiges Aufnahmesystem aufzubauen, das mit entsprechenden Kostenbelastungen für den Landeshaushalt verbunden ist. In Abhängigkeit von der globalen Entwicklung ist zu gegebener Zeit zu entscheiden, inwieweit es hierfür einen längerfristigen Bedarf gibt. Die Laufzeiten der Verträge für einzelne Einrichtungen sind dabei nicht von vornherein auf zwei Jahre begrenzt. Aufgrund der Verlängerungsoption sind für eine Einrichtung vertragliche Laufzeiten bis zu vier Jahren möglich. Ob bei späteren Ausschreibungen auch eine Verlängerung auf bis zu fünf Jahre möglich ist, wird geprüft.