LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/3355 07.08.2018 Datum des Originals: 02.08.2018/Ausgegeben: 10.08.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1250 vom 4. Juli 2018 der Abgeordneten Angela Lück SPD Drucksache 17/3080 Schnelle Hilfe vonnöten: Gewalt in der Pflege nimmt zu – Was tut die Landesregierung? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Laut einer aktuellen Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) von Juni 2018 zeigt sich: Viele pflegende Angehörige haben mit zunehmenden Belastungen zu kämpfen. Über ein Drittel der Befragten (36 Prozent) fühlt sich häufig niedergeschlagen, 29 Prozent sind häufig verärgert. Zudem hatte über die Hälfte (52 Prozent) in den letzten sechs Monaten teilweise den Eindruck, dass die pflegebedürftige Person ihre Hilfe nicht zu schätzen weiß. 25 Prozent hätten den Pflegebedürftigen bereits "vor Wut schütteln können". Neben belastenden Gefühlen berichten viele Angehörige von Gewalt bzw. krankheitsbedingtem gewaltförmigem Verhalten Pflegebedürftiger. 45 Prozent geben an, mit psychischer Gewalt wie Anschreien, Beleidigen oder Einschüchtern konfrontiert worden zu sein. 11 Prozent haben körperliche Übergriffe wie grobes Anfassen, Kratzen, Kneifen oder Schlagen erlebt. Auch Pflegende können gegenüber einer pflegebedürftigen Person gewaltsam handeln. Insgesamt 40 Prozent der Befragten äußerten, dies innerhalb der letzten sechs Monate mindestens schon einmal absichtlich getan zu haben. Am häufigsten wurden mit 32 Prozent auch hier Formen psychischer Gewalt berichtet. 12 Prozent machten Angaben zu körperlicher Gewalt, 11 Prozent zu Vernachlässigung. Sechs Prozent nannten freiheitsentziehende Maßnahmen. Gewalt in der Pflege trifft pflegebedürftige Menschen oft besonders hart, denn sie können sich häufig nicht gut wehren, teilweise nicht einmal mehr äußern und sind vom Pflegenden meistens abhängig. Sowohl die Pflegebedürftigen als auch die Pflegenden brauchen schnelle Hilfe. Ein Ansatz könnte ein landesweites Krisentelefon sein, das Pflegende in kritischen Situationen auffängt oder Pflegebedürftigen unbürokratische Hilfe gewährt. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3355 2 Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1250 mit Schreiben vom 2. August 2018 namens der Landesregierung beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Das Thema Gewalt in der Pflege ist vielschichtig. Die Kleine Anfrage 1250 nimmt den Bereich der Pflege in der Häuslichkeit in den Blick, die Pflege durch Angehörige und mögliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt bzw. Interventionen und Hilfe bei Gewalt. Sie bezieht sich dabei auf eine Analyse des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) „Aggression und Gewalt in der informellen Pflege“ von Juni 2018. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Gewaltbegriff hier sehr weit gefasst wird und Ausprägungen von unangemessener Kommunikation bis hin zu körperlichen Übergriffen mit strafrechtlicher Relevanz umfasst. Gewalt in der häuslichen Pflege kann auf verschiedenen Ebenen entstehen, verschiedene Ausprägungen haben und von unterschiedlichen Personen ausgehen. Meist führt eine Kombination mehrerer Ursachen zum Entstehen von Gewaltsituationen. Soweit Gewalt von Pflegebedürftigen ausgeht, ist diese häufig Folge von Ängsten, Hilflosigkeit oder krankheitsbedingten Veränderungen wie zum Beispiel bei demenziellen Erkrankungen. Geht Gewalt von den Pflegenden aus, liegt die Ursache häufig in einer Überlastung der Pflegeperson begründet. Körperliche und seelische Anstrengungen, zwischenmenschliche Konflikte und Stress können in eine Überlastungsspirale führen, wenn Möglichkeiten der Entlastung nicht bekannt sind oder nicht genutzt werden. Die Pflege in der eigenen Häuslichkeit stellt insofern eine besondere Situation dar, als die grundgesetzliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG), der Schutz der räumlichen Privatsphäre und im weitesten Sinne damit verknüpft die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG) und der Schutz der Menschenwürde (Art 1 GG) greifen. Es existieren keine Möglichkeiten der Aufsicht und Kontrolle, kein Eingreifen von staatlicher Seite, wenn keine ausdrückliche Einwilligung oder Gefahr im Verzug vorliegt. Das Erkennen entsprechender Situationen sowie ggf. notwendiger Interventionen von außen ist insoweit erschwert . Entscheidend ist die Prävention, damit Gewalt gar nicht erst entsteht. Um möglichen Gewaltsituationen in der häuslichen Pflege vorzubeugen, bedarf es vor allem der frühzeitigen Sensibilisierung und Beratung der betroffenen Personen – Pflegende und Pflegebedürftige - ohne zu stigmatisieren. Dabei geht es darum, Überlastungen und Situationen, die Gewalt bzw. unangemessene Verhaltensweisen begünstigen, zu vermeiden. Es stehen unterschiedliche Angebote zur Entlastung und Unterstützung des ambulanten Pflegesettings zur Verfügung: 1. die pflegerischen Angebotsstrukturen wie ambulante Dienste, Verhinderungspflege, Tages- und Kurzzeitpflege, aber auch Beratungsbesuche nach § 37 SGB XI. 2. Pflegeergänzende Unterstützung in Form von Betreuungs- und Entlastungsleistungen mit dem Ziel der Unterstützung der pflegebedürftigen Person und der Entlastung der pflegenden Angehörigen und vergleichbar Nahestehender in ihrer Rolle als Pflegende. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3355 3 Es kommt darauf an, dass Angehörige und Pflegebedürftige Kenntnis haben von den vielfältigen Angeboten, entscheidend ist daher ein gutes Beratungsangebot und ein leichter Zugang zu Informationen. Grundsätzlich sind die Kommunen und die Pflegekassen für die Pflegeberatung verantwortlich. Das Thema Gewalt in der Pflege zählt insoweit auch zu deren Beratungsauftrag . Zur Verbesserung des Ineinandergreifens der verschiedenen und mannigfaltigen Beratungsangebote hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den Landesverbänden der Pflegekassen und dem Verband der Privaten Krankenversicherung im Projekt KoNAP – KompetenzNetz Angehörigen-Unterstützung und Pflegeberatung NRW – Unterstützungs-angebote entwickelt. So hilft der neue „Pflegewegweiser NRW“ Ratsuchenden, eine Beratung zu finden, die auf die persönliche Situation zugeschnitten ist. Im Internetportal www.pflegewegweiser-nrw.de können sich Betroffene schnell einen Überblick über passende Beratungs- und Hilfsangebote in der Nähe ihres Wohnorts verschaffen. Zusätzlich können sie unter der Rufnummer 0800 4040044 werktags von montags bis freitags von 9 bis 19 Uhr sowie samstags von 9 bis 14 Uhr gebührenfrei anrufen. Sie werden dann zu den Ansprechpartnern beim passenden Pflegeberatungsangebot und bei individuell benötigten Hilfeleistungen gelotst. Darüber hinaus bietet die Plattform viele wertvolle Informationen und Tipps rund um das Thema Pflege – von der Beantragung eines Pflegegrads bis hin zu verschiedenen Entlastungsmöglichkeiten für Pflegebedürftige und Angehörige. Dazu gehören auch Hinweise auf Pflegeselbsthilfe-Angebote. Land, Landesverbände der Pflegekassen und der Verband der Privaten Krankenversicherung fördern seit 2017 auf der Grundlage der Regelungen des § 45 d SGB XI den Auf- und Ausbau von Strukturen der Pflegeselbsthilfe . Dazu gehören Pflegeselbsthilfegruppen für Pflegebedürftige und/oder Pflegende Angehörige, die den Austausch mit Menschen in einer vergleichbaren Situation ermöglichen, sowie „Kontaktbüros Pflege-selbsthilfe“ (KoPS), die sich um die Beratung und Begleitung bestehender Gruppen und die Initiierung neuer Gruppen kümmern. Erkenntnisse aus dem Projekt PAUSE („Pflegende Angehörige unter-stützen, stärken, entlasten “ – mit dem Ziel, nachhaltig die Gesundheit pflegender Angehöriger zu fördern) konnten in die Regelversorgung überführt werden. Aufgrund der positiven Erfahrungen aus diesem Projekt (Evaluation gefördert vom Land und der BARMER GEK, durchgeführt vom Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation (iqpr) an der Deutschen Sporthochschule Köln) und dessen Verweise auf den Bedarf an stationären medizinischen Vor-sorge- und Rehabilitationsleistungen zur Stabilisierung und Wieder-herstellung der Gesundheit Pflegender Angehöriger plant das Land ab 2019 die Etablierung eines neuen Landesprogramms „Zeit und Erholung für mich – Kuren für Pflegende Angehörige in Nordrhein-Westfalen“. Hier besteht bislang eine große Versorgungslücke. Die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW fördert aktuell das Projekt „Gelassen – nicht alleine lassen “, das die Entwicklung eines Instruments zur Selbsteinschätzung der eigenen Gelassenheit beinhaltet, um Heraus-forderungen durch Begleitung und Pflege bewusst anzunehmen oder abzuwenden. Im Übrigen ist bekannt, dass sich die unabhängige Expertengruppe Opferschutz mit dem Thema Gewalt in der häuslichen Pflege befasst. Ob diese Empfehlungen aussprechen wird und wie diese ggf. umzusetzen sind, bleibt abzuwarten. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3355 4 2018 hat die Landesregierung die landesweite Arbeitsgruppe „Straftaten im Kontext von häuslichen Pflegeverhältnissen“ beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen eingerichtet. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist zunächst, die polizeilichen Ermittlungsprozesse zu verbessern und zu standardisieren sowie Netzwerkpartner zu identifizieren. Darauf auf-bauend soll eine Präventions - und Öffentlichkeitskampagne entwickelt werden. Hierüber sollen insbesondere potenzielle Opfer und deren Angehörige sowie Beschäftigte in der Pflege und bei Krankenkassen über die in diesem Kontext relevanten Kriminalitätsrisiken informiert und sensibilisiert werden. Die Ergebnisse der Landesarbeitsgruppe werden im Herbst 2018 erwartet. 1. Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um Pflegende vor Überlastung zu schützen? Zu nennen sind hier insbesondere: - Sicherstellung ausreichender Angebote zur Unterstützung des häuslichen Pflegesettings z.B. durch Ausbau der Angebote zur Unterstützung im Alltag. Derzeit gibt es ca. 2.300 Angebote. Die Anerkennungs- und Förderungsverordnung (AnFöVO) wird aktuell überarbeitet mit dem Ziel, unnötige bürokratische Hürden und Anforderungen abzubauen und die Weiterentwicklung der Angebotslandschaft zu begünstigen. - Initiative des Landes auf Bundesebene für verbesserte Rahmen-bedingungen für die Kurzzeitpflege im SGB XI sowie Verbesse-rung der Bedingungen für die Entstehung von Kurzzeitpflege-plätzen auf Landesebene durch entsprechende Regelungen im Wohn- und Teilhabegesetz. Es sollen damit Anreize für die Entstehung von zusätzlichen Kurzzeitpflegeplätzen gesetzt werden. In Kombination mit dem Maßnahmenpaket der Pflegeselbstverwaltung (sog. Fix/Flex-Regelung) werden die Rahmenbedingungen für einen Aufwuchs an Kurzzeitpflegeplätzen und damit für ein breiteres Entlastungs-angebot für die Pflegenden geschaffen. - Verfügbarkeit von Informationen und Optimierung von Beratungsangeboten über den Pflegewegweiser NRW, durch Einrichtung eines Online-Angebotefinders für Angebote zur Unterstützung im Alltag sowie durch Erstellung einer zentralen Internetplattform /App, die eine Suche nach freien Pflegeplätze in den Regionen ermöglicht. Auf die Ausführungen in der Vorbemerkung wird verwiesen. 2. Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Landes-regierung, um Pflegebedürftige vor Gewalt in der Pflege zu schützen? Es wird auf die Ausführungen in der Vorbemerkung sowie auf die zu Frage 1 aufgeführten Aktivitäten verwiesen. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3355 5 3. Welche konkreten Maßnahmen wird die Landesregierung in Zukunft ergreifen, um überlasteten Pflegenden im Krisenfall (z.B. bei Gewalterfahrung) schnelle Hilfe zu gewähren? Information zu Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege und Angeboten zur Unterstützung im Alltag werden vorgehalten und zusammengeführt. Des Weiteren wird auf die Ausführungen in der Vorbemerkung sowie auf die bei Frage 1 aufgeführten Aktivitäten verwiesen. 4. Welche konkreten Maßnahmen wird die Landesregierung zukünftig ergreifen, um mit Gewalt konfrontierten Pflegebedürftigen schnelle Hilfe zu gewähren? Es wird auf die Ausführungen insbesondere zur Kurzzeitpflege sowie zu den Beratungsangeboten einschließlich der bestehenden Telefonhotline in der Vorbemerkung sowie auf die bei Frage 1 aufgeführten Aktivitäten verwiesen. 5. Wie beurteilt die Landesregierung die Einführung eines landesweiten Krisentelefons bzw. einer Kontaktstelle für Pflegende und Pflegebedürftige? Wie bereits ausgeführt, existiert in Nordrhein-Westfalen bereits eine Telefonhotline zu pflegespezifischen Fragen. Darüber hinaus bieten verschiedene Kommunen eine Telefonberatung zum Thema Gewalt in der Pflege an. Die Notrufnummern dieser Beratungsstellen werden u.a. über die spezielle Internet-Seite des Zentrums für Qualität in der Pflege www.gewalt-pflege.de veröffentlicht. Über diese Internet-Seite wird auch die Telefonnummer eines bundesweit erreichbaren Krisentelefons bekanntgegeben, das 24 Stunden erreichbar ist. Die Pflegeberatungs -stellen der Kommunen und der Pflegekassen können im Einzelfall auf dieses Krisentelefon verweisen, soweit eine über das allgemeine Beratungsspektrum hinausgehende spezifischere Beratung erforderlich ist. Gleiches gilt für die Telefonhotline des Landes Nordrhein- Westfalen. Die Einführung eines zusätzlichen landesweiten Krisentelefons erscheint daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht notwendig. Zu Gunsten der Überschaubarkeit der Beratungsangebote sollte auf weitere spezielle Angebote verzichtet und stattdessen vorhandene genutzt werden.