LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 09.08.2018 Datum des Originals: 08.08.2018/Ausgegeben: 14.08.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1278 vom 20. Juni 2018 der Abgeordneten Sigrid Beer und Berivan Aymaz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 17/3172 Wird geflüchteten Kindern und Jugendlichen das Recht auf Beschulung vorenthalten? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Aus Artikel 8 der Landesverfassung NRW ergibt sich das Recht eines jeden Kindes auf Beschulung. Auch die UN-Kinderrechtskonvention, die Charta der Grundrechte der EU und die Europäische Menschenrechtskonvention bekräftigen dies und stellen klar, dass der Zugang niemandem verwehrt werden darf. In Deutschland realisiert die Schulpflicht dieses verfassungsmäßige Recht. In Nordrhein- Westfalen ist die Schulpflicht in §34 des Schulgesetzes geregelt. Für geflüchtete Minderjährige beginnt die Schulpflicht demnach (§34 Abs.6) mit der Zuweisung in eine Gemeinde. Hintergrund der Regelung war die Praxis, dass mit der Zuweisung klar ist, welche Gemeinde das Kind bzw. die Jugendliche oder den Jugendlichen zu beschulen hat und für die Einhaltung und Durchsetzung der Schulpflicht verantwortlich ist. Mittlerweile gibt es aber eine veränderte Rechtslage, was den Verbleib in Aufnahmeeinrichtungen angeht, und vor allem eine veränderte Praxis. Ein Aufenthalt dauert nicht mehr wie vor Jahren wenige Wochen, sondern meist viele Monate. Damit ist die gesetzliche Regelung nicht mehr geeignet, das verfassungsmäßige Recht auf Beschulung umzusetzen. Auch in anderen Bundesländern taucht das Problem auf, dass jungen Geflüchteten das Recht auf Beschulung vorenthalten wird. Das Verwaltungsgericht München hat in mehreren Fällen jungen Geflüchteten ausdrücklich dieses Recht zugesprochen und damit eine Veränderung des Verwaltungshandelns erwirkt. Auch wenn die Landesregierung angekündigt hat, eine Zuweisung in eine Gemeinde im vierten Monat der Aufenthaltsdauer in den Unterbringungseinrichtungen des Landes zu erreichen, sind in der Praxis deutlich längere Aufenthaltszeiten festzustellen. Gemäß Art. 14 Abs.2 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU darf der Zugang zur Bildung nicht länger als drei Monate nach Antragstellung verzögert werden. Das gilt unabhängig vom Aufenthaltsort. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 2 Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 1278 mit Schreiben vom 8. August 2018 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Schule und Bildung beantwortet. 1. Wie viele minderjährige Geflüchtete sind seit Juli 2017 länger als drei Monate in Unterbringungseinrichtungen des Landes untergebracht (gewesen)? Bitte nach Einrichtung und Monaten unterscheiden. Nach dem Stand vom 22. Juli 2018 sind von den 3.189 minderjährigen Geflüchteten (0 bis einschließlich 17 Jahre) 1.140 länger als drei Monate in den Aufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht. Die Verweildauer der minderjährigen Geflüchteten von länger als drei Monaten in den jeweiligen Aufnahmeeinrichtungen außerhalb des beschleunigten Verfahrens ist der nachstehenden Übersicht zu entnehmen: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 3 Die Verweildauer der minderjährigen Geflüchteten von länger als drei Monaten in den Einrichtungen des beschleunigten Verfahrens ist in der nachstehenden Tabelle aufgeführt: Einrichtung Anzahl gesamt Verweildauer bis zu 4 Monate bis zu 5 Monate bis zu 6 Monate länger als 6 Monate länger als 9 Monate länger als 12 Monate EAE Bielefeld (Oldentruper Hof) 7 2 3 2 EAE Bonn 2 1 1 EAE Essen 1 1 NU Dorsten 23 7 7 9 ZUE Borgentreich 38 32 3 3 ZUE Düren 60 22 26 9 3 ZUE Euskirchen I 2 2 ZUE Euskirchen II 16 9 7 ZUE Herford 25 13 12 ZUE Kall 1 1 ZUE Kerpen 14 10 4 ZUE Kreuzau 7 2 5 ZUE Meschede 7 4 3 ZUE Neuss 69 5 49 15 ZUE Niederkrüchten 189 121 66 2 ZUE Rees 8 4 1 3 ZUE Rheinberg 10 5 2 3 ZUE Rheine 40 4 4 26 6 ZUE Rüthen 43 24 5 4 10 ZUE Sankt Augustin 22 20 2 ZUE Schleiden 17 3 3 10 1 ZUE Schöppingen 68 33 10 25 ZUE Viersen 6 2 2 2 ZUE Wegberg 32 5 1 17 9 ZUE Wickede 19 4 3 8 4 Gesamt 726 277 208 179 54 5 3 LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 4 Einrichtung Anzahl gesamt Verweildauer bis zu 4 Monate bis zu 5 Monate bis zu 6 Monate länger als 6 Monate länger als 9 Monate länger als 12 Monate ZUE Bad Driburg* 23 6 4 3 1 6 3 ZUE Bonn 53 4 11 16 13 5 4 ZUE Hamm 107 27 25 13 28 13 1 ZUE Ibbenbüren 84 19 16 14 13 12 10 ZUE Möhnesee 49 1 11 11 9 13 4 ZUE Oerlinghausen 32 16 2 9 5 ZUE Ratingen 24 8 9 4 2 1 ZUE Willich 42 16 15 5 3 2 1 Gesamt 414 97 91 68 76 53 29 * Wird für vulnerable Personen im beschleunigten Asylverfahren genutzt. Weitere Statistiken über die Verweildauer von minderjährigen Geflüchteten in den Unterbringungseinrichtungen des Landes werden nicht erstellt. Insofern ist nur eine Aussage über die aktuelle Verweildauer der betroffenen minderjährigen Geflüchteten möglich. Die in der ersten Tabelle aufgeführten Minderjährigen gehören Familienverbünden an. Ist ein Familienmitglied erkrankt und ist eine Transportfähigkeit trotz Ablauf der Wohnverpflichtung nicht gegeben, wird die Familie grundsätzlich nicht getrennt voneinander untergebracht. Der betroffenen Familie wird stattdessen weiterhin eine gemeinsame Unterbringung ermöglicht, sodass es in Einzelfällen zu längeren Verweildauern in den Landeseinrichtungen kommen kann. Ungeachtet dessen geht das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration jedem aufgeführten Einzelfall gesondert nach. In den in der zweiten Tabelle aufgeführten Zentralen Unterbringungseinrichtungen halten sich überwiegend Asylsuchende aus dem beschleunigten Verfahren auf. Diese verbleiben nach § 30 a Abs. 3 S. 2 AsylG bis zur Ausreise- oder bis zum Vollzug der Abschiebungsandrohung/- anordnung, soweit ihr Antrag als unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Nach der aktuellen Erlasslage des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration mit Umsetzung des Stufenplans sind auch Familien mit minderjährigen Kindern im beschleunigten Verfahren nach sechs Monaten zuzuweisen, wenn eine freiwillige Ausreise oder Abschiebung innerhalb der nächsten zwei Monate nicht wahrscheinlich ist, sodass sich die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge in Landeseinrichtungen sukzessive verringern wird. 2. Wie beurteilt die Landesregierung die Rechtsauffassung zum Recht auf Beschulung, wie sie das Verwaltungsgericht München in den Beschlüssen von Januar 2018 vertreten hat? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 5 3. Welche Schlüsse zieht die Landesregierung daraus für das Verwaltungshandeln in NRW? Aufgrund des Sachzusammenhangs werden die Fragen 2 und 3 gemeinsam beantwortet: Mangels genauerer Angaben wird davon ausgegangen, dass sich die Frage auf einen der Beschlüsse des VG München vom 8. Januar 2018 (M 3 E 17.5029, M 3 E 17.4737, M 3 E 17.4801) bezieht. Die Landesregierung beurteilt im Rahmen von Einzelfallentscheidungen der Verwaltungsgerichte anderer Länder (hier: vorläufiger Rechtsschutz) zur Auslegung von Landesrecht ergangene Rechtsausführungen nicht und zieht daher daraus auch keine Schlüsse für das Verwaltungshandeln in Nordrhein-Westfalen. 4. Welche Maßnahmen plant die Landesregierung, um eine Beschulung von minderjährigen Geflüchteten mit Aufenthalt in Unterbringungseinrichtungen des Landes zu gewährleisten? 5. Hält die Landesregierung die derzeitigen Angebote in den Unterbringungseinrichtungen des Landes für quantitativ und qualitativ für ausreichend? Aufgrund des Sachzusammenhangs werden die Fragen 4 und 5 ebenfalls gemeinsam beantwortet: Während des Aufenthalts in einer Landeseinrichtung besuchen die geflüchteten Kinder und Jugendlichen unabhängig von der Aufenthaltsdauer grundsätzlich keine Regelschule, da in dieser Zeit keine Schulpflicht besteht. Nach § 34 Absatz 6 des Schulgesetzes sind Kinder von Asylbewerbern, die einen Asylantrag gestellt haben, schulpflichtig, sobald sie einer Gemeinde zugewiesen sind und solange ihr Aufenthalt gestattet ist. Der Landesregierung ist es ein wichtiges Anliegen, Kindern und Jugendlichen Bildungsgrundlagen über die bereits bestehenden verpflichtenden Konzepte in allen Landeseinrichtungen hinaus zu ermöglichen. Insbesondere mit der Umsetzung des neuen Asylsystems wird die Landesregierung entsprechende Maßnahmen und weiterführende Konzepte prüfen. Inwieweit und in welchem Umfang Bildungsangebote zu realisieren sein werden, wird derzeit gemeinsam mit dem Ministerium für Schule und Bildung geprüft. Im Rahmen der in der Leistungsbeschreibung für die Betreuungsdienstleistung vorgegebenen Kinderbetreuung müssen in allen Aufnahmeeinrichtungen des Landes aktuell altersangemessene Angebote sowie Aktivitäten im motorischen Bereich durchgeführt werden. Durch spielerische Vermittlung eines Grundwortschatzes wird die Sprachkompetenz der Kinder gefördert. Der Auftragnehmer (Betreuungsdienstleister) hat hierfür ein pädagogisches Konzept zu erstellen, welches eine konfessionsneutrale Kinderbetreuung beinhaltet, die den unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Religionen und Erfahrungen der zu betreuenden Kinder Rechnung trägt und die Interessen verschiedener Altersgruppen berücksichtigt. Nach der LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3383 6 aktuellen Leistungsbeschreibung müssen im Rahmen eines Freizeitkonzepts zudem allen Bewohnerinnen und Bewohnern Grundkenntnisse der deutschen Sprache und des Zusammenlebens in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der hier geltenden Verfassungswerte vermittelt werden. Dies gilt insbesondere auch für jugendliche Asylsuchende. Unabhängig davon finden in einigen Landeseinrichtungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderte Erstorientierungskurse („Erstorientierung und Deutsch lernen für Asylbewerber“) statt, an denen in der Regel Jugendliche ab 16 Jahren teilnehmen können.