LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/3549 06.09.2018 Datum des Originals: 05.09.2018/Ausgegeben: 11.09.2018 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1372 vom 15. August 2018 des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz AfD Drucksache 17/3420 Richtervorbehalt für die Fixierung während einer psychiatrischen Unterbringung – Sinnvoller Grundrechtsschutz oder unnötiger Formalismus? Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich in seinem Urteil vom vergangenen Dienstag für den Richtervorbehalt für die Anordnung der Fixierung während einer psychiatrischen Unterbringung ausgesprochen (Az. 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16). Zwei Patienten hatten Verfassungsbeschwerde erhoben, weil sie während einer richterlich angeordneten Psychiatrieunterbringung körperlich fixiert worden waren. Freiheit ist ein hohes Gut. Die Verfassung schützt sie in besonderer Weise vor staatlichen Eingriffen. Ein Schutzmechanismus unseres Grundgesetzes ist der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG: Danach ist eine Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung nicht zulässig. Wie steht es jedoch um die Freiheitsentziehung, wenn die Psychiatrieunterbringung richterlich angeordnet wurde oder wenn akute Gefahr vom Patienten ausgeht? Ob der Richtervorbehalt dieser Problematik sinnvoll begegnen kann, ist aber eine andere Frage. Fixierungen sind Krisenmaßnahmen. Sie müssen schnell gehen. Ein Richter wird deswegen in der Praxis meist nur nachträglich über die bereits ärztlich angeordnete Fixierung entscheiden können. Wo Richtervorbehalte geschaffen werden, ohne dass den Richtern relevante eigene Entscheidungsspielräume verbleiben, entsteht ein Formalismus. So ist der Richtervorbehalt auch im PsychKG NRW implementiert, geregelt in § 18 Absatz 6 PsychKG NRW: „Die Zwangsbehandlung einer volljährigen Person bedarf der vorherigen Zustimmung durch das zuständige Gericht. Den Antrag beim zuständigen Gericht stellt die ärztliche Leitung und bei Verhinderung deren Vertretung. In diesem Antrag ist zu erläutern, welche maßgebliche LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3549 2 Gefahr droht und wie lange die Behandlung voraussichtlich erfolgen soll. Zudem sind die Voraussetzungen und Maßnahmen nach Absatz 4 und 5 darzulegen. Von der Einholung einer gerichtlichen Entscheidung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn 1. diese nicht rechtzeitig erreichbar ist, 2. eine besondere Sicherungsmaßnahme nicht geeignet oder nicht ausreichend ist, um die akute Gefährdung zu überwinden, und 3. die sofortige ärztliche Zwangsmaßnahme zur Vermeidung einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit der untergebrachten Person oder dritter Personen erforderlich ist. Eine gerichtliche Zustimmung für die weitere Zwangsbehandlung ist unverzüglich zu beantragen, sofern die unmittelbare Lebensgefahr oder schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit über einen längeren Zeitraum andauert oder überwunden ist und die Fortführung der Zwangsbehandlung als weiterhin notwendig angesehen wird. Satz 3 und 4 gelten entsprechend. Zwangsbehandlungen nach Satz 5 sind monatlich der Aufsichtsbehörde zu melden.“ Bei einer "Arbeitsteilung" zwischen Arzt und Richter geht die klare Verantwortungszuweisung ein Stück weit verloren: Der Arzt beantragt die Zwangsbehandlung und die Fixierung, der Richter wird der Sachverhaltsschilderung und der sachkundigen Einschätzung des behandelnden Arztes folgen. Der Richter vertraut der Einschätzung des Arztes, der Arzt setzt eine richterlich angeordnete Maßnahme um. Ob dies tatsächlich als Schutzmechanismus der Freiheit vor staatlichen Eingriffen gesehen werden kann bleibt jedoch dahingestellt. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1372 mit Schreiben vom 5. September 2018 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Justiz beantwortet. Vorbemerkung der Landesregierung Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 24. Juli 2018 die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Fixierung von Patientinnen und Patienten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung festgelegt. Es hat festgestellt, dass eine Fixierung von nicht nur kurz-fristiger Dauer eine Freiheitsentziehung ist, die von einer richterlichen Unterbringungsanordnung nicht gedeckt ist. Aufgrund ihrer besonderen Eingriffsintensität ist die Fixierung sämtlicher Gliedmaßen auch im Rahmen einer bestehenden öffentlich-rechtlichen Unterbringung als eigenständige Freiheitsentziehung zu qualifizieren, die den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) abermals auslöst. Kurzfristig ist eine Maßnahme nach den Feststellungen des Urteils in der Regel, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet. Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem festgestellt, dass aus dem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) die Verpflichtung erwächst, den Betroffenen nach Beendigung der Fixierung im Rahmen der Unterbringung auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass er die Zulässigkeit der durchgeführten Fixierung gerichtlich überprüfen lassen kann. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3549 3 Im Gegensatz zu den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts bemängelten landesrechtlichen Regelungen in Baden-Württemberg und Bayern hat das Land Nordrhein- Westfalen im Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) eine weitreichende Freiheitsentziehung wie die Fixierung auch im Rahmen einer bereits richterlich angeordneten Unterbringung einem erneuten richterlichen Vorbehalt unterworfen. Entsprechende Regelungen sind im § 20 PsychKG im Rahmen der Ausführungen zu den besonderen Sicherungsmaßnahmen, zu denen die Fixierung gehört, festge-schrieben. § 18 PsychKG hingegen regelt die Behandlung im Rahmen einer Unter-bringung nach diesem Gesetz, darunter in den Absätzen 4 bis 8 auch die Behandlung gegen den Willen der Betroffenen (Zwangsbehandlung). Die Behandlung umfasst dabei die ärztlichen, psycho-, sozial- und ergotherapeutischen sowie pflegerischen Maßnahmen zur Behandlung der Anlasserkrankung (i.e. die Erkrankung, die zur Unterbringung führte) wie auch sonstiger Erkrankungen. Im Falle einer Zwangsbehandlung ist gemäß § 18 Abs. 6 Satz 1 PsychKG ebenfalls eine richterliche Zustimmung notwendig. 1. Sieht die Landesregierung den im PsychKG NRW implemen-tierten Richtervorbehalt als ausreichend im Sinne des Urteils des BVerfG mit dem Az. 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16 an? Die Regelungen zu § 20 PsychKG sehen die Einholung einer gericht-lichen Entscheidung bei „über einen längeren Zeitraum andauernden oder sich regelmäßig wiederholenden“ Fixierungen vor. Das Bundesver-fassungsgericht fordert – wie in der Vorbemerkung der Landesregierung bereits dargestellt – eine richterliche Zustimmung bei allen Fixierungen in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung, die von nicht nur kurzfristiger Dauer sind. Am 27. Juli 2018 erging ein Erlass mit der Bitte um sofortige Unterrich-tung der psychiatrischen Kliniken und Fachabteilungen an die Bezirks-regierungen, in dem das Vorgehen bei Fixierungen mit Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisiert wird. In diesem Erlass wird auch gefordert, Patientinnen und Patienten, die von einer Fixierung betroffen sind, nach Beendigung der Fixierung darauf hinzuweisen, dass sie die Zulässigkeit der durchgeführten Maßnahme gerichtlich über-prüfen lassen können. Ob eine Anpassung des PsychKG notwendig ist, wird derzeit vom zuständigen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales geprüft. 2. Gibt es seitens der Landesregierung „Kontrollmechanismen“ welche sicherstellen, dass jede Art der Zwangsbehandlung und Fixierung, welche einer richterlichen Anordnung bedürfen, auch tatsächlich erfasst werden? Durch entsprechende Vorgaben in den §§ 18 und 20 PsychKG ist sichergestellt, dass Zwangsbehandlungen und Fixierungen, die einer richterlichen Anordnung bedürfen, dokumentiert werden. Dort ist auch geregelt, dass Verfahrenspflegerinnen oder -pflegern, Verfahrens-bevollmächtigten und rechtlichen Vertretungen der Betroffenen eine Fixierung unverzüglich mitzuteilen und auf Wunsch Einsicht in die Patientenakte zu gewähren ist. Seit dem 1. Januar 2017 sind jährliche Meldungen von Zwangsmaßnahmen (Unterbringungen, Zwangsbehandlungen, besondere Sicherungsmaßnahmen) in verschlüsselter und anonymisierter Form an die Aufsichtsbehörde in § 32 Abs. 1 PsychKG festgeschrieben. Diese LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/3549 4 sind jährlich bis zum 31. März des nachfolgenden Jahres zu melden. Darüber hinaus sind Zwangsbehandlungen, bei denen nach § 18 Abs. 6 Satz 5 PsychKG ausnahmsweise keine richterliche Entscheidung eingeholt wurde, gemäß § 18 Abs. 6 Satz 8 PsychKG monatlich der Aufsichtsbehörde zu melden. Eine Überprüfung der Plausibilität und eine Auswertung der erfassten Daten erfolgen durch die jeweils zuständigen Bezirksregierungen (Aufsichtsbehörde) und das für Gesundheit zuständige Ministerium (oberste Aufsichtsbehörde). Die Besuchskommissionen nach § 23 PsychKG besuchen mindestens einmal in zwölf Monaten unangemeldet alle psychiatrischen Kliniken und Fachabteilungen, denen die Aufgabe der Unterbringung nach § 10a PsychKG übertragen wurde. Dabei überprüfen sie vor Ort, ob die mit der Unterbringung von psychisch kranken Menschen verbundenen Aufgaben erfüllt werden. 3. Gemäß § 18 Absatz 5 ff i.V.m. § 32 PsychKG NRW sind Zwangsmaßnahmen monatlich der Aufsichtsbehörde zu melden, auch werden Art und Umfang der Daten und deren Übermittlung durch das für Gesundheit zuständige Ministerium bestimmt. Zu wie vielen Zwangsbehandlungen und/oder Fixierungen ist es seit dem 01.01.2017 in NRW gekommen? (Bitte aufschlüsseln nach Monat und Art der Maßnahme) Zurzeit findet die Plausibilitätsprüfung der nach § 32 Abs. 1 PsychKG erfassten Daten (vgl. Antwort auf Frage 2) statt, so dass diese Zahlen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht berichtet werden können. Sie werden im Bericht über die Rahmendaten der Unterbringung dargestellt, der nach § 32 Abs. 2 PsychKG dem Landtag erstmalig zum 31. Dezember 2018 vorgelegt wird. Eine Zusammenstellung der monatlich gemeldeten Zwangsbehand-lungen ohne richterliche Entscheidung nach § 18 Abs. 6 Satz 5 PsychKG ist der Anlage 1 zu entnehmen. Diese Zahlen können aufgrund von gegebenenfalls eingehenden Korrekturmeldungen der Krankenhäuser zukünftig noch leicht variieren. 4. In wie vielen der Fälle aus Frage 3. handelte es sich um eine richterlich angeordnete Maßnahme, bzw. wie häufig wurde eine solche Maßnahme richterlich genehmigt? Eine Aussage zu richterlich angeordneten Maßnahmen kann nur auf Basis der jährlichen Meldung erfolgen. Da diese Daten – wie in der Antwort auf Frage 3. beschrieben – zurzeit auf Plausibilität geprüft werden, wird auch hierzu auf den Bericht über die Rahmendaten der Unterbringung verwiesen. Anlage Männer Frauen Divers Gesamt Januar 50 32 0 82 Februar 58 40 0 98 März 62 38 0 100 April 48 42 0 90 Mai 65 50 0 115 Juni 76 50 0 126 Juli 53 54 0 107 August 76 49 0 125 September 53 38 0 91 Oktober 55 47 1 103 November 69 33 0 102 Dezember 52 41 0 93 Gesamt 2017 717 514 1 1232 Januar 55 36 0 91 Februar 39 40 0 79 März 45 52 0 97 Männer Frauen Divers Gesamt Januar 83 41 0 124 Februar 84 52 0 136 März 88 72 0 160 April 67 65 0 132 Mai 76 59 0 135 Juni 107 63 0 170 Juli 51 64 0 115 August 110 85 0 195 September 72 42 0 114 Oktober 72 63 1 136 November 78 35 0 113 Dezember 61 44 0 105 Gesamt 2017 949 685 1 1635 Januar 60 51 0 111 Februar 53 60 0 113 März 56 50 0 106 Die erbetenen Angaben für den Zeitraum nach März 2018 befinden sich noch in der Plausibilitätsprüfung. Nach § 18 Abs. 6 Satz 5 PsychKG angeordnete Maßnahmen 2017 2018 Nach § 18 Abs. 6 Satz 5 PsychKG behandelte Personen 2017 2018