LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN 17. Wahlperiode Drucksache 17/4769 10.01.2019 Datum des Originals: 10.01.2019/Ausgegeben: 15.01.2019 Die Veröffentlichungen des Landtags Nordrhein-Westfalen sind einzeln gegen eine Schutzgebühr beim Archiv des Landtags Nordrhein-Westfalen, 40002 Düsseldorf, Postfach 10 11 43, Telefon (0211) 884 - 2439, zu beziehen. Der kostenfreie Abruf ist auch möglich über das Internet-Angebot des Landtags Nordrhein-Westfalen unter www.landtag.nrw.de Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1813 vom 12. Dezember 2018 der Abgeordneten Marcus Pretzell und Alexander Langguth FRAKTIONSLOS Drucksache 17/4580 Die Gemeinschaft stärken – gegen soziale Isolation und zunehmende Vereinsamung Vorbemerkung der Kleinen Anfrage Im Januar dieses Jahres ernannte die britische Premierministerin Theresa May Tracey Crouch zur Ministerin für Einsamkeit1. Ursache: Nach Angaben der Regierung fühlen sich in Großbritannien mehr als neun Millionen Menschen isoliert. „Etwa 200 000 Senioren hätten dort höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten“, so der General-Anzeiger vom 19.01.20182. Doch die zugrunde liegende Vereinsamung von immer mehr Menschen ist nicht nur ein britisches Problem, sondern ein Phänomen, das im Zuge zunehmender Individualisierung als Kehrseite viele Länder der westlichen Welt betrifft. Vereinsamung ist laut aktueller Studien auch ein deutsches Problem. Gemäß einer repräsentativen Umfrage fühlen sich 12% der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren immer oder oft einsam; mehr als die Hälfte von ihnen machen dafür ihre Lebensumstände verantwortlich: Arbeit oder Mangel daran, Umzug, Erkrankung, Trennung und ähnliches3. 27% sehen in der unpersönlicheren, modernen Kommunikation via Email, Messenger, Smartphone, Online-Shopping etc. die Hauptursache ihrer Einsamkeit. Und tatsächlich wird Einsamkeit in der überdurchschnittlich auf diese Kommunikationsmittel setzenden Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen mit 17% Betroffenen sehr oft empfunden3. Besonders oft trifft Einsamkeit und soziale Isolation sonst ältere Menschen: So verwies die Bildzeitung auch im Januar 2018 auf eine Studie, nach der sich jeder Fünfte über 85 Jahre in Deutschland einsam fühle4. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht in der Vereinsamung ein „wichtiges Thema für Koalitionsverhandlungen, sollte es dazu kommen“, wie Herr Prof. Lauterbach in gleichem Beitrag zitiert wurde. Lauterbach weiter: „Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen.“ Einsame Menschen würden früher sterben und „viel häufiger an Demenz“ erkranken4. Auch der familienpolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Marcus Weinberg, äußerte sich zur Bedeutung des Themas: „Das Thema ‚Einsamkeit‘ und die LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4769 2 gesamtgesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen von zunehmender Einsamkeit werden an Bedeutung in den kommenden Jahren zunehmen. Wir müssen uns des Themas Einsamkeit annehmen, Forschung hierzu fördern, Programme auflegen, neue Konzepte entwickeln. Wir brauchen eine Enttabuisierung des Themas Einsamkeit, damit einsame Menschen eine Lobby haben und Einsamkeit nicht in einer Schmuddel-Ecke bleibt“, sagte Weinberg4. Das Thema Einsamkeit und ihre Ursachen hat viele Facetten; ohne Gegenmaßnahmen kann man aber als gesichert davon ausgehen, dass das Problem gesellschaftlich weiter wächst. Beruflich wird heute von den Menschen viel mehr Mobilität erwartet, die es erschwert, sich im Familienverbund umeinander zu kümmern. Auch ist seit dem sogenannten „Pillenknick“ von 1965 an die Geburtenrate tendenziell rückläufig, Familien kleiner, Einzelkinder häufiger, Nachwuchs oft nicht geplant oder auf einen Zeitpunkt verschoben, der sich im Nachhinein als zu spät herausstellt. Mit dem zunehmenden Alter der Menschen wird die Bedeutung von einem senioren- wie auch behindertengerechten und auch für kleine Geldbeutel nutzbaren öffentlichen Verkehrswesen größer. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1813 mit Schreiben vom 10. Januar 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Ministerpräsidenten, dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleich-stellung sowie dem Minister für Verkehr beantwortet. 1. Hat die Landesregierung eine eigene Stabsstelle zur Bekämpfung von unfreiwilliger Einsamkeit und sozialer Isolation? Nein. 2. Welche Konzepte hat die Landesregierung zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation unter dem Gesichtspunkt „Mobilität“ – hier im Besonderen im Hinblick auf Senioren und ihre besonderen Bedürfnisse? Der Mobilitätsradius wird im Alter in der Regel kleiner. Daher ist eine wohnortsnahe Infrastruktur, die Nahversorgungs-, Präventions- und Pflegeangebote umfasst, von großer Bedeutung. Grundsätzlich stehen Senioren die Optionen des Individualverkehrs und des öffentlichen Verkehrs offen. Für die Organisation und Ausgestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs sind in Nordrhein-Westfalen die Kommunen zuständig. Die Landesregierung unterstützt die Kommunen seit Anfang des Jahres 2018 bei der Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung der Mobilität durch stärkere Vernetzung von Verkehrsmitteln- und Mobilitätsangeboten oder auch durch neue Mobilitätsangebote. Dabei sollen die Kunden mit ihren Bedürfnissen im Vordergrund stehen, so dass auch die spezifischen Anforderungen von Senioren berücksichtigt werden. 3. Welche Konzepte hat die Landesregierung zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation unter dem Gesichtspunkt „Wohnen“ – wie zum Beispiel durch Mehrgenerationenhäuser? LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4769 3 Die öffentliche Wohnraumförderung des Landes Nordrhein-Westfalen hält gezielt Förderangebote vor, die ein nachbarschafts- und/oder gemeinschaftsorientiertes Wohnen und Zusammenleben ermöglichen und so Einsamkeit entgegenwirken können. Beispielsweise werden sog. „Gruppenwohnungen“ gefördert, um ein Leben in einer Wohngemeinschaft zu erleichtern – hierbei sind alle gemeinschaftlichen Wohn-bereiche Teil der förderfähigen Wohnung. Daneben sind auch Gemeinschaftsräume in Wohnanlagen förderfähig, um die Haus-gemeinschaft zu stärken und um gemeinsame Aktivitäten der Nach-barschaft zu unterstützen. Im Rahmen von förderfähigen Quartiersmaßnahmen sind aus Mitteln der Wohnraumförderung auch soziale Räume für das Quartier förderfähig, die Treffpunkte für Austausch und Kommunikation für die gesamte Quartiers-Bewohnerschaft sind und soziale Angebote im Wohnbereich ermöglichen. Ein besonderes Feld in der Wohnraumförderung ist die Förderung von Bau- und Wohngruppenprojekten. Dies sind Projekte – vielfach auch Mehrgenerationenwohnprojekte – bei denen Menschen nachbarschafts-orientiert miteinander wohnen und in einigen Fällen auch als Baugemeinschaft zusammengeschlossen ihr eigenes Bauprojekt umsetzen. Hier gibt es neben der Wohnraumförderung eine „Moderations-förderung“ für Wohnprojektgruppen und eine Landesbürgschaft für Baugemeinschaften als neugegründete bewohnergetragene Genossenschaft. 4. Welche Konzepte hat die Landesregierung zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation unter dem Gesichtspunkt „Familie“? Die Landesregierung fördert insgesamt 264 Familienberatungsstellen, von denen 80 als ausgewiesene Ehe- und Lebensberatungsstellen tätig sind. Diese Beratungsstellen beraten zu allen Familien-, Ehe- und allgemeinen Lebensfragen und leisten so einen wichtigen Beitrag zur psychosozialen Unterstützung von Menschen in besonderen Problem- und Lebenslagen. Neben dem vor allem psychologisch und sozial-pädagogisch qualifizierten Personal arbeiten in den zahlreichen kirchlichen Ehe- und Lebensberatungsstellen häufig zusätzlich theologisch seelsorgerisch ausgebildete Fachkräfte. Die Ehe- und Lebensberatungsstellen erreichen mithilfe ihrer interdisziplinären und professionellen Arbeitsweise auch Menschen, die von Einsamkeit und sozialer Isolation betroffen sind und bieten ein umfassendes und wertvolles Unterstützungsangebot. Das Land Nordrhein-Westfalen fördert des Weiteren neben zahlreichen anerkannten Einrichtungen der Weiterbildung nach dem Weiterbildungs-gesetz, die mit ihren vielfältigen Angeboten unterschiedlichen Menschen aller Altersgruppen offen stehen, auch 155 Familienbildungseinrichtungen in freier und kommunaler Trägerschaft. Der Familienbildung in Nordrhein-Westfalen gelingt es mit ihren besonderen Angeboten und Formaten, Familien frühzeitig und niedrigschwellig zu erreichen und trägt so dazu bei, Familien in den sozialen Bezugsraum einbinden und aus einer möglichen Isolation herauszulösen. Im aktuellen Innovationsprojekt #familie wird die steigende Bedeutung digitaler Medien und deren Auswirkungen im Hinblick auf die Elternrolle und das Erziehungsverhalten von Eltern in den Blick genommen. In Kooperation mit den Familienbildungsstätten werden hier Angebote für Familien geschaffen, um sie mit dem Thema Medien und Medien-nutzung vertraut zu machen und einen Raum für Diskussionen und Erfahrungen zu schaffen. Ziel der Angebote des Innovationsprojekts ist es, einen verantwortlichen und reflektierten Umgang mit Medien und Digitalisierung zu lernen. (Soziale) Medien ermöglichen es im besten Falle Verbindungen zueinander herzustellen und lassen Netzwerke entstehen, die Einsamkeit und Isolation effektiv entgegenwirken können. LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4769 4 Auch das landesgeförderte Projekt ElternStart trägt dazu bei, einen offenen Raum des Erfahrungsaustausches für Mütter und Väter mit Kindern im ersten Lebensjahr zu schaffen. Hier können Eltern gemeinsam über Problemlagen, Wünsche und Perspektiven sprechen und ebenfalls tragfähige Netzwerke aufbauen und sich gegenseitig unterstützen. Insgesamt ist es durch Angebote und Strukturen der Familienbildung möglich, Menschen in vielfältigen Lebenslagen, wie beispielsweise Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung, frühzeitig anzusprechen und willkommen zu heißen. Dies ist ein erster wichtiger Schritt, um Menschen in bestehende Hilfesysteme einzuführen und so Einsamkeit und soziale Isolation nachhaltig zu bekämpfen. 5. Welche Konzepte hat die Landesregierung zur Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation unter dem Gesichtspunkt „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ und Armut, etwa Alters-armut und dieses auch unter dem Aspekt der Stärkung des Ehrenamtes? Gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und Isolation, Vereinsamung und Ausgrenzung gerade von älteren, sozialschwächeren und behinderten Menschen entgegenzuwirken, ist vor allem in ihrem jeweiligen Lebensumfeld wichtig. Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen haben im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, aber auch vor dem Hintergrund des sozialhilferechtlichen Auftrags, Leistungsberechtigte der Sozialhilfe zu unterstützen und Teilhabe zu ermöglichen, bereits vielfältige Konzepte und Ansätze in Form von niedrigschwelligen Beratungs-, Unterstützungs- und Freizeitangeboten entwickelt. Über die Kombination von kommunal organisierten Hilfe- und Unterstützungsangeboten mit ehrenamtlichen Hilfen kann sozialer Isolation und Vereinsamung (präventiv) entgegengewirkt werden. Insbesondere das Ehrenamt steht in unserer Gesellschaft für verlässliche soziale Beziehungen, eine positive Verbundenheit der Menschen mit ihrem Gemeinwesen und gelebte Solidarität mit den Schwächeren und Hilfebedürftigen. Die Bedeutung des Ehrenamts wird in Zukunft noch zunehmen. Unser Ziel als Landesregierung ist es, dass das Ehrenamt Wertschätzung erfährt und gute Strategien für die Zukunft aufgebaut werden. Wir wollen bis zum Frühjahr 2020 gemeinsam mit allen relevanten Akteuren bürgerschaftliches Engagement stärken und Zugänge zum Engagement erleichtern. Dazu wird in einem breit und dialogisch angelegten Beteiligungsprozess eine Engagementstrategie für das Land Nordrhein-Westfalen entwickelt. Die Landesregierung steht bezogen auf die Entwicklung von Teilhabe-chancen und - möglichkeiten von Sozialhilfeberechtigten seit vielen Jahren mit den Kommunen als örtlichen Träger der Sozialhilfe im steten Austausch, um die Kommunen bei ihrer Aufgabe zu unterstützen und einen interkommunalen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Im Jahr 2018 wurden in Zusammenarbeit mit den Kommunen und unter Beteiligung der Freien Wohlfahrtpflege die bereits bestehenden Angebote und Strukturen vor Ort auf der Suche nach „Good-Practice“-Beispielen analysiert. Aus dieser Arbeit ist die Handreichung „Sicherung der sozialen Teilhabe armutsgefährdeter Personen in der Sozialhilfe“ entstanden. Diese wurde mittlerweile allen Kommunen und der interessierten Fachöffentlichkeit im Rahmen einer Veranstaltung vorgestellt und steht auf der Internetseite des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales als Download zur Verfügung. Die Landesregierung fördert verschiedene Akteure im Themenbereich Alter und Pflege, die sich für die gesellschaftliche Teilhabe von älteren Menschen einsetzen. Beispielsweise widmete sich die Landesarbeits-gemeinschaft der Seniorenbüros im Jahr 2018 im LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 17. Wahlperiode Drucksache 17/4769 5 Schwerpunkt dem Thema „Isolation im Alter“, das die Seniorenbüros vor Ort bereits seit längerem beschäftigt. Aufbauend auf das Jahresthema sollen sie gezielt unterstützt werden, um eigene Lösungsansätze für die Problematik zu entwickeln. Über den Landesförderplan „Alter und Pflege“ möchte die Landes-regierung auch in Zukunft innovative Ansätze im Hinblick auf Vorbeugung von Isolation oder Teilhabe anstatt Vereinsamung unterstützen. Hierzu zählen unter der Zielsetzung „Teilhabe(-gerechtigkeit) fördern“ insbesondere solche Projekte, die Teilhabe in jeder Lebenssituation und an jedem Lebensort sowie die Vermeidung sozialer Ausgrenzung, vor allem in Folge von Altersarmut oder Vereinsamung, zum Ziel haben.